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Mythos und Mythologie

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Mythen sind historisch nicht überprüfbare oder durch ihren fantastischen Charakter wunderbare Erzählungen, die dennoch als Erklärungen, Deutungen oder Sinnstiftungen funktionieren. Der Begriff hat damit eine negative und eine positive Seite: Negativ ist er, wenn er als Hinweis auf die Unwahrheit des Erzählten verstanden wird. Dann heben sich Mythen als das bloß Erfundene von der Geschichtsschreibung, von Tatsachenberichten oder sachlich zutreffenden Erklärungen, Deutungen und Sinngebungen ab. Hier wirkt der Mythosbegriff als Kritik: Er brandmarkt diejenigen Erzählungen, die nicht wahr sind. Wer in einer sachbezogenen Debatte Berichte, Darstellungen und Erklärungen als Mythen bezeichnet, bezichtigt sie der Haltlosigkeit oder gar der Lüge. Positiv ist der Begriff dagegen dort, wo er als Hinweis auf die Wirkung einer Erzählung verstanden wird. Dann zeichnen sich Mythen als solche Geschichten aus, die eine gemeinschaftliche Überlieferung, Verbreitung und Resonanz gefunden haben, so dass sie trotz ihrer Unbeweisbarkeit als Deutungen, Erklärungen und Sinnstiftungen angenommen werden. Hier wirkt der Mythosbegriff als Anerkennung: Er hebt diejenigen Erzählungen hervor, die Gemeingut geworden sind und deshalb nicht einfach als Unwahrheit erledigt oder als beliebige Produkte einer individuellen Erzählfantasie abgetan werden können. Wer die Erzählungen vom Germanenführer Hermann dem Cherusker, der ein einiges Germanenvolk gegen die Römer hat triumphieren lassen, oder die amerikanische Selbstdeutung als ‚God’s own country‘ als Mythos bezeichnet, erkennt mit diesem Begriff an, welche reale Macht unbeweisbare oder sogar nachweislich falsche Erzählungen gewinnen können. Gemäß diesen beiden Verständnissen gibt es eine negative und eine positive Perspektive auf den Mythos, je nachdem, ob man mehr die Unwahrheit kritisieren oder die Wirkungsmacht unbeweisbarer Erzählungen anerkennen will. Freilich kann sich auch beides verbinden, indem man kritisch auf allgemein anerkannte Erzählungen blickt und das als bloßes Produkt der Erzählfantasie kennzeichnet, was andere für Wahrheit halten. Religionskritik kann so aufreten und die religiösen Überlieferungen im kritischen Sinne als Mythen brandmarken. Oder auch wissenschaftliche Korrekturen überlieferter falscher Vorstellungen: Wer Blitz und Donner meteorologisch erklärt, entlarvt die Vorstellung des blitzeschleudernden Donnergottes als bloße Erzählfantasie oder, um ein aktuelleres Beispiel zu nennen, wer die vielen personellen Kontinuitäten zwischen Nationalsozialismus und Nachkriegszeit aufweisen kann, erkennt in der Rede von der ‚Stunde Null‘ einen Mythos, der zur Selbstentlastung der Nachkriegsgesellschaft diente. Mythen als solche zu erkennen ist ein Prozess der Aufklärung.

