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Meine erste Wohnung

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Eines Tages hatte ich eine heftige Auseinandersetzung mit meiner Mutter. Es war wieder einmal Gehaltstag. Meine Mutter stand in der Tür meines Zimmers und hielt die Hand auf. Da nahm ich all meinen Mut zusammen und sagte etwas wie: „Nein, Mutti, du bekommst mein Gehalt nicht mehr. Ich will dir gern für meinen Lebensunterhalt etwas geben, aber nicht meinen ganzen Lohn. Für das viele Geld kann ich mir selber einen Haushalt aufbauen und das werde ich auch tun.“

Die Faust meiner Mutter landete in meinem Gesicht. Ein Schneidezahn fiel zu Boden und Blut tropfte von meinem Gesicht. Ich hatte schon manches mit meiner Mutter erlebt, aber so etwas noch nicht. In diesem Moment hatte sie mein Herz zerschlagen. Egal, was sie in diesem Augenblick gesagt hätte – nichts hätte diesen Schlag gegen meine Seele rückgängig machen können.

Ich sagte kein Wort, ließ den Zahn auf dem Boden liegen und wischte auch nicht das Blut vom Gesicht ab. Ich nahm eine kleine Tasche und packte einige wenige Kleidungsstücke ein, mein Kuscheltier dazu. Dann nahm ich mein Moped und fuhr zur Bank, wo ich alles Geld, was ich besaß (500 Mark der DDR), von meinem Konto holte, denn meine Mutter hatte auch den Zugang zu meinem Konto verlangt. Die Bankangestellte kannte mich gut und fragte, was denn passiert sei. Weinend sagte ich: „Meine Mutter …“

So blutverschmiert und völlig verheult fuhr ich zu meiner Tante, der Schwester meiner Mutter. Und wieder konnte ich nur schluchzen: „Die Mutti …“ Da tat mein Onkel etwas, was ich nie vergessen werde: Er holte einen Lappen und wusch mir sanft und mit tröstenden, liebenden Worten das Blut vom Gesicht. Wenn doch nur einmal in meinem Leben meine Mutter ein solches Stück Liebe für mich gehabt hätte!

Ich blieb vorübergehend bei meiner Tante, wo auch die Oma mit im Haus wohnte. Bei meiner Oma fühlte ich mich richtig wohl, ja sogar geborgen. Wie oft war ich schon von meiner Mutter weggelaufen und zu Oma gerannt! Noch als großes Mädchen hatte Oma mir die Nase geputzt und die Tränen getrocknet und Kakao gekocht.

So war es auch diesmal, als ich blutverschmiert kam. Nachdem mein Onkel mich versorgt hatte, gab es von Oma eine Tasse Kakao. Nur sagte sie nicht mehr, dass die Welt anders aussehen würde. Diesmal weinte sie mit mir und klagte ihre Not über ihre Tochter, meine Mutter.

Während wir in der Küche saßen, machten sich zwei meiner Tanten, Schwestern meiner Mutter, auf den Weg zu meinen Eltern. Es muss eine heftige Auseinandersetzung gegeben haben. Mit entsetzten Gesichtern kamen sie zurück: „Karin, es gibt keinen Weg zurück nach Hause. Deine Mutti hat heute Worte gesagt, sodass wir dich bitten, nicht mehr allein zu deinen Eltern zu gehen.“

Ich kann nicht beschreiben, was für Gefühle und Gedanken ich in diesem Moment hatte. Es war, als wäre meine Seele im freien Fall. Ich war von meiner Mutter als Einundzwanzigjährige aus dem Haus geprügelt worden und war nun faktisch obdachlos, jedenfalls ohne festen Wohnsitz.

Vorerst durfte ich bei meiner Oma und meiner Tante im Haus bleiben. Aber das war keine Lösung auf Dauer. Was sollte werden? Erst einmal wurde ich krankgeschrieben, denn in diesem Zustand konnte ich nicht als Erzieherin arbeiten.

Wohnungen waren rar in der DDR und ohne Beziehungen bekam man gar nichts. Ich ging zum Rathaus. Dort war meine ehemalige Klassenleiterin nun stellvertretende Bürgermeisterin. Ich erzählte ihr meine Situation. Sie sagte voller Mitgefühl: „Du hast das zu Hause wirklich lange ausgehalten.“ Mir kamen die Tränen, aber ich war ihr dankbar, weil sie mir sehr schnelle Hilfe zusagte.

Schon zwei Wochen später hatte ich ein Zimmer mit einer kleinen Küche. Es war eine geteilte Wohnung, kein Bad, keine Dusche; die Toilette im Treppenhaus benutzte ich mit einer alten Dame zusammen. Es war wahrlich kein Luxus. Aber ich hatte meine eigenen vier Wände und das war das Allerwichtigste. Ich hatte kaum Geld, trotzdem konnte ich einen Kredit bei der Bank aufnehmen. Davon konnte ich mir gute Möbel kaufen und sogar eine Waschmaschine. Einen Fernseher konnte ich zwar nicht haben, dafür hatte ich aber ein altes Radio, was mein Onkel mir liebevoll zusammengebastelt hatte. Allerdings würde ich für zwei Jahre recht sparsam leben müssen, denn so lange musste ich den Kredit abzahlen. Aber mir war das alles egal, die Hauptsache war: Ich hatte mein eigenes Zuhause und war unabhängig.

