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Die verräterische Fernsehuhr

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Als ich sieben Jahre alt war, kam ich zur Schule. Meine Einschulung 1961 fiel genau in den Zeitraum des Mauerbaus. Ich hatte nichts von der hochgefährlichen Situation des Kalten Krieges mitbekommen. Zu der Zeit ließ ich meine Kreisel tanzen und fuhr Roller. Was ich damals sehr ungern tat, war Stricken. Als Sechsjährige hatte meine Mutter tatsächlich von mir verlangt, dass ich nicht nur stricken lernte, sondern vor meiner Einschulung für mich selbst eine Jacke strickte. Ich war immer ein lebhaftes Kind, das sich am liebsten den ganzen Tag bewegte. Das stundenlange Stillsitzen war eine Strafe für mich. Meine Mutter hatte in jeden Wollknäuel ein 50-Pfennig-Stück eingewickelt. Wenn ich das Knäuel verstrickt hatte, durfte ich mir etwas davon kaufen. Ich habe das gehasst. Einmal warf ich vor Wut das Geldstück in den Gully.

Meine Mutter war stolz darauf, dass ich doch tatsächlich zu meinem ersten Schultag eine selbst gestrickte Jacke trug. Ich mochte diese Jacke nie. Dennoch blieb mir die Freude an Handarbeiten, besonders am Stricken, mein Leben lang erhalten. In der DDR hatte ich nie einen gekauften Pullover oder eine Jacke. Ich machte alles selbst und hatte an den Gestaltungsmöglichkeiten meine große Freude. Auf diese Weise hatte ich immer individuelle Kleidung, was mir viel bedeutete.

Die politische Situation in der DDR war 1961, zur Zeit meiner Einschulung, sehr angespannt. Das Volk wurde bespitzelt und auf jede erdenkliche Art und Weise ausgehorcht.

Auch uns Kinder horchte man aus. So wurden wir gefragt: „Wer schaut abends das Sandmännchen?“ Das war der Abendgruß des Kinderfernsehens. Viele Kinder meldeten sich. Und die Lehrerin weiter: „Nach dem Abendgruß, was seht ihr da auf dem Bildschirm?“ Unsere Antwort: „Die Uhr.“ – „Ja, Kinder“, fragte die Lehrerin weiter, „hat die Uhr Punkte oder Striche?“ Um 19.00 Uhr vor der „Heute“-Sendung des ZDF ist immer eine Uhr zu sehen. Damals hatte diese Uhr Striche. Die Uhr im DDR-Fernsehen hatte Punkte. Durch die Antworten der Kinder war schnell klar, wer zu Hause das „staatsfeindliche Westfernsehen“ schaute. Jene Kinder, die die Uhr mit Strichen im Fernsehen sahen, brachten durch ihre Antwort ihre Eltern in echte Not. Diese bekamen „Besuch“ von der Staatssicherheit (Stasi). Oder die Eltern wurden zum Schuldirektor vorgeladen, um zu prüfen, ob die Eltern überhaupt in der Lage seien, ihre Kinder zu selbstbewussten sozialistischen Persönlichkeiten zu erziehen. Aus solch kleinen Dingen konnten richtig schwerwiegende Probleme für eine Familie werden.

Schon zu Beginn des ersten Schuljahres war ich monatelang im Krankenhaus, sodass ich im ersten Halbjahr der ersten Klasse keine Schulnoten bekam. Wir bekamen damals schon im ersten Schuljahr Zensuren. Meine Lehrerin kam mehrmals in der Woche zu mir ins Krankenhaus und unterrichtete mich. Ich bekam Aufgaben, die ich dann im Bett erledigen musste. Wenn meine Lehrerin kam, war ich richtig stolz, denn andere Kinder hatten dieses Privileg nicht. Und deshalb machte ich auch die schriftlichen Arbeiten besonders gern. Als kranker Spatz bekam ich dann immer druntergeschrieben: „Lob“, sogar mit dem Rotstift der Lehrerin. Darauf war ich natürlich erst recht stolz.

Wir hatten damals noch großen Respekt vor unseren Lehrern. Wir hätten uns nie getraut, irgendetwas auf dem Lehrertisch anzufassen. Dem Lehrer das Klassenbuch hinterhertragen zu dürfen, war fast schon eine Auszeichnung.

