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Intelligenz

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Intelligenz

Bevor Sie auf den folgenden Seiten weiterlesen, legen Sie nun bitte Notizpapier bereit. Beantworten Sie dann die drei Fragen weiter unten. Sie dürfen als Antwort Ihre Annahmen notieren oder auch einfach mit »k. A.« (keine Ahnung) antworten. Auf die Lösungen stoßen Sie bei der weiteren Lektüre dieses Buches. Sollten Sie die Beantwortung der Fragen auslassen, bringen Sie sich gerade um eine wichtige Lernerfahrung, denn es gibt nur ein erstes Mal.


–Wie intelligent schätzen Sie sich selbst auf einer Skala von 1 bis 10 ein?

(1 = gar nicht intelligent, 10 = sehr intelligent/genial)

–Wann erscheint uns jemand besonders intelligent?

–Wovon hängt es ab, wie schnell jemand etwas ganz Neues lernt?

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Bei den Fragen im Vorfeld haben Sie sich dazu Gedanken gemacht, wie intelligent Sie sind. Die meisten Menschen stellen sich hier vor, sie müssten eigentlich erst einen »Intelligenztest« machen, und teilen sich gefühlsmäßig dort ein, wo sie glauben, in etwa hinzugehören. Vera F. Birkenbihl sagte zum Thema Intelligenzquotient: »Der sogenannte IQ gibt nicht an, wie intelligent jemand ist, sondern wie gut er mit unserem Schulsystem klarkommt.« Was macht einen intelligenten Menschen nun aus? Wann erscheint uns jemand besonders intelligent? An unseren Seminaren antworten die Teilnehmenden häufig:

Intelligent erscheint uns beispielsweise jemand, der

–über ein breites Allgemeinwissen verfügt oder

–sich gut und schnell ausdrücken kann oder

–etwas auf verständliche Weise erklären kann oder

–eine Brille trägt.

Und was hatten Sie notiert? Lassen Sie uns im nächsten Schritt einen Blick darauf werfen, was unter Intelligenz verstanden und wie der Begriff definiert werden kann.

Bedeutung des Intelligenzbegriffs nach Perkins

Am meisten beeindruckt hat mich immer die Definition von David Perkins, Professor an der Harvard Graduate School of Education, wonach Intelligenz lernbar ist. Er schlägt vor, dass wir die Intelligenz in drei Faktoren aufteilen.

Teil eins steht für die neuronale Geschwindigkeit. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen ohne Vorkenntnisse in einem Vortrag über Astrophysik, in dem Ihnen der Referent etwas völlig Neues erklärt. Wie schnell können Sie das Vorgetragene einordnen? Gehören Sie eher zu den Schnelldenkern oder eher zu den langsamen Denkern? Oder liegen Sie irgendwo in der Mitte? Egal, wo Sie sich aus Ihrer Erfahrung heraus sehen, die Geschwindigkeit, mit welcher die Neuronen im Gehirn feuern, ist erblich bedingt und somit grundsätzlich vorgegeben. Sind Sie also eher ein Schnelldenker, haben Sie einfach Glück gehabt. Sie konnten mit Ihren Turbo-Neuronen in der Schule auch isolierte Lerninhalte schnell einordnen und hatten wahrscheinlich wenig Lernprobleme (waren sogar eher unterfordert). Langsame Lerner brauchen länger, um neue Inhalte zu verarbeiten. Sie sind darauf angewiesen, dass sie genügend Zeit haben, um neues Wissen einzuordnen und zu verankern und neue Tätigkeiten zu trainieren. In unserem Schulsystem fühlen sie sich oft dumm. Dabei sind sie einfach nur langsamer als andere und können die Lerninhalte ebenso gut lernen wie ihre schnellen Mitschülerinnen und Mitschüler – es dauert nur länger. Übrigens kann es auch Vorteile haben, langsamer zu sein. Stellen Sie sich vor, jemand braust mit seinem Sportwagen über die Autobahn. Ein anderer radelt mit dem Fahrrad an sein Ziel. Wer nimmt mehr Details von der Landschaft wahr? Oft haben langsame Denker den Vorteil, dass sie Dinge wahrnehmen, die den Schnelldenkern beim Vorbeibrausen entgehen. Ihre Langsamkeit zwingt sie sozusagen dazu, den Dingen genauer auf den Grund zu gehen, um sie zu verstehen. Neuronal langsam zu sein, hat also auch Vorteile. Sie kennen sicher Menschen in Ihrem Umfeld, welche insbesondere auch diese beiden Extreme belegen.


