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Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm

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Einige Zeit später erzählte mein Vater mir die gleiche Geschichte, wie Pfarrer Partetzke sie mir erzählt hatte.

Mein Vater sagte, er sei gegen die Taufe gewesen, denn wenn Eltern ihr Kind taufen ließen, so meinte er, dann müssten sie ihr Kind auch im Glauben erziehen. Er glaubte nicht an Gott und so entschloss er sich, mich in keiner Weise zu erziehen. Das hatte zur Folge, dass mein Vater mich nie bestrafte, aber auch nie beschützte. Er kümmerte sich nie um schulische Dinge. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals eine Schularbeit unterschrieben hätte oder dass er zu einer Elternversammlung in der Schule war. Da ich als Kind von den Hintergründen seiner Entscheidung nichts wusste, war es für mich oft frustrierend, dass mein Vater nie für mich und meine Belange ansprechbar war. Es gab mir immer das Gefühl, nicht gewollt und nicht geliebt zu sein.

Trotz allem kann ich mich an eine sehr schöne Situation mit meinem Vater erinnern. Ich wünschte mir so sehr einen Bildband mit vielen schönen Fotos über das Kunstturnen. Denn ich liebte diesen Sport sehr und trainierte viel. Mancher behauptete, ich hätte in der Turnhalle Laufen gelernt und über dem Babykörbchen eine Reckstange gehabt. Ich war einfach talentiert und es fiel mir leicht. So brachte ich es zu recht guten Leistungen. Die Fotos in dem Buch zogen mich fast magisch an. Aber dieses Buch kostete 16,80 DDR-Mark. Ich hatte kein Geld, um es mir zu kaufen. In der Sportgemeinschaft trainierte ich zweimal wöchentlich kleine Schulkinder. Dafür bekam ich im Monat fünf Mark. Zehn Mark hatte ich mir gespart und mein Vater gab mir heimlich den Rest. Meine Mutter durfte davon nie und nimmer erfahren, „weil ich’s doch nicht wert war“. Mein Vater hätte richtig Stress mit ihr bekommen.

Von meiner Mutter bekam ich nie Taschengeld. Meine Brüder ja, aber ich nie. Ich sollte es mir selbst verdienen. Diese Art „Gerechtigkeit“ war ich da längst gewöhnt, hatte ich doch beizeiten begriffen, dass man mich nur vergessen hatte, „kleinerweise totzuschlagen“, weil ich ja zu nichts nütze sei. Einmal versuchte ich, meine Gleichberechtigung zu erkämpfen, was in einer Tracht Prügel endete, von der ich hinterher blaue Flecke am Körper hatte. Aber meine arme Mutter hatte es als Kind auch nicht anders gelernt. Sie bekam ja selbst statt Liebe und Zuwendung nur Peitschenhiebe.

Auch mein Vater machte es wie seine Eltern. „Bist du anderer Meinung, dann will ich mit dir nichts zu tun haben!“ Mein Vater wandte sich ab und kümmerte sich nicht um mich, so wie es seine Eltern mit ihm auch gemacht hatten.

Als Schüler der achten Klasse mussten wir Kinder alle in ein Konzentrationslager fahren und uns anschauen und anhören, was die Nationalsozialisten für schreckliche Gräuel verübt hatten. Heute will so mancher das unseren Jugendlichen „ersparen“, weil es zu grausam wäre.

Nein, so finde ich, man sollte das den Jugendlichen zeigen, damit jeder begreift, wie schrecklich der Nationalsozialismus war. Aus meiner heutigen Sicht müssen wir Deutschen nicht für alle Zeiten in Sack und Asche herumlaufen wegen dieser Vergangenheit. Aber wir haben eine Verantwortung für die Geschichte unseres Volkes. Wir können keinen toten Juden wieder lebendig machen. Was geschehen ist, ist geschehen, so schlimm das auch ist. Aber wir können die jüdischen Menschen unterstützen und ihnen helfen, wir können zeigen, dass in Deutschland längst eine neue Generation herangewachsen ist, die aus der Geschichte des Zweiten Weltkrieges gelernt hat. Und das wird ja auch in vielfältiger Weise getan.