Freundinnen oder Freunde hatte ich keine, eigentlich nie. Meine Mutter erlaubte mir niemals, eine Spielkameradin mit nach Hause zu bringen. Das durften meine Brüder auch nicht. So trafen wir uns dann eben auf der Straße. Allerdings hatte ich dafür nur sehr wenig Zeit.

Ab dem Schulbeginn lernte ich Flötespielen, beim Kapellmeister des Landestheaters, was auch ein großes Privileg war. Im Landestheater bekam ich auch Sprachunterricht. Ich lernte als sächsisches Kind Hochdeutsch zu sprechen und Gedichte zu rezitieren. In späteren Jahren lernte ich auch zu moderieren. Meine Eltern brauchten für all das nicht eine Mark zu zahlen. Man hielt mich für begabt und förderte mich. Die Talentförderung war in der DDR wirklich gut. Durch die hohe Geldstrafe, zu der mein Vater 1953 verurteilt worden war, waren wir wie erwähnt über viele Jahre hin eine sehr arme Arbeiterfamilie. Und doch konnte ich zwei Instrumente spielen lernen und Sport treiben. Mein Vater konnte ein Ingenieurstudium machen. Meine beiden Brüder studierten Mathematik und meine Ausbildung als Heimerzieherin und Grundschullehrerin entspricht wohl der heutigen Fachhochschule, allerdings ohne Abitur.

Aber es war Voraussetzung, dass die Eltern loyal gegenüber der diktatorischen DDR-Regierung sein mussten. Ich kann mich nicht erinnern, dass in unserer Familie auch nur einmal kritisch über ein politisches Thema gesprochen wurde. Ich hörte aber auch nie eine positive Äußerung über den DDR-Staat. Meine Mutter weigerte sich jedes Jahr, zur Demonstration am 1. Mai zu gehen, was mit Sicherheit eine Notiz in der Personalakte brachte. Sie weigerte sich auch mehrmals, zur Wahl zu gehen, womit sie ihre Ablehnung dem Staat gegenüber kundtat. Uns Kinder dagegen schickte sie überallhin, damit wir keine Probleme bekamen. Meine beiden Brüder und ich traten mit dem achtzehnten Geburtstag sofort in die SED ein, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, wie die kommunistische Partei in der DDR hieß. Damit standen uns alle beruflichen Türen offen, viel weiter, als meine Mutter ahnte. Sie hätte das niemals erfahren dürfen. Sonst hätte sie uns aus dem Haus gejagt. Wir hatten wirklich Angst, dass sie es jemals erfahren würde.

In den Kulturhäusern gab es während meiner Kinder- und Jugendzeit noch viele Unterhaltungsabende mit Tanz, wo unsere Eltern gern hingingen. Einen DJ kannten wir noch nicht, es spielte jeweils eine traditionelle Tanzkapelle. Getanzt wurden die klassischen Tänze. In meiner Teenagerzeit kam gerade der Rock ’n’ Roll in Mode, „was nur für junge Leute etwas war“. Aber da war ich gerade richtig.

Meine Eltern sangen damals, in den 1960er- und 1970er-Jahren, in einem Volkschor. Diese Chöre traten dann an solchen Tanzabenden auf.

Jeden Dienstag war Chorprobe. Wir Kinder freuten uns jede Woche darauf. Denn wenn unsere Eltern aus dem Haus waren, saßen wir zu dritt oben im Doppelstockbett und spielten Skat. Ich war erst acht Jahre alt, da musste ich das lernen, denn meine Brüder brauchten den „dritten Mann“. Ich glaube, ich habe meine Brüder ziemlich genervt und gereizt. Manchmal haben wir uns so gestritten, dass die Türen knallten. Für gewöhnlich ging das so lange, bis eine Tür aus der Angel sprang. Wir waren uns sofort wieder einig, weil die Tür an Ort und Stelle sein musste, bevor unsere Eltern zurückkamen.

Natürlich blieb meinen Eltern das auf die Dauer nicht verborgen, denn die anderen Hausbewohner beschwerten sich ständig und wir bekamen entsprechend Ärger.

Bald fanden meine Eltern es besser, wenn wir mit zu den Chorproben gingen. Auf diese Weise lernte ich schon früh viele schöne Volkslieder kennen und bekam Freude an der Volksmusik. Und wenn meine Eltern am Wochenende Chorauftritt hatten, durften wir Kinder dabei sein.

