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Mythos und Theologie

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Die Verhältnisbestimmung von (christlichem) Glauben und Mythologie ist ebenso sachlich unausweichlich wie historisch und systematisch schwierig. Die moderne Geschichte dieses Verhältnisses beginnt mit dem historischen Mythos-Begriff der Aufklärung, innerhalb deren der Mythos zu einem methodischen Leitbegriff der Bibelwissenschaft geworden ist. Besonders deutlich wird dies dann bei David Friedrich Strauss in seinem 1835 erschienenen Werk Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, in dem er unter Rückgriff auf Schellings frühen Aufsatz Ueber Mythen, historische Sagen und Philosopheme (1793) den Mythos-Begriff auf Jesu Leben anwendet. Neutestamentliche Mythen seien „geschichtsartige Einkleidungen urchristlicher Ideen“.

Ein Markstein zu Beginn des 20. Jh. wurde das 1917 veröffentlichte Buch des Marburger Religionsphilosophen Rudolf Otto Das Heilige, das Schleiermachers Ablehnung der Rationalisierung und Moralisierung der Religion fortführte, indem es das Heilige als das „ganz Andere“ bestimmte und an diesem Heiligen das „Numinose“ (d.h. die Heiligkeit ohne allen sittlichen und erkenntnishaften Einschlag), das „Tremendum“ (d.h. das, was frommes Schaudern weckt), das „Mysteriöse“ und schließlich das „Fascinosum“ (d.h. das Hinreißende) unterschied. Husserl, der durch Heidegger und dessen Freund Ochsner auf dieses Buch aufmerksam gemacht worden war, glaubte hier, den Ansatz zu einer Phänomenologie der Religion gefunden zu haben. Cassirer wiederum glaubte gegenüber Otto, der die Kategorie des Heiligen einer besonderen Sphäre vorbehalten wollte, alles zusammenfassen zu müssen, indem er dem Heiligen eine Stellung im Bereich des Mythos anwies. Einen Fortsetzer hat Ottos Religionsphänomenologie heute in Hermann Timm gefunden.

Die protestantische Theologie, die Rudolf Ottos Buch willkommen hieß, lobte, dass nach einer Phase der erbaulichen und rationalistischen Reduktion dessen, was Glaube, Religion, Gottesbegriff ist, erstmals wieder der Versuch gemacht worden sei, die absolute Macht Gottes zu formulieren. Wirkungsmächtiger aber als der Einfluss Ottos (der übrigens umstandslos für die völkische Erneuerung vereinnahmt werden konnte) wurden innerhalb der protestantischen Theologie heideggersche Kategorien. Einmal war es Hans Jonas, der den Mythen der Gnosis unter Verwendung von Kategorien aus Sein und Zeit eine Existenz-analytische Bedeutung gegeben hat, zum anderen hat Rudolf Bultmann, ein Todfeind Rudolf Ottos, in seiner existentialen Interpretation Begriffe Heideggers und dessen hermeneutische Methode übernommen. Die hermeneutische Debatte nach 1945 war geprägt von der Diskussion um die „Entmythologisierung“. Der Begriff, den Jonas 1930 geprägt hatte, wurde berühmt 1941 durch Bultmanns Aufsatz Neues Testament und Mythologie. Hier entwickelt Bultmann die These, dass dem Neuen Testament ein mythisches Weltbild zugrunde liegt, das der Darstellung des Heilsgeschehens entspricht. In Weiterführung älterer Ansätze wie der der historischen Bibelkritik (A. Drews, 1910) und ausgehend von der (aufklärerischen) These, dass der Mythos das Vorstadium der Wissenschaft ist und dass die empirische Einsicht in die Funktionsweise der Phänomene in ihrer Weiterentwicklung deshalb die mythische Auffassung ablehnen muss, gelangt er zu der Feststellung, dass die neutestamentlichen Mythen dem modernen Menschen nicht mehr vermittelbar seien. Auch die Gestalt Jesu wurde mythisch verstanden, wobei der Mythos ursprünglich dazu diente, Jesu Gestalt ins Göttliche zu steigern. „Das Weltbild des NT ist ein mythisches. […] Dem mythischen Weltbild entspricht die Darstellung des Heilsgeschehens, das den eigentlichen Inhalt der neutestamentlichen Verkündigung bildet“, die in „mythologischer Sprache“ redet, die „für den Menschen von heute unglaubhaft [ist], weil für ihn das mythologische Weltbild vergangen ist. Die heutige christliche Verkündigung steht also vor der Frage, […] ob die Verkündigung des NT eine Wahrheit hat, die vom mythischen Weltbild unabhängig ist; und es wäre dann die Aufgabe der Theologie, die christliche Verkündigung zu entmythologisieren.“ Diese Mythen müssen vielmehr existential interpretiert werden. Die existentiale Interpretation ist Bultmann schon früh (1920/21) durch die religionsgeschichtliche Schule vermittelt worden, ab 1923 war es der Kontakt mit Heidegger in Marburg. Diese These fand vielfach Widerspruch; gegen Bultmann gerichtete Versuche der Rehabilitation des Mythos finden sich etwa bei E. Buess, F. Vonessen, K. Hübner, vor allem aber bei K. Jaspers und P. Tillich. Jaspers protestiert vor allem wegen Bultmanns negativer Verwendung des Mythos-Begriffs: „Die Herrlichkeit und das Wunder der mythischen Anschauung muss gereinigt, aber nicht abgeschafft werden. Entmythologisierung ist ein fast blasphemisches Wort.“ Für Tillich, der sich intensiv mit Schelling auseinandergesetzt hatte, kann die Religion den Mythos nicht hinter sich lassen. Die Vorstellungsinhalte der Religion (insbes. das Gottes- und Geschichtsbild) sind Mythen.