Bei diesem Besuch der Gedenkstätte in Buchenwald sahen wir die Verbrennungsöfen und erfuhren, dass sogar aus Menschenhaut Lampenschirme gemacht worden waren. Grausamkeiten, die unser Denkvermögen überstiegen. Dann zeigte man uns einen Film, in dem Naziverbrecher, die man nach dem Krieg dorthin gebracht hatte, das Lager aufräumen mussten. Es klang einfach schrecklich: „Man hat das Lager von Leichen geräumt.“

Als ich das damals alles so sah, beschloss ich für mich, alles zu tun, damit es nie wieder Krieg geben sollte.

In der Schule sagte man uns immer wieder, dass viele Kriegsverbrecher aus der DDR geflohen waren und nun in der BRD lebten. Wir würden zwar keinen Krieg gegen die BRD führen, aber dennoch würde es eine „Kriegerische Auseinandersetzung“ geben, den Kalten Krieg. Das war alltägliche Rethorik in den Schulen und Medien.

Als ich zu Hause meiner Mutter erzählte, dass die Faschisten (so nannte man die Nazis in der DDR) sogar aus Menschenhaut Lampenschirme gemacht hatten, war meine Mutter entrüstet. Sie schlug mich ins Gesicht und sagte: „Davon wird hier nie wieder gesprochen. Dein Großvater musste auch dort sein!“

„Was“, fragte ich entsetzt, „die Faschisten haben Opa auch dort eingesperrt?“

Meine Mutter ging aus dem Zimmer und ich wusste, dass ich nie wieder danach fragen konnte.

Die Geschichte meiner Familie fing an, mich zu interessieren, aber ich hörte nie wieder etwas darüber.

Auch wenn wir die Geschichte unserer Vorfahren nicht kennen, hat sie doch gewaltige Auswirkungen auf unser Leben. Wenn Gott sagt, dass er die Sünden der Vorväter heimsuchen wird bis in die vierte Generation, dann tut er das auch (vgl. 2. Mose 34,7). In einem späteren Kapitel werde ich darauf noch genauer eingehen.

Als Kind und Jugendliche wusste ich von den Sünden meiner Vorfahren nichts, auch nichts von den Konsequenzen, die es für mich hatte. Mein Leben war für mich aber oft einfach enttäuschend, frustrierend, verletzend, demütigend, entwertend – alles Negative schien sich in mir gesammelt zu haben und ich wusste nicht warum.

Andererseits wurde ich dadurch eine Kämpferin. Ich unternahm wieder und immer wieder den Versuch, meiner Mutter zu beweisen, dass ich gar wohl nützlich war und etwas konnte. So wollte ich bei meiner Mutter Anerkennung bekommen. Meine Mutter zeigte gern anderen Leuten meine meist sehr guten Schulnoten. Wem musste ich nicht alles meine Zeugnisse zeigen! Oder ich musste meine Kunststückchen vorzeigen: Mit acht Jahren konnte ich schon Handstand an der Tischkante machen, natürlich bei gedecktem Kaffeetisch, und dabei einen Schluck Kaffee aus der guten Sammeltasse trinken. Ja, da war meine Mutter stolz auf mich. Aber nur so lange, bis der Besuch gegangen war. Wenn wir dann abends in der Familie wieder allein waren, bekam ich jedes Mal zu hören, dass ich ein Angeber sei. Dann wurde ich in mein Zimmer geschickt und bekam an dem Tag nichts mehr zu essen – weil ich’s nicht verdient hätte.

Prügel und Essensentzug waren wichtige Erziehungsmittel meiner Mutter für uns drei Kinder. Der Teppichklopfer hing an der Tür des Kachelofens im Wohnzimmer, immer in Reichweite. Und meine Mutter fand oft Gründe, ihn zu benutzen. Aus der Schule eine Zensur schlechter als drei mit nach Hause zu bringen, hatte schmerzhafte Folgen. So büffelte ich, was das Zeug hielt. Mir fiel das Lernen leicht. Das war mein großes Glück.

Überleben nicht erwünscht

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