Nach dem Chorsingen wollte ich unbedingt auch tanzen. Meinem Vater war das wohl doch ein bisschen zu komisch, mit mir aufs Parkett zu gehen. So heuerte ich meinen Bruder an.

Mein Bruder war nur drei Jahre älter als ich und wir übten viel, um einen ordentlichen Walzer aufs Parkett zu legen. Ich war erst im Grundschulalter, als ich bei solchen Kulturveranstaltungen auf der Bühne stand und Gedichte aufsagte. Ein Gedicht habe ich im fünften Schuljahr selbst geschrieben:

Wie schön bist du, du Republik.

Wir halten mit dir gleichen Schritt.

Die Kriege werden wir verjagen.

Und alle werden des Friedens Fahne tragen.

Dieses kleine Gedicht hat nichts Besonderes, und doch ist es etwas Besonderes, wie ein Kind schon in diesem Alter seine Vorstellungen aufschreibt.

Damals war ich nur stolz darauf, weil ich immer wieder dafür gelobt wurde. Als Kind begriff ich nicht, weshalb. Ich wurde gelobt und freute mich. Das, was für mich heute besonders ist, ist der Inhalt, der Glaubensinhalt. Ich würde es heute „Kommunistische Religion“ nennen. In der Bibel stehen Psalmen, Loblieder, die Gott ehren. Was war dieses kleine Gedicht anders als ein Loblied auf die selbst ernannten Götter Marx, Engels und Lenin. Dieses Gedicht ist in meinen Augen nichts anderes als das Ergebnis von Gehirnwäsche. Schon als Kinder wurden wir gelehrt, dass der böse Westen die Kapitalisten und Kriegstreiber beherbergte. Wollte man also die Kriege verjagen, musste man die Kriegstreiber bekämpfen und besiegen. Das heißt nichts weniger, als dass man den Kapitalismus besiegen musste, auch mit militärischen Mitteln. So wusste ich als Kind, dass der Westen mein größter Feind war. Deshalb sang ich mit ganzer Überzeugung: „Auf, auf zum Kampf, zum Kampf sind wir geboren …“

Schon früh wurden uns so Feindbilder vermittelt, Hass und Menschenverachtung in unsere Kinderherzen gesät. Spätestens als Jugendliche während meiner Ausbildung begriff ich, dass Christen gefährlich und böse waren. Eine Mitschülerin hatte sich vor Sehenswürdigkeiten in unserer Stadt fotografieren lassen, auch vor einer sehr schönen Kirche auf dem Marktplatz. Als sie uns die Fotos zeigte, sah ein Dozent das Bild, wo sie vor der Kirche stand. Das war der Grund, weshalb sie exmatrikuliert wurde, weil „das, was die Leute in der Kirche machen, nicht das ist, was unserer sozialistischen Erziehung entspricht“. So wusste ich, dass Kirche etwas ganz Schlimmes war, wo ich niemals hingehen durfte. Bis dahin hatte ich nie etwas über Christen, Glauben oder Kirche gehört. Ich kannte auch niemanden, der zur Kirche ging. Nicht, dass ich es ablehnte oder kritisch sah. Ich hatte einfach gar keinen Bezug dazu. Die Kirchen in der Stadt waren für mich genauso Gebäude wie das Rathaus oder die Turnhallen und Kulturhäuser.

Das Schulgebäude, in dem wir als Kinder Unterricht hatten, war ein altes Gebäude. Schon meine Mutter war dort zur Schule gegangen. In den 1960er-Jahren waren die Geldmittel noch sehr knapp, sodass es seit dem Krieg keine wesentlichen Erhaltungsmaßnahmen gegeben hatte. Unser Klassenraum hatte zu meinem Leidwesen eine Tür, die immer wieder von selbst aufging, oder man musste sie zuknallen.

Der Schüler, der der Klassentür am nächsten saß, musste dem Lehrer zum Stundenbeginn die Tür öffnen und sie wieder schließen. Eine Zeit lang hatte ich diesen Türdienst zu tun. Unser Staatsbürgerkundelehrer, also Politiklehrer, konnte es gar nicht leiden, wenn ich diese Tür etwas knallte. Aber wenn die Tür im Unterricht von selbst wieder aufging, mochte er das auch nicht. Ich konnte es ihm nie recht machen. Eines Tages packte mich die Wut, ich krachte die Tür zu und sagte laut und verärgert: „Echte deutsche Wertarbeit!“ Ich hatte glatt vergessen, dass ich den Mund halten sollte.