Das gilt auch in epochaler Hinsicht. Denn unser heutiger Mythosbegriff ist ein Produkt der Aufklärung. Das altgriechische Wort ‚mythos‘ (‚Rede‘, ‚Erzählung‘) ist, wenn es nicht neutral nur den Handlungsverlauf einer Erzählung meint, einseitig negativ konnotiert und hebt die Dichtererzählungen von der Geschichtsschreibung, den Tatsachendarstellungen und der begrifflichen Argumentation ab. ‚Mythos‘ steht hier im Kontrast zu ‚logos‘, der im Gegensatz zu den unbeweisbaren Dichtererzählungen die überprüfbare und beweisbare Rede meint. Es waren erst die Philosophen und Altertumsforscher des 18. Jh., die in den überlieferten Dichtererzählungen eine eigene Form der Weltanschauung und Weltdeutung erkannten und Mythos nicht nur negativ als bloße Erfindung, sondern positiv als eine Form der erzählerischen Welterklärung verstanden. Als Erklärungen, die nicht logisch-wissenschaftlich verfahren, sondern durch Personifizierungen und andere bildhafte Vorstellungen das beschreiben und ausmalen, was anfangs unerklärlich scheint. So wird von Blitz und Donner auf den mächtigen Herrschergott geschlossen, der damit seine Kraft zeigt. Im Übergang von Aufklärung und Romantik um 1800 wertete man dies nicht nur als eine kindliche, durch Erkenntnisfortschritt zu überwindende, sondern als eine typisch menschliche, auch in der modernen, aufgeklärten Gesellschaft weiterhin produktive Form der Welterklärung. Mythen bewahren etwas, was sich in der rationalen, begrifflichen Weltdeutung verliert: den emotionalen, sinnlichen und affektiven Bezug des Menschen zu der Welt, in der er lebt. Das ist der Grund, warum Mythen bis heute ein produktives Phänomen sind: Sie sind der immer wieder durch Weitererzählung akzeptierte und erfolgreiche Versuch, sich durch die Erzählfantasie ein Verständnis der Zusammenhänge zu schaffen, die durch begriffliche Abstraktion oder Berechenbarkeit nicht menschlich befriedigend erfasst werden können. Das trifft in besonderer Weise natürlich für diejenigen Bereiche zu, zu denen es keine Erfahrung gibt: wie zum Beispiel für die Frage, was nach dem individuellen Tod passiert. Aber auch für das Bedürfnis nach Sinngebung, wie und wozu es zu etwas gekommen ist und wohin es führen soll. Sich durch Erzählfantasie in der Welt zurechtzufinden ist eine menschliche Eigenschaft, die nicht ausgestorben ist. Deshalb ist es falsch, die Geschichte der Mythen zweizuteilen in eine Zeit, in der die Menschen noch an sie geglaubt, und eine Zeit, in der sie sich durch Aufklärung von diesem Glauben gelöst hätten. Es gibt nicht die beiden Epochen in und nach den Mythen. Die Rede vom Mythos beginnt in der antiken griechischen Philosophie als Kritik an den Dichtererzählungen und deren Wirkung und sie hat sich bis heute als eine Doppelperspektive von Kritik und Anerkennung etabliert. Mythen als Mythen zu verstehen heißt nicht, sie zu beseitigen, sondern ihre spezifische Funktion und Wirksamkeit zu erkennen.

Heute, in der Zeit einer arbeitsteiligen, in Fachdisziplinen ausdifferenzierten Wissenschaft, ist diese Erkenntnisarbeit auf viele Fächer verteilt. Die anschließenden Kapitel geben eine Übersicht über die wichtigsten, die daran beteiligt sind, und sie skizzieren, wie man den Mythos in philosophischer, religiöser, ethnologischer, psychologischer, politischer und künstlerischer Hinsicht verstehen kann. Ein umfassendes Mythosverständnis kann sich heute nur noch interdisziplinär aus der Ergänzung und dem Dialog der verschiedenen Disziplinen ergeben. Eine wissenschaftliche ‚Mythologie‘ als ‚Lehre von dem Mythen‘ gibt es nicht. Denn dieser Begriff steht nicht in Analogie zu Biologie oder Ethnologie für eine wissenschaftliche Disziplin, sondern für die Gesamtheit der Mythen eines jeweiligen Kulturkreises. Der Ausdruck Mythologie markiert die Bemühung um Übersicht. So spricht man von der griechischen, der römischen, der germanischen und auch vielen außereuropäischen Mythologien, wobei man sich allerdings bewusst machen muss, dass der Grundbegriff Mythos am altgriechischen Exempel, und hier insbesondere an den homerischen Epen und an Hesiod gebildet ist und man sich kritisch fragen muss, inwiefern er auf außereuropäische Kulturen übertragen werden kann. Von einer Lehre oder einem Wissen (-‚logie‘) kann insofern gesprochen werden, als es um eine geordnete Zusammenstellung und Auswertung der überlieferten Erzählungen und Darstellungen geht. Darunter darf man sich jedoch kein einheitliches Gesamtbild vorstellen, in dem jeder Figur eine bestimmte, durch alle Überlieferungen konstante Eigenschaft und Rolle zuzuweisen wäre. Die Überlieferungen sind vielfältig und widersprüchlich, durchweg von einer lebendigen Erzähl- und Darstellungsfantasie bestimmt und niemals von der Sorge, ein stimmiges Gesamtsystem an Götterzuständigkeiten und Heldenschicksalen zu errichten. Mythologie ist kein Glaubenssystem, sondern die Sammlung und Zusammenstellung von Erzähl- und Darstellungstraditionen. Deshalb ist sie auch keine Angelegenheit einer längst vergangenen Vorzeit. Sie stammt nur daher und hat sich bis heute erhalten. An den Mythologien wurde über Jahrhunderte und wird bis heute weiter gearbeitet. Sie bleiben produktiv, in den Literaturen und Künsten, im Film, aber auch in politischen Debatten, in den Wissenschaften und mitunter auch der Technik. Der zweite Teil dieses Buches gibt eine Sammlung und Übersicht auf aktuellem Stand. SM


Zeus, Bronze-Plastik, griech., 5. Jh. v. Chr., Berlin, Altes Museum

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