Rudolf Bultmann (1884–1976)

Aufschlussreich ist die Entwicklung innerhalb der aktuellen Theologie. Vor 70 Jahren hat Bultmann das mythische „Weltbild“ für erledigt erklärt, heute ist von den mythischen Potentialen des Glaubens die Rede. Deutlichstes Indiz eines Rehabilitationsversuches des Mythos von theologischer Seite war der 6. Europäische Theologenkongress im September 1987 in Wien, der unter dem Thema ‚Mythos und Rationalität‘ stand. Wie kontrovers das Verhältnis des Christentums zum Mythos gegenwärtig diskutiert wird, erhellt hier aus den Beiträgen von W. Pannenberg und H. Bürkle. Pannenberg sieht den wesentlichen Unterschied des Mythos zum Christentum darin, dass der Mythos sich an Urzeit binde, während für das AT die Geschichts- und Zukunftsidee bestimmend werde, so dass das Christentum nicht eigentlich mythisch sei; Bürkle dagegen vertritt die These, das christlich Verkündete sei auch mythisch bestimmt.

Im katholischen Raum ist es vor allem Eugen Drewermann, der mit seinem – kritisch vor allem gegen Bultmanns Entmythologisierung-These gerichteten – neuen Ansatz, die biblische Überlieferung tiefenpsychologisch zu erschließen (und in diesem Zusammenhang auch hinter den biblischen Geschichten die Struktur archetypisch-mythischer Symbole zu entdecken), Aufsehen erregte, in der Wissenschaft aber vornehmlich Skepsis hervorgerufen hat. Dass die Rede vom Mythos vielleicht eine Möglichkeit darstellt, die Rede von Religion zu hinter- und zu umgehen, wurde auf dem Kongress der ‚Deutschen Vereinigung für Religionsgeschichte‘ 1984 in Berlin deutlich, wo nicht die „neue Religiosität“, sondern der „Untergang von Religionen“ zur Diskussion stand. Im Gegensatz zu dem häufig untersuchten Problem, wie neue Religionen entstehen, sind die Bedingungen des Untergangs von Religionen bisher in der Tat kaum erforscht. Neben der Beschäftigung mit den antiken Religionen des Mittelmeerraumes und Vorderasiens (deren Untergang zum Teil im Zusammenhang mit dem Sieg des Christentums gesehen werden muss) bildete die sogenannte Säkularisierungsproblematik einen Schwerpunkt des Kongresses. Seit der Aufklärung werden Religion und Wissenschaft als konkurrierende Mächte angesehen; in Wahrheit jedoch – und das zeigen alle neueren Studien zur Vernunftreligion der deutschen Aufklärung – spielen Philosophie und Naturwissenschaft in der säkularisierten neuzeitlichen Gesellschaft eher die Rolle von Testamentsvollstreckern als von Liquidatoren von Religion. Damit entsteht auch die Frage, wie ein Glaube aussehen soll, der der Aufklärung gewachsen ist, und welche Mechanismen die Wissenschaft zur Abwehr des ‚wilden Denkens‘ entwickelt hat. Ursprünglich erfand der Mensch seine Mythen als Mittel in der Auseinandersetzung mit der ihm unwirtlichen Natur; später musste er die Mythen verdrängen, um die Natur endgültig seiner Subjektivität unterwerfen zu können.

LITERATUR

R. Bultmann: Neues Testament und Mythologie. 1941

H. W. Bartsch: Kerygma und Mythos. Hamburg 1951

C. Hartlich, W. Sachs: Der Ursprung des Mythosbegriffs in der modernen Bibelwissenschaft. Tübingen 1952

K. Jaspers, R. Bultmann: Die Frage der Entmythologisierung. München 1954

R. Bultmann: Geschichte und Eschatologie. Tübingen 1958

E. Drewermann: Tiefenpsychologie und Exegese. 2 Bde. Freiburg 1984/1987

H. H. Schmid (Hg): Mythos und Rationalität. Gütersloh 1988

O. Bayer (Hg.): Mythos und Religion. Stuttgart 1990

E. Rudolph (Hg.): Mythos zwischen Philosophie und Theologie. Darmstadt 1994

CJ

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