Jetzt musste ich nach vorn vor die Klasse kommen und erklären, was ich denn meinte mit „echter deutscher Wertarbeit“. Ich hatte keine schlechten, gar staatsfeindlichen Gedanken. Mich hatte einfach nur die Tür aufgeregt und dass der Lehrer jedes Mal rummeckerte. Dank meiner Redegewandtheit, die ich damals schon hatte, konnte ich mich herauswinden: „Ich wollte sagen, dass in der DDR sehr gute Produkte hergestellt werden, die in der ganzen Welt gefragt sind.“ Da war ich gerade noch mal davongekommen.

Nach der Jugendweihe lernte ich Akkordeon spielen, auch beim Kapellmeister des Landestheaters. Eine meiner schönsten Erinnerungen war ein Wettbewerb, bei dem ich auf dem Akkordeon den Freiheitschor aus der Oper „Nabucco“ von Giuseppe Verdi spielte. Ich gewann und bekam als ersten Preis ein Weltmeister-Akkordeon im Wert von 2.000 Mark. An manchen Abenden lud mich der Kapellmeister ins Theater ein. Dann durfte ich in der Regieloge sitzen und in der Pause durfte ich in sein Arbeitszimmer gehen, was eine besondere Ehre für mich war. Ein Erlebnis werde ich nie vergessen. Es klopfte an des Kapellmeisters Tür und ein Musiker aus dem Orchester trat ein. Er verneigte sich und sagte: „Herr Kapellmeister, bitte entschuldigen Sie, ich habe mich im zweiten Akt verspielt.“ Wow. So etwas hatte ich zuvor noch nie gehört.

Ich verspielte mich im Akkordeonorchester sogar bei einem Solo, aber nie habe ich mich entschuldigt. Als mir das in der Orchesterprobe passiert war, sagte der Kapellmeister vor dem versammelten Orchester: „Karin, das machst du schon ganz gut, das ist nur noch nicht zu gebrauchen.“ Boa. Ich war wütend, nahm mein Akkordeon, ging nach Hause und kam nie wieder ins Orchester, nur noch zum Einzelunterricht. Der Kapellmeister hat nie wieder etwas dazu gesagt. Danach erst hatte ich das Erlebnis im Theater, als der Musiker sich entschuldigte.

Mehr als zwanzig Jahre später war ich in einer Kirche und probte mit dem Kantor für Weihnachten das „Ave Maria“. Ich spielte Flöte und er begleitete mich an der Orgel. Zum selben Zeitpunkt war „mein“ alter Kapellmeister auch in der Kirche. Ich stand mit dem Kantor oben auf der Empore, der Kapellmeister unten zwischen den Bankreihen. Plötzlich rief er nach oben, wer da sei. Ich schaute hinunter und grüßte ihn. „Du, Karin?“ – „Ja, Herr Kapellmeister“, war meine Antwort. Er sprang förmlich die Treppen nach oben, begrüßte den Kantor. Dann gab er mir die Hand und hielt sie fest. Er schaute mir richtig tief in die Augen. In dem Moment wusste ich, was er wollte. Mir schossen die Tränen in die Augen. Er fragte nur: „Warum?“ Nach mehr als zwanzig Jahren schämte ich mich wie ein Kind und sagte kleinlaut: „Entschuldigen Sie, Herr Kapellmeister.“ Er hielt meine Hand immer noch und schaute mich immer noch an: „Lauf nie wieder weg. Das tut man nicht.“

Ja, er hatte so große Stücke auf mich gehalten, hatte sich oft auch privat um mich gekümmert, weil er wusste, dass ich es zu Hause nicht leicht hatte. Mit neunzehn Jahren durfte ich schon ein Solo im Orchester spielen. Und dann lief ich einfach weg. Wie undankbar war ich doch!

Für ihn war die Sache mit meiner Entschuldigung erledigt. Für mich war es eine Lektion fürs Leben, gewiss eine späte Lektion, aber umso lehrreicher. Ich bin nie wieder einfach weggelaufen, ohne etwas zu sagen. Nun hatte ich seine Vergebung und war sehr froh darüber.