Perkins sagt, dass der zweite Bestandteil der Intelligenz unser bestehendes Wissensnetz ist. Wissen Sie über viele Themen Bescheid und wie groß ist Ihr jeweiliges Wissensnetz innerhalb jedes Themas? Wir könnten den Wissensbereich beinahe endlos erweitern. Sie erinnern sich an unseren Musterschüler, der sich eingangs mit dem Thema »Fahrrad« beschäftigt hat? Unser Gehirn ist, wie die Forschung seit längerem weiß, kein statisches Konstrukt, sondern bis ins hohe Alter sehr plastisch und anpassungsfähig. Es ist das einzige Organ, das wächst, ohne mehr Raum zu benötigen. Wir müssen also nie befürchten, dass es in unserem Schädel keinen Platz mehr hat. Diesen Teil der Intelligenz können wir beeinflussen und weiter ausbauen, indem wir unser Wissen erweitern.

Das Wissen besteht aus unzähligen verschiedenen Bezirken und Arealen, die durch eine Vielzahl von Verbindungen und Verknüpfungen miteinander vernetzt sind. Es gibt dichtere und dünnere Stellen; gewisse Bezirke kann man sich wohl strukturiert denken, einige Areale wiederum eher chaotisch. Das Wissensnetz verändert sich ständig; es wird darin laufend eingebaut, umgebaut und verändert, aber auch abgebaut und vergessen. (Steiner 2001, S. 134)

Der dritte Teil der Intelligenz nach Perkins ist unsere Methoden-Kompetenz. Kennen wir und unsere Lernenden verschiedene Methoden und Strategien zum Lernen oder nur eine einzige (z. B. monotones Auswendiglernen)? Hier liegt meiner Ansicht nach ein sehr großes Potenzial. Als Lehrerin ist es mein Bestreben, meinen Schülerinnen und Schülern möglichst viele verschiedene gehirn-gerechte Lernmethoden mit auf den Weg zu geben. Unsere Lernenden sollten ein großes Repertoire an geeigneten Methoden aufbauen können, indem sie verschiedene Lernmethoden während ihrer eigenen Lernphasen anwenden und ausprobieren dürfen. Schon sehr bald können sie die für sie persönlich passende und auf die jeweiligen Lerninhalte abgestimmte Methode selbstständig auswählen. Aber eben wirklich nur, wenn sie auch eine entsprechende Auswahl haben.

An den Rädchen von Teil zwei (Wissensnetz) und Teil drei (Methoden und Strategien) können wir also drehen. Durch Üben können wir indirekt auch am ersten Rädchen drehen. Denn auch jemand, der neuronal langsam ist, kann durch Training auf der Wirkungsseite so flink werden wie ein neuronal schneller Mensch.

Ob jemand neuronal schnell oder langsam ist, zeigt sich also, wenn auf einen Menschen etwas ganz Neues zukommt. Wenn der Mensch mit einem ganz neuen Thema (Astrophysik) oder einem ganz neuen Bewegungsablauf (Tanzschritt) konfrontiert wird. Um dies aufzuzeigen, machen wir in unseren Seminaren oft folgende Übung: Zuerst lassen wir die Teilnehmenden die Wochentage der Reihe nach aufsagen. Laut sagen sie diese vor sich hin: »Montag, Dienstag, Mittwoch …«. Dies geht erfahrungsgemäß sehr flott, alle Teilnehmenden halten locker mit und rufen laut die Wochentage. Das Aufsagen der Wochentage ist für alle Sprechenden nichts Neues und so gibt es auch keine großen Tempo-Unterschiede. Jeder kennt die Wochentage auswendig und hat für die Nennung dieser bereits eine »Autobahn« im Kopf angelegt. Entsprechend leicht fällt diese Übung – egal ob jemand neuronal schnell oder langsam ist.

