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Mythostheorien

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Statt der Frage nach dem ‚Wesen‘ des Mythos erscheint die Suche nach den Funktionen, die mythische Erzählungen haben, fruchtbarer. In allen Naturvölkern vereinigt der Mythos verschiedene Grundfunktionen: (1) Kultisch-religiös vermittelt er heilige Wahrheiten und entscheidet über Schuld oder Unschuld; (2) historisch-sozial erzählt er die Geschichte einer Institution, eines Ritus oder einer gesellschaftlichen Entwicklung; (3) politisch sind Mythen der Ausdruck eines primären kollektiven Narzissmus und dienen der Selbstdarstellung einer Gesellschaft. Hinzu kommen (4) die lehrhafte Funktion (exemplum) wie (5) die ästhetische. Alle diese Funktionen sind heute längst auseinandergetreten; der Mythos ist Gegenstand ganz unterschiedlicher Denktraditionen: Eine Gesamtgeschichte des Mythos gibt es nicht, sondern nur diverse Mythen-Begriffe der Einzelwissenschaften, die ihre je eigene Einzelgeschichte haben. So sprechen wir heute von einem anthropologisch-ethnologischen, einem soziologischen, einem philosophischen, einem psychologisch-psychoanalytischen, einem literaturwissenschaftlich-diskurstheoretischen und einem religionswissenschaftlichen Mythosbegriff.

Als wichtige Methoden der Mythendeutung lassen sich drei klassifizieren: (1) Nach der funktionellen Theorie rechtfertigen Mythen soziale Gegebenheiten und legitimieren den jeweiligen Status quo der gesellschaftlichen Verhältnisse. (2) Die symbolische Theorie betrachtet den Mythos als eine Denkweise, die Ähnlichkeiten mit dem Traum habe. Die Gesetze der Zeit, der Natur und der Gesellschaft, die uns geläufig sind, haben hier keine Gültigkeit. Ähnlichkeiten und Parallelen zwischen Mythen aus verschiedenen Gesellschaften legen nahe, dass sie allgemeingültige Denkweisen wiedergeben (C. G. Jung). (3) Die strukturelle Methode zerlegt den Mythos in seine Elemente, in Begebenheiten und Motive, und erörtert, wie diese untereinander in Beziehung stehen, damit man, ähnlich einem Querschnitt durch unterirdische geologische Schichten, die zugrunde liegende Struktur offenlegen kann. Ein in Mythen gefundenes Grundmuster ist die Wechselwirkung von Oppositionen. C. Lévi-Strauss etwa versteht Mythen als Gebilde von Gegensätzen: Natur und Kultur, männlich und weiblich, Ordnung und Chaos. In jedem Fall ist unsere Distanz zum Mythos unüberbrückbar geworden – wo uns Mythen begegnen, sind es zumeist schon „Restmythen“ (Taubes), etwa die biblischen Mythen vom Sündenfall oder die von der Weltschöpfung.

Im Zeitalter der Renaissance und der ersten großen überseeischen Entdeckungen erfuhr das überlieferte christliche Weltbild eine tiefe Krise. Die Frage nach einer allen Religionen gleichermaßen zugrundeliegenden ‚natürlichen Religion‘ wurde akut angesichts des Auffindens völlig unbekannter Völker in Amerika, dann in Japan, China und Hinterindien. Christliche Missionare untersuchten im 16. und 17. Jh. die Kulthandlungen der ‚Wilden‘ mit der größten Gründlichkeit. Der christliche Eurozentrismus unterwarf sich die Mythen der anderen Völker. Die Missionare wandten die Prinzipien der Spätantike an und verglichen indianische Kulte und Heiligtümer mit den antiken: Der südamerikanische Kannibalismus erschien so als direkter Abkömmling der antiken Bacchanalien.

Auch im 18. Jh. erweiterte die Ethnographie den Horizont für Vergleiche ‚primitiver‘ zeitgenössischer Religionsformen. Im frühen 18. Jh. entstanden deshalb die ersten Ansätze zu einer historischen Bewertung der klassischen Religionen. Nachdem man vom 15. bis 17. Jh. die griechischen mit den alttestamentlichen und orientalischen Göttern und Gestalten gleichgesetzt hatte, empfand F. J. Lafitau 1724 die griechischen und indianischen mythologischen Erzählungen als gleichartig. Von Freidenkern wurde die Religion der ‚Wilden‘ der christlichen Kirche als die reine Vernunftreligion entgegengestellt. Für die Aufklärung gehörte die Mythologie zur Finsternis der Abgötterei; die griechische Religion galt als Aberglaube. Erst der Verlust des Glaubens an den wahren geistigen Gott habe zur Anbetung personifizierter Naturgewalten geführt. Erlaubt war die Mythologie höchstens noch als für Künstler, Gelehrte und alle Gebildeten nützliches, lexikalisch inventarisierbares Wissen, wie es sich in dem bis zum Ende des 18. Jh. verbreiteten Gründlichen mythologischen Lexicon von Benjamin Hederich dokumentiert. Beherrschend blieb die historische Kritik am Mythos als vergangener, überholter Erkenntnisform.