Dann gab er dem Kantor und mir fürs „Ave Maria“ ein paar Tipps, hörte zu und meinte: „Hervorragend, Karin, wie immer.“ Wir hatten nach mehr als zwanzig Jahren Frieden geschlossen. Später erfuhr ich, dass er Christ war.

Diese öffentlichen Auftritte machten mich schon als Kind zu einer gewissen Persönlichkeit. In der Schule wurde ich ständig als Vorbild hingestellt, weil ja auch meine Schulnoten recht gut waren. Das erzeugte eine Distanz zu anderen Schülern und manchmal war ich auch ziemlich überheblich. In einem Zeugnis bescheinigte mir der Klassenleiter sogar ein „übersteigertes Selbstbewusstsein“. Schon damals wurde ich beklatscht und auch beneidet. Als Jugendliche sagte ich mal einem solchen Neider: „Wenn du auch so viel übst und trainierst wie ich, dann kannst du das auch.“

Heute weiß ich: Jeder Mensch hat Gaben. Es gilt sie zu entdecken und dann braucht es entsprechend viel Übung, Hingabe und Fleiß, um sie zu entwickeln. Ich habe als Kind nicht mit Puppen gespielt. Ich habe gelernt, geübt und trainiert. Es hat mir viel Spaß gemacht, aber es war auch harte Arbeit.

Zu diesen kulturellen Dingen trainierte ich noch zwei bis drei Mal in der Woche Geräteturnen. Als ich acht Jahre alt war, fragte mich ein Trainer, was ich einmal werden wolle. Wie aus der Pistole geschossen antwortete ich: „Weltmeister!“ Das bin ich zwar nie geworden, aber mir hat das alles richtig Spaß gemacht, bekam ich doch in der Turnhalle die Aufmerksamkeit und Anerkennung, die ich in meiner Familie nie hatte. Jedes Mal, wenn mein Name in der Zeitung stand, war meine Mutter total stolz, aber nur in der Öffentlichkeit. Zu Hause lief das anders ab. Meine Mutter hatte mir strickt den Leistungssport verboten. Ich durfte zwar zum Training gehen, aber nicht an Wettkämpfen teilnehmen. Lehrer, Trainer, Onkel und Tanten, Oma und Opa – alle versuchten, mit meiner Mutter zu reden. „Nein, ich verkaufe mein Kind nicht an den Staat“, war ihr Argument. Das kam einer Aufforderung zum Lügen gleich.

Alle haben mich unterstützt. Da meine Mutter dafür sorgte, dass ich keine Sportkleidung hatte, außer für den Schulsport, bekam ich sie vom Sportverein. Die Kleidung blieb bei meinem Trainer. Wenn Wettkampf war, lud er oder meine Klassenleiterin mich an den entsprechenden Wochenenden zu sich nach Hause ein. So konnte ich zu den Wettkämpfen gehen.

Einmal gab es eine ganz dumme Situation. Ich hatte mir allerlei Lügen ausgedacht, was ich am Wochenende mit meiner Klassenlehrerin gemacht hätte. Meine Medaillen, die ich bei Meisterschaften gewonnen hatte, hatte ich vorsorglich im Schuppen in einem Schuhkarton versteckt. Am Dienstag stand dann allerdings in der Zeitung, dass ich im Wettkampf die Goldmedaille gewonnen hatte. Als ich aus der Schule kam, stand meine Mutter schon mit dem Ausklopfer in der Tür. Ich sah die Zeitung und ein Bild von mir, und schon sauste der Teppichklopfer auf mich herunter.

Meine Mutter war nicht zimperlich. Sie war ja selbst mit Gewalt aufgewachsen. Sie wollte wissen, wo die Medaille war. „Im Schuppen“, sagte ich weinend.

„Her damit“, und schon zog sie mich die Treppen hinunter. Was, wenn sie den Schuhkarton entdeckt hätte? Zitternd vor Angst holte ich die Medaille und gab sie meiner Mutter. Wir hatten damals noch keine Toilette in der Wohnung, sondern über dem Hof ein Plumpsklo. Meine Mutter packte mich an den Haaren, nahm die Medaille und warf sie in die Jauchegrube, mit der Bemerkung: „Damit dir dieser Sportmist ein für alle Mal vergeht!“

Und wieder hörte ich sie sagen, wie unnütz ich sei und dass nur vergessen worden sei, mich kleinerweise totzuschlagen. Und auch diesmal sagte ich vor Angst kein Wort und wehrte mich nicht. Was sollte ich als Kind auch tun?