Zwei Jahre zuvor hatte ich ein Klavier von lieben älteren Menschen geschenkt bekommen. Ich hatte ihnen zu Hause öfters geholfen, weil sie es allein nicht mehr schafften. Mit dem Klavier hatten sie mir eine sehr große Freude gemacht.

Nur stand dieses Klavier in der Wohnung meiner Eltern. Aber mein Onkel und meine Tante sorgten dafür, dass ich nicht nur das Klavier bekam, sondern auch alle meine Kleidung und alle anderen persönlichen Dinge.

Das war im Oktober. Am Klavier übte ich täglich. Die Musik war mein Ausgleich, mein seelischer Halt. Ich spielte oft einfach Melodien vor mich hin und ließ meine Gedanken laufen. Nicht selten liefen meine Tränen genauso schnell. Meine Eltern wussten nicht, wo ich wohnte. Ich wollte das nicht, denn ich hatte nach wie vor Angst vor meiner Mutter. Dass sie meine Anschrift nicht kannte, gab mir ein bisschen Sicherheit.

Zum Klavier hatte ich auch Noten geschenkt bekommen. Ich sichtete sie im Laufe der Zeit und fand schöne Sachen. Fürs Akkordeon fand ich jede Menge „Herbert-Roth-Melodien“. Ich hatte sie früher schon gern gespielt. In den vielen Klaviernoten fand ich ein Lied, was mich allein vom Text her zu Tränen rührte: „Vater, Mutter, Schwestern, Brüder hab ich auf der Welt nicht mehr …“ Ich war so traurig, aber ich übte Takt für Takt.

Dann kam Weihnachten. Heiligabend. Ich hatte nur sehr wenig Geld. Ich hatte eine einfache weiße Kerze auf eine Untertasse gestellt und für mich angezündet. Ich ging ans Klavier und begann leise „Vater – Mutter – Schwestern – Brüder“. Ich hatte keinen Menschen mehr auf der Welt. Gott kannte ich nicht und von der Welt war ich verlassen, von Mutter aus dem Haus geprügelt. Es tat unendlich weh.

Am zweiten Weihnachtstag klingelte es an meiner Tür. Mein Vater! Tatsächlich, mein Vater stand an der Tür! Er weinte, ich weinte. Als wir in der Wohnung waren, fragte er, ob ich mit nach Hause kommen würde. „Nein, Vater. Das kann ich nicht. Wenn Mutter sich entschuldigen will, kann sie heute Nachmittag hierher kommen. Aber sage ihr bitte, dass ich keinen Stollen habe. Dafür habe ich noch kein Geld.“ Mein Vater schaute mich sehr bittend und gleichzeitig traurig an. Aber ich sagte ihm noch mal, dass es mir zu wehgetan hatte, was Mutter getan hatte. Sie hatte meine Seele zerschlagen. Und die sei noch lange nicht wieder heil. Ob sie je heilen würde?

Am Nachmittag klingelte es wieder. Meine Mutter und mein Vater. Solche Augen hatte ich bei meiner Mutter noch nie vorher gesehen. Einfach weil ich es noch nie erlebt hatte, dass meine Mutter etwas bereute. Sie hatte einen Stollen mitgebracht. Den gab sie Vater. Mir hielt sie ihre Hand entgegen. Für einen Moment zögerte ich – dann nahm ich ihre Hand. Da sah ich meine Mutter das erste Mal in meinem Leben weinen. Wir umarmten uns. Aber sagen konnte keiner etwas.

Ich kochte Kaffee, wir aßen Stollen bei meiner Kerze auf der Untertasse. Nein, mehr war von Weihnachten in meiner Wohnung nicht sichtbar. Aber Gott löscht auch den kleinsten glimmenden Docht nicht aus, weil er uns liebt, auch wenn wir ihn nicht kennen.

Und wieder erwachte in mir das Kind, das endlich von Vater und Mutter angenommen werden wollte. Ich zeigte meiner Mutter meine kleine Wohnung und sie staunte, was ich doch schon alles hatte, eben einen kleinen Haushalt. Und ich war auch stolz darauf, was ich geschafft hatte.

Irgendwann gingen sie wieder nach Hause.

War ich glücklich? Nein, ich glaube nicht. Triumphiert habe ich. Zum ersten Mal hatte meine Mutter Reue gezeigt. Vielleicht hatte sie nun begriffen, dass ich mehr wert war, als dass man mich hätte kleinerweise totschlagen sollen.

Ich war erwachsen geworden, endgültig.

Gott kannte ich nicht und schon gar nicht sein Wort. Aber Gott kannte mich und sein Wort ist immer wahr und für jeden Menschen gültig. So viele Menschen wissen nicht, dass Gott sie liebt und sich wünscht, dass es ihnen gut geht. Ich wusste es auch nicht. Das hinderte Gott aber nicht daran, mich zu lieben und darüber zu wachen, dass mir nicht mehr Böses widerfuhr, als ich aushalten konnte.

Nachdem ich den „Prager Frühling“ in der ČSSR erlebt hatte, wollte ich für Frieden und Gerechtigkeit kämpfen. Ich habe mir wirklich alle Mühe gegeben, es zu tun. Aber ich hatte keine Ahnung, dass Gerechtigkeit, die von Gott kommt, nichts mit dem zu tun hat, was wir Menschen gerecht finden. Genauso ist das mit dem Frieden zwischen Gott und uns Menschen. Das ist weit mehr als nur Waffenschweigen. Das durfte ich Jahre später lernen und persönlich erfahren.

Überleben nicht erwünscht

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