Nach diesem Einstieg lassen wir die Teilnehmenden die Wochentage rückwärts aufsagen, mit Dienstag beginnend. Hier merken alle, dass das Tempo automatisch etwas niedriger ist und auch die Lautstärke etwas nachlässt. Das geht nicht mehr so flüssig, denn die Teilnehmenden müssen bei jedem Wochentag kurz überlegen, welcher Tag davor war. Trotzdem geht das noch ziemlich zügig, weil wir im Alltag auch wissen müssen, welcher Tag gestern war. Wir können das also gut re-konstruieren.

Die dritte Übung löst als Erstes immer Gelächter aus. Wir fordern die Teilnehmenden auf: »Sagen Sie nun noch einmal die Wochentage auf, diesmal bitte alphabetisch geordnet!« Versuchen Sie es selbst. Der erste Tag ist übrigens der Dienstag. Dazu hat nun wirklich niemand auch nur einen schmalen »Trampelpfad« im Gehirn. Da ist nichts im Gehirn, was die Wochentage in alphabetischer Form gespeichert hätte. Die Reihenfolge muss erst konstruiert werden. Hier zeigt sich nun, wer eher ein Schnelldenker ist und Neues rasch verarbeiten kann und wer eben einfach mehr Zeit benötigt, um die Wochentage alphabetisch auf die Reihe zu kriegen. Falls diese Reihenfolge in unserem Alltag Sinn machen würde und wir tagtäglich mit der alphabetischen Reihenfolge zu tun hätten, könnten wir diese bald alle genauso schnell aufsagen, wie wir es mit der normalen Reihenfolge Montag, Dienstag, Mittwoch … gewohnt sind.

Wir als Lehrpersonen sollten uns diese Übung immer wieder vor Augen führen und den langsameren Lernern in unserem Schulzimmer einfach mehr Zeit geben. Langsam darf nicht gleichgesetzt werden mit dumm! Im Rahmen unserer Seminare haben wir schon so oft erlebt, dass Erwachsene zu uns kommen und in der Pause erzählen, dass sie ihr ganzes bisheriges Leben lang immer geglaubt hätten, dass sie dumm sind. Eine etwa 45-jährige Frau kam einmal mit Tränen in den Augen zu mir und sagte zu mir: »Wissen Sie, alle habe zu mir immer ›die dumme Manuela‹ gesagt. In der Familie war ich schon immer ›die Dumme‹ und auch in der Schule war das so. Jetzt verstehe ich, dass ich einfach langsamer bin als andere. In meiner ganzen Schul- und Ausbildungszeit war es für mich immer so, als würde ich einem fahrenden Zug hinterherrennen, und ich wusste aber auch, dass, so sehr ich mich auch anstrenge, ich keine Chance haben würde, auf den Zug aufzuspringen!«.

Ich weiß heute, dass diese Geschichte kein Einzelfall ist. In fast jeder Klasse gibt es Schüler, die langsamer lernen. Leider erlebe ich immer wieder, wie schnell diese Kinder für immer als »dumm« abgestempelt werden. Trauen wir den Kindern etwas zu und vor allem: Hinterfragen wir die Methoden und nicht die Kinder. Jede Woche darf ich erfahren, dass sogenannte »dumme« oder »schwache« Schüler aufblühen, wenn sie gehirn-gerecht Lernen dürfen, wenn man ihnen dazu genügend Zeit lässt und sie gleichzeitig mit geeigneten Methoden unterstützt.

Die neun Intelligenzen bei Gardner

Im Rahmen unserer Kinder-Eltern-Seminare lassen wir jeweils die Kinder und ihre Eltern ihre Stärken auf der Basis der von Howard Gardner (Gardner, 2002) beschriebenen Intelligenzen bestimmen. Die Teilnehmenden kreuzen ihre zwei am ausgeprägtesten Intelligenzen an. Was würden Sie ankreuzen?

