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Mythos und Psychologie

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Der Zusammenhang von Mythologie und Psychologie ist in zwei Richtungen zu sehen, indem beide wechselweise zur Erklärung der jeweils anderen herangezogen werden. Grundlegend ist dabei die Annahme, dass die Mythen eine Art Spiegel der menschlichen Psyche sind, dass – anders gesagt – die Menschen als Mythenerfinder unwillkürlich ihr eigenes Innere, ihre Empfindungen, Gefühle, Einstellungen, Wünsche, Hoffnungen u.a. offenbaren. Auf dieser Grundlage lassen sich einerseits die Eigenschaften des Mythos aus der menschlichen Psyche ableiten und andererseits die Eigenschaften der menschlichen Psyche aus den Mythen rekonstruieren. Produzent und Produkt, Mensch und Mythos sollen sich so wechselseitig erklären.

Der psychologische Ansatz macht den Mythos zur rein menschlichen Angelegenheit, auch in dem, was er von Göttern erzählt. Er negiert die Vorstellung, dass Göttergeschichten eine transzendente Dimension hätten. Denn er sieht hier keine göttlichen, sondern nur menschliche Offenbarungen. Was an Göttlichem, Wunderbarem, Übernatürlichem darin steckt, erklärt sich aus der Realität der menschlichen Gefühle. Es ist kein Zeugnis einer außer- oder übermenschlichen Macht, sondern die Projektion der menschlichen Empfindungen und Affekte. Diese Position, die das Potenzial zu einer radikalen Religions- und Glaubenskritik hat, findet sich nicht erst im Prozess der neuzeitlichen Aufklärung. Sie begegnet schon in den ältesten philosophischen Überlieferungen, bei den Vorsokratikern im 6. Jh. v. Chr. Xenophanes werden Äußerungen zugeschrieben, die die Projektionsdiagnose der mythischen Götterwelt aphoristisch pointieren: „Die Äthiopier sagen, ihre Götter seien stumpfnasig und schwarz, und die Thraker behaupten, die ihren hätten hellblaue Augen und rote Haare. Aber wenn Rinder und Pferde […] Hände hätten oder mit ihren Händen malen […] könnten, wie das die Menschen tun, dann würden die Pferde die Göttergestalten den Pferden und die Rinder sie den Rindern ähnlich malen“ (Kirk/Raven/Schofield, Die vorsokratischen Philosophen, Frgm. Nr. 168f.). Psychologisch eindringlicher wird diese These, indem die Furcht als der die Mythenbildung auslösende Affekt identifiziert wird: Aus Furcht vor den Naturgewalten und den eigenen schicksalhaften Gefährdungen haben die Menschen sich für die verschiedenen Gefahrensbereiche zuständige Götter ausgedacht, um durch deren Anrufung und Opferdienste ihre eigenen Ängste beherrschbar zu machen. Bei römischen Autoren des 1. Jh. n. Chr. ist diese psychologische Mythenerklärung wie ein Gemeinplatz verbreitet. Als Sentenz findet sie sich bei den Dichtern Statius (Thebais, III,661) und Petronius (Frgm. 27): „Primus in orbe deos fecit timor“ (Zuerst schuf die Furcht die Götter hier auf Erden). In der neuzeitlichen Aufklärung wird dieses Argument zu einer umfassenden kritischen Religionsphilosophie ausgearbeitet. Eine Abhandlung von dem schottischen Philosophen David Hume trägt die Provokation, die darin für die Gläubigen liegt, schon im Titel: A Natural History of Religion (1757). Wer von der Naturgeschichte der Religion spricht, negiert deren transzendenten Anspruch und leitet sie stattdessen ganz aus der Natur, und das heißt auch für Hume: aus der menschlichen Psyche ab. Die antiken Mythen gelten ihm in ihrem Polytheismus als die ursprüngliche Religionsform, aus der sich der Monotheismus erst später entwickelt habe. Die heidnischen Mythen und das Christentum sind in dieser Perspektive keine Gegensätze, sondern Etappen einer kontinuierlichen Entwicklung. Als deren Auslöser sieht auch Hume die Furcht der unwissenden Menschen, die sich zur eigenen Affektbewältigung menschengestaltige göttliche Mächte ausdenken, in deren Händen sie sich sehen. Im Spannungsfeld von Furcht und Hoffnung werde dann die menschliche Einbildungkraft rege, diese Mächte als handelnde Figuren auszumalen.