Das alles hinderte mich aber nicht, jede Gelegenheit zum Üben zu nutzen. So ging ich die Treppen öfters mal im Handstand nach oben. Die Teppichstange wurde zu meiner Reckstange, die Wiese zu meiner Turnmatte. Ich war wirklich quicklebendig und stillsitzen zu müssen war anstrengend wie Arbeit.

Oft lief ich weinend zu meiner Oma, der Mutter meiner Mutter. Zu meiner Mutter war die Oma vermutlich auch eine sehr harte Frau gewesen.

Aber mit mir ging sie sehr lieb um. Jedes Mal, wenn ich weinend kam, nahm sie mich auf den Schoß, zog ihr großes Taschentuch heraus und putzte mir die Nase. Dann kochte sie mir eine Tasse Kakao. Während die Milch heiß wurde, erzählte ich, was wieder passiert war. „Trink erst mal deinen Kakao, dann sieht die Welt wieder ganz anders aus.“ Das sagte sie immer. Und immer hatte sie recht.

Noch heute koche ich mir einen guten Kakao, wenn die Seele weint. Und noch heute sieht die Welt hinterher anders aus. Probleme löst das natürlich nicht. Irgendwann ist der Kakao kalt oder ausgetrunken. Unser Leben verändert das nicht. Da brauchen wir eher eine Veränderung unserer Denk- und Sichtweise auf die Dinge.

Nach der Wende traf ich zunehmend Christen aus den westlichen Bundesländern. Auf einer gemeinsamen Reise besuchten wir einen Pionierpalast, wo Kinder ein großartiges Kulturprogramm zeigten. Das versetzte mich in meine eigene Kindheit zurück. Ich erinnerte mich an die vielen schönen Auftritte und Wettkämpfe und genoss noch einmal das Gefühl als Siegerin mit dem Pokal in der Hand und der Goldmedaille um den Hals. Den Moment, als ich im Theater hörte, dass ich den Akkordeon-Wettbewerb gewonnen hatte, und das neue, für meine Eltern unerschwingliche Akkordeon der Marke Weltmeister um die Schultern gelegt bekam und vor Glückseligkeit einfach nur noch weinte. So wie für mich die Kultur und der Sport die Gelegenheiten waren, wo ich Zuwendung von meinem Kapellmeister und den Sporttrainern bekam, so war es wohl für diese Kinder nicht viel anders. Sie waren auserwählt, mit ihren Eltern in der Hauptstadt zu wohnen, Sport zu treiben und Musik zu machen. Diese Auftritte im Pionierpalast waren die Belohnung für viele Stunden Fleißarbeit. Der Beifall der Zuschauer war ihr Lohn.

Aber die Christen aus den westlichen Bundesländern sahen in den Kindern arme Opfer von Drill. Sie empfanden es als unmöglich, was den Kindern abverlangt wurde. All unsere Erklärungen und Beteuerungen, wie gern wir Kinder im Kommunismus trainiert hatten, nützten rein gar nichts. Wir gerieten in der Gruppe deshalb echt aneinander. Da zeigte sich einmal mehr, wie wenig wir aus Ost- und Westdeutschland voneinander wussten, und wir wissen noch heute viel zu wenig voneinander.

Mich lehrten der Sport, die Musik und die Kultur, zu kämpfen, mich durchzubeißen, auch Niederlagen einzustecken. Und ich lernte, mich in der Öffentlichkeit zu bewegen. Ich hatte Umgang mit Persönlichkeiten, besonders im kulturellen Bereich, die das durchschnittliche Arbeiterkind nicht hatte. Das gab mir Selbstbewusstsein und vor allem ein Selbstwertgefühl, was für mich und meine Zukunft sehr wichtig wurde. Ich machte die Erfahrung, dass ich alles lernen konnte, wenn ich nur wollte und fleißig war. Sicher, ich weinte manche Träne, aber ich lernte, nicht aufzugeben. Ich fiel hin, aber ich stand auch wieder auf. Für mein späteres Leben war das vielleicht sogar lebensrettend. Denn ich sollte noch ganz andere Dinge durchkämpfen müssen.

