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Meine Eltern

Die Jahre nach 1945 waren eine schwere Zeit für meine Familie. Meine Eltern lebten in Thüringen. Dieses Gebiet war nach Ende des Krieges von den Sowjetrussen besetzt worden. Es gab Lebensmittelkarten und längst nicht immer genug zu essen.

Meine Eltern heirateten im Dezember 1949, also wenige Wochen nach der Gründung der DDR. Schon die Umstände der Hochzeit waren äußerst schwierig. Die Eltern meines Vaters waren Kommunisten. Der Vater meiner Mutter war ein Anhänger des Hitlerregimes gewesen, dazu Zellenleiter und Aufseher in einem Zwangsarbeitslager des KZ Buchenwald. Beide Familien bewohnten während des Krieges und danach bis zu ihrem Tod Einfamilienhäuser in einer Siedlung, für deren Bau die Hitler-Regierung sehr günstige Kredite vergeben hatte. Genauer: Die Familien meiner Eltern wohnten Zaun an Zaun! Die Eltern meines Vaters sagten zu ihrem Sohn: „Wenn du dieses Nazimädchen heiratest, betrittst du unser Haus nie wieder.“ Der Vater meiner Mutter sagte: „Den Kommunistenhund erschlage ich, wenn der in mein Haus kommt.“ Das war für meine Eltern hart, sehr hart. Wie sehr müssen sie sich geliebt haben, dass sie trotz dieser widrigen Umstände heirateten!

1950 wurde mein Bruder Peter geboren, elf Monate später mein Bruder Rolf. Da wohnten meine Eltern direkt neben dem ehemaligen Zwangsarbeitslager von Buchenwald. In diesem Lager arbeiteten während des Krieges etwa 1.000 Häftlinge des KZ Buchenwald. Es war eine Munitionsfabrik. Auf dem Grundstück des Lagers hatte man Mehrfamilienhäuser gebaut, in denen die Aufseher wohnten. Die Offiziere wohnten ganz in der Nähe in einer Siedlung mit Einfamilienhäusern aus der Zeit des Dritten Reiches.

Mein Vater entlud nach Ende des Krieges seit der Stationierung der Russen für die Sowjetarmee Waggons bei der Bahn, die unter anderem Lebensmittel wie Fisch enthielten. Was machte ein Vater, der für seine Familie nichts zu essen hatte? Mein Vater steckte einen Fisch in die Hosentasche, die andere Woche noch einmal – und wurde erwischt, 1953, um den 17. Juni herum, als die Menschen in der DDR in Massen auf die Straßen gingen, um gegen die politischen Umstände zu protestieren. Damals war der Protest noch erfolglos, viele wurden verhaftet, verurteilt und für lange Jahre ins Zuchthaus gesperrt. Meinen Vater verurteilten die Russen zu drei Jahren Zuchthaus – wegen „fortwährender Transportberaubung“, wie es in seiner Stasiakte heißt. Dazu mussten meine Eltern 5.000 Reichsmark Strafe bezahlen. Aus den Erzählungen meines Vaters weiß ich, dass er zwei Fische genommen hatte, um seiner Frau und seinen zwei Kindern etwas zu essen mitzubringen.

Wir waren für viele Jahre eine total verarmte Familie.

So hat diese Zeit uns schon als Kinder gelehrt, zu verzichten und mit dem zufrieden zu sein, was möglich war.

Herzen aus Stein

Als ich schon erwachsen war, erzählte mir meine Mutter einmal von ihren Eltern und ihrer Kindheit, nur ein Mal. Geboren wurde meine Mutter 1926. Als sie sechs Jahre alt war, musste sie auf Kirschkernen knien und wurde von ihrem Vater mit der Peitsche geschlagen. Als meine Mutter vierzehn war, wurde sie in Stellung geschickt. Das heißt, sie musste im Haushalt eines Arztes arbeiten. Meine Mutter erzählte: Sie musste dort so schwer arbeiten, dass sie bewusstlos wurde. Meine Oma aber meinte, es sei an der Zeit, dass diese Inge endlich mal richtig erzogen würde. Damals war es durchaus üblich, dass die Mädchen als Haushaltshilfen in wohlhabenden Familien tätig waren. Aber die Art und Weise, wie meine Oma über meine Mutter redete und die abfällige Art meiner Mutter, über die Oma zu reden, waren bezeichnend. Es gab weder Verständnis füreinander noch Liebe.

Genauso verständnislos und lieblos war es von den Eltern meines Vaters, ihrem Sohn den Zutritt zu seinem Elternhaus zu verwehren, weil er ein Mädchen liebte, dessen Eltern eine andere politische Einstellung hatten. Meine Eltern erlebten kalte Herzen aus Stein.

Verständnis und Hilfe konnten meine Eltern bei ihren Familien also nicht erwarten, als mein Vater 1953 verhaftet wurde. Mit dieser großen Not waren sie völlig allein. Meine Mutter musste zusehen, wie sie die beiden kleinen Jungen versorgte. Die materielle Not war groß und die seelische Not vielleicht noch größer. Wer konnte meine Mutter trösten, wer machte ihr Mut, nicht aufzugeben? Irgendwo bei irgendwem hat meine Mutter Trost und Zuwendung gesucht – und Sex gefunden – und sie wurde schwanger. Das Elend nahm seinen Lauf. Die Abtreibung misslang und ich wurde am 25. Juni 1954 geboren. Da es bei der Geburt medizinische Probleme gab, wurde ich sofort in die Universitätsklinik gebracht, wo ein totaler Blutaustausch erfolgt sein soll. Den ersten Überlebenskampf hatte ich gewonnen. Es sollte nicht der letzte gewesen sein.

Überleben nicht erwünscht

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