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Kapitel drei
ОглавлениеKaum einen Meter Richtung Boden geschwommen, umgab mich das tiefblaue Nass bereits wie ein kaltes, schweres Tuch. Alles war still, nur das Pochen meines Herzens drang wie ein dumpfer Bass in meine Ohren.
Der Teich war an den Ufern stark bewachsen und schwemmte dadurch permanent Erde nach. Blätter, Blüten und Zweige fielen ins Wasser und auf den Grund des Teichs. Die sumpfige Umgebung tat ihr Übriges. Man schwamm durch einen regelrechten Sediment-Orkan. Jede Bewegung wirbelte Schlamm und Algenteilchen auf. Für Menschen ein Graus, für mich das Paradies.
Es wimmelte hier nur so von leckeren Happen, die einem ausgewachsenen Frosch wie mir gerade recht kamen.
Es wimmelte aber eben auch von Kreaturen, denen ich gerade recht kam.
Ich muss zugeben, ein höchstens passabler Taucher zu sein, und ich schwimme nur mittelmäßig schnell für mein Alter. Ich halte es lieber mit dem Klettern und Springen. Deshalb nutze ich den Teich auch eher wie ihr Menschen die Badewanne: husch rein, einmal umherplanschen, dann schnell wieder raus und irgendwas Kuschliges in der Nähe gesucht.
Es gab hier schätzungsweise an die hundert für mich potenziell gefährlichen Arten, die mich aus den unterschiedlichsten Gründen noch nicht gefressen hatten.
Einem aber war ich mit Sicherheit am häufigsten entkommen: Hacki, einem kapitalen Rotbarsch mit gesegnetem Appetit. Er war nicht nur äußerst gefräßig, sondern auch noch so dumm wie gefährlich. Zudem hatte er einen Schwarm ähnlich veranlagter Barsche um sich geschart, die, wenn auch nicht ansatzweise so groß, beinahe ebenso hungrig waren.
Auch dem alten Schlurch, einem riesigen Hecht mit abgerissenem Drillingshaken im Maul, und etlichen anderen Raubfischen waren wir Frösche als Ei, Kaulquappe und Jungfrosch ein willkommener Snack. Und ein ausgewachsener Laubfrosch machte da ebenfalls keine Ausnahme.
Schlurch war ein besonderes Prachtexemplar seiner Gattung und lebte mindestens so lange in den Feuchtwiesen wie Alfred. Bisher hatte er sich für mich zum Glück nicht interessiert, aber ich war einmal Zeuge geworden, wie sein riesiger Rücken die Oberfläche des Sees geteilt hatte und kurz darauf eine harmlose Stockente verschwunden war.
Das Leben am Teich war schon gefährlich genug. Im Teich war es tödlich. Das alles wusste ich natürlich. Und dennoch war ich gesprungen. Aus Neugier.
Dummer blauer Frosch!
Noch ein Schwimmstoß, ein paar hastige Blicke in alle Richtungen und weiter.
Der Fleck kam näher und wurde größer. Er lag ziemlich genau in der Mitte des Teichs. Nicht weit entfernt von dem kleinen Holzsteg, der sich seit letztem Jahr auf einmal aus dem bedrohlich nahe gebauten Menschenhaus zu unserem Refugium schlängelte.
Ich erlebte die beginnenden Bauarbeiten, als ich gerade meinen Schwanz verloren hatte und zum ersten Mal an Land gekrabbelt war. Ein Monster aus Beton, Stahl und Glas, das innerhalb meines ersten Sommers in die Landschaft geprügelt wurde. Mitten hinein in die Feuchtwiesen, auf der anderen Seite des Teichs.
Mittlerweile war ich näher an das rätselhafte Etwas herangeschwommen und konnte Umrisse ausmachen. Das waren keine Wasserpflanzen oder lose Blätter, die im Teich trieben. Heller Stoff waberte im trüben Dunst des Wassers und plötzlich erkannte ich eine Hand. Genau genommen war diese Hand ungefähr doppelt so groß wie ich und befand sich am vorderen Ende eines Menschenarms.
Der hier nahm kein Bad oder tauchte – der war tot, soweit ich es beurteilen konnte.
Mit den Vitalfunktionen der Menschen kenne ich mich nicht so gut aus, ich weiß nur, dass ihr weder besonders gut schwimmen noch sonderlich lange tauchen könnt. Zumindest nicht ohne Hilfsmittel. Bei diesem Exemplar konnte ich nichts Verdächtiges erkennen, aber ein Blick in sein Gesicht schloss die letzten Zweifel an seinem Ableben aus.
Unwillkürlich zuckte ich zurück. Ich kannte ihn!