Lehrer, Musiker, Trainer – das waren wertvolle und wichtige Menschen in meinem Leben, die mich, so gut sie konnten, unterstützt haben. Etwas wurde mir damals wichtig: Sie waren alle Parteimitglieder. In meinen Augen waren sie gute Menschen. Meine Eltern dagegen waren das nicht. Wie meine Mutter wollte ich nicht werden. Aber die Menschen, mit denen ich alltäglich zu tun hatte, waren für mich Vorbilder. So wollte ich auch werden. Das war für mich der Hauptgrund, weshalb ich sofort, als ich achtzehn Jahre alt war, in die SED eintrat. Das heißt, man musste sich erst als Kandidat ein Jahr bewähren. Dann wurde man Mitglied.

Ich wollte so gern zum Gymnasium und später Sport studieren. Trainerin für Geräteturnen wollte ich werden. Meine beiden Brüder waren bereits dabei, ihr Abitur zu machen. Sie haben dann beide Mathematik studiert. Meine Mutter war der Meinung, es sei genug, wenn die Jungen in der Familie studierten, einer sollte arbeiten gehen und Geld verdienen. Damit war ich gemeint. Die Jungen konnten von zu Hause ausziehen, weil sie für ihr Studium im Internat wohnen mussten.

Ich konnte das nicht.

Es war für mich schwierig, mit meiner Mutter täglich auszukommen. Sicher lag das nicht nur an meiner Mutter. Ich war ein Teenager und ärgerte mich oft darüber, dass mir dies und jenes verboten wurde, was andere Jugendliche in meinem Alter selbstverständlich durften. Oh ja, meine Zunge war manchmal ziemlich spitz. Aber meine Mutter wurde auch sehr schnell aggressiv und griff nach Gegenständen, um uns zu schlagen. Ihre Reizschwelle war schon immer sehr niedrig gewesen und wir hatten als Kinder oft den Teppichklopfer auf den Köpfen gehabt. Am Esstisch nahm meine Mutter mit Vorliebe den Messergriff und schlug uns auf den Kopf. Holzbretter mochte sie auch.

Meine Mutter hatte Erziehungsmethoden, wo ich mir schon als Kind schwor, dass ich das mit meinen Kindern mal nie machen werde. Heute weiß ich: Sie konnte es nicht anders. Wie ich bereits erzählt habe, hatte meine Mutter selbst als sechsjähriges Kind auf Kirschkernen knien müssen, um dann mit der Peitsche geschlagen zu werden. Sie war nie geliebt worden.

Trotzdem bin ich meiner Mutter dankbar für das, was sie mir auf den Weg ins Leben mitgegeben hat. Ich bin sauber und ordentlich geworden, fleißig, pünktlich, diszipliniert, wurde höflich und hilfsbereit. Ich lernte, im Leben „meinen Mann“ zu stehen. Ich bin eine wertgeachtete und anerkannte Persönlichkeit geworden.

Das verdanke ich im Wesentlichen meiner Mutter. Wenn man sie heute fragen könnte, wäre sie sicher stolz auf ihre Tochter. Nur lieben konnte sie nicht. Jeder Mensch kann nur weitergeben, was er selbst bekommen und gelernt hat. Meine Mutter gab mir alles, was sie geben konnte. Als ich das verstanden hatte, war es nicht mehr schwer, meiner Mutter zu vergeben.

Nach der Schule entschied ich mich, Grundschullehrerin und Heimerzieherin zu werden. Dazu brauchte man in der DDR kein Abitur. Zu meinem Leidwesen war das Institut für Lehrerbildung in unserer Stadt. Ich hatte also keine Chance, auch in ein Internat zu gehen, sondern war weiter den Launen meiner Mutter ausgesetzt. Noch lange war das so: drei Jahre während der Ausbildung und auch noch die ersten Monate danach. Schmerzlich wurde ich immer wieder daran erinnert, dass „einer mal Geld verdienen“ sollte. Meine Mutter verlangte den größten Teil meines Gehalts als Unterhalt. Mir sollte nur ein Taschengeld bleiben. Meine Mutter hörte auf zu arbeiten. Sie hatte nun mein Geld.

Überleben nicht erwünscht

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