Zur etwa gleichen Zeit wie Hume arbeitet der italienische Philosoph Giovanni Battista Vico (Principi di una scienza nuova, Grundzüge einer neuen Wissenschaft, 1725, überarbeitet 1730 und 1744) die psychologische Mythendeutung aus. Anders als Hume geht es ihm nicht um den Zusammenhang von Mythos und Religion, sondern von Mythos, Sprache, Logik und Erkenntnis. Vico erklärt die dichterisch-bildhafte Sprache der Mythen (die homerischen Epen dienen ihm als hauptsächlicher Beleg) aus dem niedrigen Kenntnisstand und der damit einhergehenden gesteigerten Emotionalität und Einbildungkraft der alten Griechen. Ganz gegen die klassizistische Griechenverehrung wertet er die alten Dichtungen nicht als hohe Kunst, sondern als Zeugnisse eines primitiven Urvolks, das sich die Welt nicht anders zu erklären wusste als durch anthropomorphe Göttergeschichten. Die Mythen seien mit ihren konkreten Gestalten und Handlungen im Bewusstsein der Griechen keine bildhaften, sondern die eigentlichen Erklärungen ihrer Wirklichkeit: Erklärungen, die ihrem kindlichen, von Gefühlen und Fantasie bestimmten Denken entsprachen. Vico setzt sich damit von einer jahrhundertelangen allegorischen Mytheninterpretation ab, mit der die christliche und humanistische Tradition des Mittelalters und der frühen Neuzeit die antiken Mythen als bildhaft verschleierte Wahrheiten auszulegen und damit im neuen Glaubenskontext und im Fortschritt des naturwissenschaftlichen Wissens zu retten versuchten. Indem er die mythenbildenden Griechen als primitives Urvolk einschätzt, arbeitet er der ethnologischen Mythenforschung des 19. und 20. Jh. vor, die – wie Vico – die Mythen der Naturvölker nicht als allegorische Kunst versteht, sondern als die eigentliche, im wörtlichen Sinne für wahr gehaltene Welterklärung, als, wie der Ethnologe Bronislaw Malinowski sagt, „gelebte Wirklichkeit“ („a reality lived“) eines mythischen Denkens und Empfindens (Myth in Primitive Psychology, 1926). Anders als die moderne Ethnologie (Malinowski unternahm Feldstudien bei Naturvölkern in Neuguinea und auf den Trobriandinseln im Westpazifik) konnte Vico sich allerdings nicht auf empirische Forschungen zur gelebten Wirklichkeit des Mythos stützen. Durch das Xenophanes-Zitat wissen wir, dass die Griechen des 6. Jh. v. Chr. nicht mehr in das Schema eines primitiven Naturvolks passen. Auch von den ältesten antiken Texten auf eine primitive Psychologie zu schließen, die sich in ihnen spiegeln soll, bleibt also eine Spekulation auf einen noch viel früheren Zustand, der diesen Texten vorausliegt. Zwischen der altgriechischen Literatur, in der der Mythosbegriff fundiert ist, und der empirisch zu erforschenden ‚gelebten Mythologie‘ eines Naturvolks besteht eine Differenz. Der Mythosbegriff überbrückt sie, genauer gesagt: hat sie forschungsgeschichtlich dadurch überbrückt, dass man die aus den altgriechischen Texten spekulativ rekonstruierte, den Mythen zugrundeliegende Denk- und Empfindungsweise auf jüngere, noch beobachtbare Naturvölker übertragen hat. Das psychologische Mythosverständnis wirkt so als ein Schema, um eine archaische Stufe der ‚inneren‘, bewusstseinsgeschichtlich-intellektuellen Menschheitsentwicklung zu beschreiben.