Ich glaube, ihr nennt solche wie ihn Umweltschützer. Aber diesen Begriff habe ich nie verstanden. Wenn es Umweltschützer gibt, dann müsste es ja auch Menschen geben, die keine sind. Und wer sollte so dumm sein, seinen eigenen Lebensraum kaputt zu machen?
Ich kannte diesen Kerl jedenfalls. Vom Sehen zumindest.
Er war vor und während der Bauarbeiten an dem Menschenhaus in den Feuchtwiesen unterwegs gewesen. Hatte winzige Portionen Teichwassers und Erde in Röhrchen gesammelt, sich mit anderen Menschen lauthals gestritten und sich mit wieder anderen seiner Gattung an Bäume gekettet.
Und er hatte Fotos gemacht.
Unter anderem eines von mir. Mit Mutter damals noch.
Wir hatten gemeinsam in den allerletzten Sonnenstrahlen des Herbstes gesessen und gedöst. Mutter auf einem Seerosenblatt, das exakt ihrem Grünton entsprach. Es hatte sogar eine etwas breitere braune Stelle am Rand, in die sie sich mit ihrem ebenfalls braunen Seitenstreifen fast bis zu Unsichtbarkeit einfügte.
Ich saß in ihrer Nähe auf einem der wenigen größeren Steine am Ufer des Teichs. Es war ein dunkler grau-blauer Stein, der am Rand von leichten Wellen umspült wurde. Genau an diesen Rand platzierte ich mich und genoss die Sonne und das Wasser zugleich. Durch das Farbspiel wirkte ich eher wie eine etwas seltsame Wasserspiegelung, ein nasser Fleck, und nicht wie ein Lebewesen.
Keine Ahnung, wie lange wir so saßen, sicherlich den halben Nachmittag. Mutter hatte mich darauf vorbereitet, dass bald die Pause beginnen würde. Mein erster Winter stand vor der Tür.
Ich hatte viel gelernt in den letzten Wochen und Monaten. Fast alles, was ich benötigte, um allein über die Runden zu kommen. Wie schnell ich das brauchen würde, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen.
Wir genossen also die nachmittägliche Ruhe und das nachmittägliche Jahr. Selbst meine Mutter war der festen Überzeugung, dass keine Fressfeinde in der Nähe sein konnten, und rief mich mit einem winzigen Laut zu sich.
Keine zwei Sekunden später saß ich bei ihr auf dem Blatt, wie ein kleines blau leuchtendes Blinklicht. Da klickte es mehrmals, etwa sechs Meter entfernt, und dieser Umweltschützer fiel aus einer der windschiefen Eichen, die einen natürlichen Schutzwall zu der großen Straße dahinter bildeten.
Der Kerl hatte sich offenbar stundenlang dort verkrochen und wir hatten ihn nicht bemerkt. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Es musste auch daran gelegen haben, dass er sich leiser bewegte und ein anderes Fell als die meisten Menschen trug, die ich bis zum damaligen Zeitpunkt gesehen hatte. Es war nicht grell und bunt und er war nicht laut und auffällig, sondern fügte sich auf erstaunlich gute Art und Weise in unsere Umgebung ein.
Schon beim zweiten Klick-Geräusch hechteten meine Mutter und ich vor Schreck in den Teich und ich war genauso schnell auf der anderen Seite wieder heraus. Ich hüpfte und hüpfte wie in einem Flucht-Rausch und hörte Mutter nicht, wie sie immer eindringlicher rief: »Bleib stehen, Hope! BLEIB STEHEN!«
Was ich nicht tat. Weil ich sie nicht hörte. Oder einfach, weil ich komplett kopflos war vor Panik.
Sie hatte mir Hunderte Male eingebläut, dass kopflose Panik für uns Frösche dämlich war. Ein kurzer Sprung ins nächste Versteck. Dort bewegungslos verharren. Die Impulse unserer Jäger durchbrach man am besten, wenn man sie nicht reizte und einfach verschwand, mit seiner Umgebung verschmolz.
Im Grunde wusste ich das, aber der Kerl im Baum – so nah und dennoch unsichtbar – hatte mich Jungfrosch vollständig aus dem Konzept gebracht.
Als ich schließlich doch stehen blieb, mit zitternden Beinen und pumpend, war Mutter einige Meter hinter mir zurückgeblieben. Ich hatte nicht bemerkt, wohin ich gesprungen war, und sah mich nun um.
Oh nein!
Ich war genau auf der Baustelle gelandet, im Reich der Menschen. Und in diesem Moment steuerte ein gelbes Paar Gummistiefel direkt auf meine Mutter und mich zu.