◽Sprachliche Intelligenz

◽Logisch-mathematische Intelligenz

◽Musikalisch-rhythmische Intelligenz

◽Räumliche Intelligenz

◽Körperlich-kinästhetische Intelligenz

◽Naturalistische Intelligenz

◽Interpersonale, soziale Intelligenz

◽Intrapersonale Intelligenz

◽Existenzielle Intelligenz

Was denken Sie, wie die Verteilung auf diese neun Formen von Intelligenz nach einigen hundert Teilnehmenden aussieht? Es hat sich gezeigt, dass die Stärken ziemlich gleichmäßig auf alle neun Intelligenzen verteilt sind. In unserem Schulsystem liegen die Schwerpunkte aber vor allem bei der sprachlichen und logisch-mathematischen Intelligenz. Wer seine Stärken und Interessen genau hier hat, wird fast automatisch eine gute Schülerin oder ein guter Schüler sein. Wer seine Stärken woanders hat, sollte diese zumindest in seiner Freizeit oder später einmal (nach dem Austritt aus der Schule) ausleben können, da diese Fähigkeiten andernfalls verkümmern könnten. Howard Gardner schreibt dazu:

Die Verbindung von sprachlicher und logisch-mathematischer Intelligenz ist zweifellos ein Segen für Schüler und Studenten wie überhaupt für jeden, der regelmäßig Tests absolvieren muß. Vielleicht hat die Tatsache, daß sich die meisten Psychologen und die Wissenschaftler überhaupt durch ein angemessenes Volumen beider Intelligenzen auszeichnen, zwangsläufig dazu geführt, daß diese Fähigkeiten die Intelligenztests dominieren. (Gardner 2002, S. 56)

Auch wenn die von Gardner beschriebenen Intelligenzen bisweilen kontrovers diskutiert werden, erscheint mir die Idee, dass es nicht nur eine Intelligenz gibt, wesentlich. Howard Gardner hat die Vielfalt des menschlichen Geistes beschrieben und nicht nur die kognitiven, sondern auch andere Intelligenzformen aufgelistet. Er sagt, dass wir Kinder nicht so eindimensional sehen sollten. Wenn wir nur auf die rein kognitiven Fähigkeiten der Lernenden achten, machen wir einen Fehler. Kinder sollten auch miteinander und mit sich selbst klarkommen. Sie sollten sich bewegen und sich mit ihrer natürlichen Umgebung beschäftigen dürfen.

Viele weitere Autoren sehen die Intelligenz schon lange nicht mehr als eine unveränderbare Zahl auf der IQ-Skala. Persönlichkeitstrainer Ken Robinson stellt nicht die Frage: Wie intelligent sind Sie? Sondern: Wie sind Sie intelligent? Er schreibt:

Wenn Sie wissen, dass Intelligenz vielgestaltig, dynamisch und individuell ist, können Sie an diese Frage anders herangehen. Und das gehört unbedingt dazu, wenn Sie Ihr Potenzial entdecken wollen. Denn wenn Sie Ihre Vorurteile über das, was Intelligenz ist, aufgeben, können Sie anfangen, Ihre ganz besondere Intelligenz neu zu sehen. Kein Mensch ist eine Zahl auf einer linearen IQ-Skala und nicht zwei Menschen mit dem gleichen IQ werden das Gleiche tun, die gleichen Passionen verfolgen oder in ihrem Leben gleich viel erreichen. Das Potenzial entdecken zu wollen bedeutet, sich auf alle Möglichkeiten einzulassen, auf die Sie die Welt erleben, und herauszufinden, wo Ihre wahren Stärken liegen. (Robinson 2010, S. 74)

Für mich spiegelt dies die große Vielfalt in uns und in unseren Schülerinnen und Schülern wider. Wie schön ist es doch, dass wir verschieden sind und jeder seine eigenen Stärken hat. Manfred Spitzer sagte dazu in einer Fernsehsendung: »Menschen sind vielfältig und es ist wichtig, dass wir ihre Vielfältigkeit ernst nehmen.« Die Birkenbihl-Methode wird dieser Forderung gerecht. Sie werden am Ende der Lektüre dieses Buches wissen, welche Möglichkeiten Sie mit dieser Methode haben, auf die verschiedenen Kinder einer Klasse einzugehen und ihnen beim Sprachenlernen individuell zu helfen.

Gehirn-gerechtes Sprachenlernen (E-Book)

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