Benjamin Hederich: Gründliches mythologisches Lexicon, 1770, Frontispiz

Um 1800 konnte der Mythos weder einen religiösen noch einen moralischen Anspruch erheben; er überlebte aber als poetische Existenz. Diese Auffassung des Mythos als poetisches Verfahren ist ohne G. Vico nicht vorstellbar. Vico betonte 1725 gegen die folgende Aufklärung die Eigenständigkeit des ästhetisch-bildlichen gegenüber dem logisch-diskursiven Prinzip; die Sprache des Mythos galt ihm als Entsprechung zur dichterischen Sprache. Im mythischen Verfahren sah er eine eigenständige Interpretation der Wirklichkeit und entwickelte die Idee eines mythologischen Weltwörterbuchs. Vico sah in der Mythologie einen autonomen und trotz seiner Primitivität legitimen Weg zur Wirklichkeit und zur Transzendenz. Mit seiner Sicht des Mythos als kulturgeschichtlichen Zeugnisses der ersten Völker, als anfänglichen poetischen Bewusstseins der Menschheit sicherte Vico die Lebendigkeit der Mythologie durch die mythenfeindliche Zeit der Aufklärung hindurch und schuf die Grundlage für die Mythenrezeption der deutschen Klassik, vor allem der Romantik.

Von Vico beeinflusst entzog dann Herder den Mythos endgültig der aufklärerischen Kritik, indem er ihn für poetische bildliche Sprache erklärte. Es ging Herder nicht mehr um eine Bestimmung von Mythos und Wahrheit, sondern nur noch um poetische Anwendung, kurz gesagt: um die Ehrenrettung des Mythos als poetisches Werkzeug. Von Herder ausgehend, legte C. G. Heyne die Grundlagen des modernen Mythosbegriffs; F. A. Wolf, F. Schlegel, F. Creuzer, W. v. Humboldt waren seine Hörer. Der Mythos ist bei ihm eine Vorstellungs- und Ausdrucksform der Kindheit des Menschengeschlechtes. Endgültig haben die Mythen ihre allegorische oder religiöse Funktion verloren. Versuche des 19. Jh., wie der Creuzers, im Mythos wieder primär das religiöse Phänomen zu sehen, blieben von vornherein zum Scheitern verurteilt; das gilt noch für R. Wagner. In der Einleitung zu seiner 1795 erschienenen Götterlehre verwirft K. P. Moritz jede allegorische Deutung der griechischen Götterwelt ganz ausdrücklich. Bei den griechischen Mythen handele es sich um ‚schöne Dichtung‘, und diese Dichtungen müssten „als eine Sprache der Phantasie betrachtet werden“. Nur ästhetische, nicht ethische Kriterien würden den mythischen Dichtungen gerecht: Die Götter-Darstellung sei „über alle Begriffe der Moralität erhaben“. Die Mythologie sei also weder bloße Allegorie noch Niederschlag einer alten Geschichte, sondern eine schöne Dichtung. Nur in ihrer ästhetischen Funktion haben die mythologischen Erzählungen Existenzrecht. Hauptzweck der Mythologie ist die Schönheit; die Götterlehre wird zur Ästhetik. Diese ästhetische Deutung der griechischen Götterwelt ist J. W. Goethe und F. Schiller ebenso nahe, wie sie von Einfluss auf Schelling und A. W. Schlegel gewesen ist.

Es ist vor allem die (deutsche und englische) Romantik, durch die der Mythos für die Moderne dann ganz frei verfügbar wird, was sich an W. Blake und Novalis aufzeigen lässt. Die Idee einer ‚neuen Mythologie‘ soll die allegorische Reduktion des Mythischen überwinden und das moderne Gesamtkunstwerk heraufführen. Programmatisch ist das im sog. Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus von 1797 ausgeführt. Gegen die allegorische und euhemeristische Deutung opponiert im 19. Jh. vor allem F. W. J. Schelling: Seine Philosophie der Mythologie von 1842 weist alle aufklärerischen Interpretationen der Mythologie ab, indem sie versucht, die Möglichkeit eines realen Umgangs der Menschen mit personifizierten Prinzipien philosophisch zu erweisen.