In der durch Sigmund Freud begründeten und von Carl Gustav Jung weitergeführten Tiefenpsychologie wird das Mythische dagegen nicht zeitlich als das Archaische, sondern strukturell als das Unbewusste oder Unterbewusste gedacht. Was die Ethnologen als Psychologie der Naturvölker beschreiben, wird hier als Tiefenstruktur in der Psyche eines jeden modernen Menschen verstanden. Unter dieser Voraussetzung können die überlieferten mythischen Erzählungen genutzt werden, um diese tiefste, dem Bewusstsein verborgene Schicht zu erschließen. Für Freud (Die Traumdeutung, 1900) sind die Mythen damit funktional den Träumen vergleichbar: Er versteht sie als Modellierungen der Problemsituationen, die für die psychischen Erkrankungen seiner Patienten verantwortlich sind. Und so nutzt er sie als Instrumente der psychoanalytischen Diagnose. Das bekannteste Beispiel dafür ist der von Freud so genannte ‚Ödipus-Komplex‘ (▸ Ödipus): Diese Erzählung vom Vatermörder und Muttergatten dient ihm als Modell für die Spannungs- und Konfliktlage, in die das sexuell heranreifende Kind gerate: Rivalität mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil und Begehren des jeweils anderen. Die zweite in diesem Zusammenhang genutzte Mythenfigur ist Narziss, an dessen Anschaulichkeit sich der psychoanalytische Begriff des Narzissmus gebildet hat (▸ Narziss). Freud selbst jedoch unterscheidet nicht kategorial zwischen Mythen und anderen literarischen Erzählungen oder Dramen. Auch Shakespeares Stücke oder moderne Erzählungen werden von ihm in ähnlicher Weise zur diagnostischen Modellierung herangezogen. Anders ist es dagegen bei seinem Mitarbeiter Otto Rank, der gerade mit Hilfe der Mythen als kollektiven Erzähltraditionen im wechselseitigen Vergleich von Traum und Mythos einen Zusammenhang von Völker- und Individualpsychologie suchte (Traum und Mythos, 1914). Carl Gustav Jung entwickelte dies zu seiner Theorie des ‚kollektiven Unbewussten‘ weiter, worunter er archetypische Prägungen versteht, wie die menschliche Seele die Welt erlebt. Wie Malinowski sieht Jung die Mythen als „gelebte Wirklichkeit“ der primitiven Völker. Anders als der Ethnologe ist er aber nicht an diesen Völkern selbst interessiert, sondern an den langfristigen, noch aktuell wirksamen psychischen Strukturen, die die primitive Kulturstufe in den modernen Menschen hinterlassen habe. Eben die nennt er ‚Archetypen‘ oder das ‚kollektive Unbewusste‘, das sich aus den tradierten Mythen erschließen lasse. Zusammen mit dem Philologen und Religionswissenschaftler Karl Kerényi hat er dies exemplarisch am Motiv des göttlichen Kindes zu zeigen versucht (Das göttliche Kind. Eine Einführung in das Wesen der Mythologie, 1941).


Caravaggio: Narziss, 1599/1600, Rom, Palazzo Barberini

Im Kontext des Nationalsozialismus hat sich die völkerpsychologische Mythendeutung mit der rassistischen Ideologie verbunden. Die germanische Mythologie wurde herangezogen, um den Typus des ‚nordischen Menschen‘ gegen die jüdisch-christliche Tradition zu stellen (▸ Odin/Wotan, ▸ Nibelungenlied). Als zentrale Kampfschrift wirkte Alfred Rosenbergs Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit (1930), das bis zum Kriegsende über 200 Auflagen erlebte und Rosenberg zum Parteiphilosophen der NSDAP machte. Im Nürnberger Prozess wurde er zum Tode verurteilt. Die völkerpsychologische Mythendeutung ist seitdem nachhaltig desavouiert. Der Romanzyklus Joseph und seine Brüder (1933–1943) von Thomas Mann versteht sich als ein Kontrastprogramm zur nationalsozialistischen Mythenverwendung: zum einen dadurch, dass er sich stofflich der jüdischen Tradition zuwendet, zum anderen durch seine gegenläufige Verbindung von Mythos und Psychologie: Anstatt in den alten Geschichten die tiefere Wahrheit der modernen Menschen zu suchen, will Mann in der aufgeklärten, am Roman des 19. Jh. geschulten Psychologie die menschliche Wahrheit der alten Geschichten erkennen. Dazu erzählt er die alttestamentarische Josephs-Geschichte mit den Mitteln des modernen Romans neu.

Die heutige wissenschaftliche Psychologie hat sich weit von der spekulativen Tiefenpsychologie und deren Mytheninteresse entfernt und sich der Empirie und der Hirnforschung zugewandt. Die moderne Sozialpsychologie untersucht Mythen insoweit, wie sie die politische Psychologie bestimmter Gemeinschaften prägen (▸ Mythos und Politik). SM

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