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Unsere Pflegekinder
ОглавлениеMeine Eltern hatten zwei Pflegekinder aufgenommen. Mein Vater war im Vormundschaftsrat des Landkreises und trug mit Verantwortung dafür, welche Kinder in welche Familien adoptiert wurden. Meine Mutter arbeitete ehrenamtlich fürs Jugendamt. Sie betreute schwierige Familien. Da konnte es schon mal vorkommen, dass fremde Kinder bei uns zu Hause ihre Hausaufgaben machten. Einmal im Jahr fuhren meine Eltern auf eine Studienreise mit dem Jugendamt. Dabei besuchten sie jedes Mal ein Kinderheim. Als ich in der neunten Klasse war, durfte ich mit auf die Reise. Wir besuchten ein Vorschulkinderheim. Kam doch ein kleiner Junge zu meiner Mutter gelaufen und sagte: „Gell, du bist meine Mutti. Holst du mich heute ab?“ Ja, die Sehnsucht nach einer Mama und danach, endlich aus diesem Kinderheim abgeholt zu werden, war wohl der Traum aller Kinder dort. Denn sie waren entweder den Eltern weggenommen worden oder in seltenen Fällen Waisenkinder. Deshalb waren sie alle zur Adoption freigegeben. Wenn ich heute daran denke, wie viele Kinder in der DDR zwangsadoptiert wurden, wird mir bei dem Gedanken, dass ich damals viele solcher Kinder gesehen habe, die sehnsüchtig auf ihre Mama warteten, übel. Wie lieblos und unbarmherzig war doch der Kommunismus!
In einer Ansprache hörten wir, dass immer wieder Ehepaare kamen und sich ein Kind aussuchen durften. Sie konnten das Kind mit nach Hause nehmen und ausprobieren, ob es in die Familie passte. Wenn das so war, durfte dieses Kind bei seinen neuen Eltern bleiben. Gefiel ein Kind den Eltern nicht, kam es ins Kinderheim zurück. Diese Kinder wurden behandelt wie Ware mit Rückgaberecht.
Bei unserem Besuch wich der kleine Klaus nicht mehr von Mutters Schoß. Immer wieder musste meine Mutter ihm sagen, dass sie nicht seine Mama war, sondern eine Tante. Mir ging das so nahe, mir tat der Junge so sehr leid, dass ich meine Mutter bat, wir sollten ihn nur für ein Wochenende nach Hause holen. Zu Hause sprach ich flehend mit meinem Vater. Als meine Mutter erzählte, wie Klaus sie immer Mama nannte, gab mein Vater nach. Er war sonst gar nicht so hart. Aber vielleicht hatte er geahnt, was aus dem einen Wochenende werden würde.
So fuhr meine Mutter in das Kinderheim, um den kleinen Klaus für ein Wochenende abzuholen. Als sie im Kinderheim zur Tür hereinkam, rief Klaus: „Meine Mama holt mich jetzt für immer.“ Meine Mutter muss richtig erschrocken gewesen sein. Die Erzieher hatten sich so viel Mühe gegeben, um Klaus beizubringen, dass die Tante ihn abholte, dass sie aber nicht die Mama war; dass er die Tante und den Onkel besuchen und zweimal dort schlafen dürfe. Dann würde er wieder zurückkommen. Nichts hatte geholfen. Der Junge war völlig davon überzeugt, dass die Mama ihn für immer holte.
Im Bus bezahlte meine Mutter die Fahrkarten und Klaus fragte: „Mama, was gibst du dem Busmann?“ Er wusste nicht, was Geld ist. Er war aber schon sechs Jahre alt und sollte im Herbst in die Schule kommen. Zum Frühstück gab es frische Eier. Klaus wusste nicht, was diese runden Dinger waren. Er kannte Eier nur gekocht, ohne Schale, oder gebraten. Ein Ei, wie es die Henne legt, hat er als Sechsjähriger noch nie gesehen.
Zu Hause angekommen, klebte er förmlich an meiner Mutter und sagte: „Stimmt’s, du bist keine Tante, du bist wirklich meine Mama.“ Wir konnten ihm nicht mehr antworten. Weder mein Vater noch meine Mutter, ich auch nicht.
Abends brachte meine Mutter ihn ins Bett und erklärte ihm, dass er morgen auch noch mal hier schlafen durfte. „Und dann fahren wir zurück ins Kinderheim.“
„Nein!“, schoss es aus seinem Mund.
Am anderen Morgen hatte er hohes Fieber. Das ging den ganzen Tag über nicht herunter. Am Sonntag war es auch noch so. Meine Mutter informierte das Kinderheim und rief danach sofort den Notarzt an. Nur deshalb, weil die Heimleiterin verlangte, dass das Kind zurückzubringen sei, egal wie. Das ging meiner Mutter echt über die Hutschnur. Sie bekam vom Arzt eine Bescheinigung und Klaus konnte erst einmal bei uns bleiben. Aber er brauchte Kleidung. Mein Vater fuhr ins Heim und holte einen Koffer voll. Vor allem aber sprach er mit der Heimleiterin. Als er wieder nach Hause kam, sagte er: „Klaus kann drei Wochen bei uns bleiben.“ Wir waren platt. Was war mit meinem Vater passiert? Dann war er zum Jugendamt gegangen, ohne mit uns vorher zu reden. So etwas waren wir überhaupt nicht gewöhnt.
Schlussendlich kam es so weit, dass Klaus nie wieder zurück ins Heim musste. Meine Eltern nahmen ihn als Pflegekind auf.
Wir hatten nur eine sehr kleine Wohnung und Klaus musste auf einem Klappbett schlafen, bis zum Winter. Dann wurde es zu kalt für ihn. Wir hatten keine andere Lösung, als dass ich ihn mit in mein Bett nahm.
Durch den Besuch im Kinderheim und die Sache mit Klaus war ich genug motiviert, sodass ich gern Heimerzieherin werden wollte.
Es blieb nicht bei dem kleinen Klaus. Ein Jahr später nahmen meine Eltern seine jüngere Schwester auch noch als Pflegekind zu uns nach Hause. Kam ich von der Arbeit, sollte ich nun als Heimerzieherin die Heimkinder erziehen. Ich hatte die beiden Kleinen zwar lieb, aber ich war nicht bereit zu einer zweiten Schicht. Und nicht dazu, auch noch den größten Teil meines Gehaltes abzugeben! Nein, das sah ich nicht mehr ein. Ich war inzwischen einundzwanzig Jahre alt, arbeitete als Heimerzieherin und wollte gern meinen eigenen Haushalt haben, einfach, damit ich auch mal meine Ruhe vor meiner Mutter hatte. Ich war erwachsen, verdiente Geld und wollte mein Leben selbst bestimmen.