Titanic-Filmplakat, 1943

In der gegenwärtigen Diskussion liegt der Wert der philosophischen Mythologie in der Möglichkeit eines erweiterten Erklärungsmotivs des Wesens von Rationalität, letztlich menschlicher Kultur überhaupt. Der Mythos wird zum Zeichen einer Selbstkritik moderner Philosophie und der sie tragenden Rationalitätskonzepte; diese Kritik mündet zum Teil in eine anarchistische Revolte gegen die Vernunft, die mit Herrschaft gleichgesetzt wird (,Postmoderne‘), und in den Versuch, zu Totalität und Unmittelbarkeit zu gelangen. Der Feminismus spitzt das Problem zu auf den Gegensatz zwischen matriarchalischem Mythos und patriarchaler Vernunft. Der Mythos wird hier wie anderswo instrumentalisiert für bestimmte politische Interessen.

Eine weitere wichtige Tendenz der gegenwärtigen Diskussion ist die stärkere Berücksichtigung anthropologischer und paläontologischer Forschungsergebnisse und der Blick auf andere Kulturen. Die Ethnologen verweisen darauf, dass die Bestimmung des Mythos am Spannungsverhältnis von Logos/Mythos aufzubrechen ist, um die tiefgreifende Verschiedenheit zwischen mündlichen und schriftgestützten Kulturen beschreiben zu können. Die Gefahr bei der Konzentration auf die schriftliche Fixierung des Mythos bestehe in der Herauslösung von Mythen aus ihrem sozialen kulturellen Umfeld. Mythen einzelner Gesellschaften können sinnvoll nur kontextuell interpretiert werden.

Der inflationäre Gebrauch des Begriffs ‚Mythos‘ in den Medien und politisch-kulturellen Debatten ist z.T. negativ (im Sinne von ‚Illusion‘), z.T. positiv (im Sinne des Legendären, z.B. der ‚Mythos Titanic‘) besetzt. Zugleich ist ‚Mythos‘ in fast allen Geistes- und Kulturwissenschaften ein immer noch viel diskutierter Begriff.

Gefragt wird u.a. nach den Restbeständen mythischer Potentiale in unserer Gegenwart. Was erfüllt heute, in unserer vorgeblich mythenlosen Gesellschaft, die Funktion, die in traditionalen Gesellschaften die Mythen erfüllt haben? Die Frage nach den Orten und den Weisen, an und in denen vormoderne Sichtweisen in der Moderne überlebt haben, muss zunächst an der Nebenbedeutung des Mythos ansetzen. Erste Hinweise hat hier L. Kolakowski gegeben. Ihm ging es um die Integration der unser Handeln leitenden nicht-vernünftigen Gründe in einem umfassenden Weltentwurf, wie sie sich aufdrängen durch das Problem des Todes und der Liebe. Es geht um die Verwandlung des Zufälligen (Kontingenz) in etwas für unsere Biografie Notwendiges. Das Bedürfnis nach Welt- und Selbstinterpretation verlangt nach Ausdrucksmöglichkeiten, die selbst nicht realer, sondern fiktionaler Natur sind: Einzelne wirkliche Erlebnisse müssen sich in Geschichte verwandeln, d.h. in zahlreiche – vorgestellte, mögliche – Geschichten. Was ist das Wirkliche, und wie erleben wir es? ‚Wirklich‘, d.h. lebensbedeutsam wird dieses Wirkliche nur, wenn es in Geschichten aufgehoben und schließlich in die eine Lebensgeschichte überführt worden ist. Erst ein mythisches Modell, das die erfahrene Fremdheit der Welt in einen universalen Sinnzusammenhang reintegriert, hebt die „Gleichgültigkeit der Welt“ auf.

Auch andere Theoretiker erkennen dem Mythos allein die Fähigkeit sozialen und historischen Sinnverständnisses zu. So ist der Mythos für G. Brand der Ort der Frage nach dem letzten Sinn (die jedem sozialen Verhalten unverrückbar zugrunde liege) und die zeitenthobene Bedingung jedes sozialen Selbstverständnisses. Mythen bestimmen deshalb auch in weitreichender Weise das politische Denken. Unser höchst ernüchtertes, versachlichtes, rationales Leben ist von mythischen Strukturen beherrscht, die nur andere Namen erhielten.

LITERATUR

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