Читать книгу Elsternherz - Karin Kehrer - Страница 12
Kapitel 9
ОглавлениеMichael Campbell reiste am Abend nach Paris zu einer Weinmesse ab, nachdem er mir noch die Brillen vorbeigebracht hatte. Ich setzte sie auf und staunte darüber, wie verändert ich aussah. Keine Brillenschlange mehr, jünger und freundlicher. Henry ließ er bei mir. Er würde erst in drei Tagen wieder zurück sein und ich fühlte mich einerseits erleichtert darüber, aber auch ein wenig verloren.
Was sollte ich in diesen drei Tagen anstellen, nachdem ich die Wohnung ja schon auf Hochglanz geputzt hatte?
Der Hund nahm mir die Antwort auf diese Frage zumindest zu einem Teil ab. Er war überglücklich über die ausgedehnten Spaziergänge und Joggingrunden, die ich mit ihm absolvierte. Ich stellte fest, dass er eigentlich gut erzogen war. Mittlerweile folgte er auf jedes meiner Kommandos und als ich den riesigen Korb, in dem er für gewöhnlich schlief, aus Mr Campbells Schlafzimmer in mein Wohnzimmer trug, legte er sich mit einem zufriedenen Seufzer hinein.
Auf dem Blumenmarkt in Covent Garden deckte ich mich mit Kräutertöpfen ein. Majoran, Basilikum, Petersilie, Schnittlauch und Koriander zierten jetzt die Fensterbank in der Küche. Auch meine Kochbücher übersiedelte ich. Die Romane ließ ich vorerst in Eileens Wohnung.
Bedrückend fand ich allerdings die einsamen Abende. In meinem Wohnzimmer gab es zwar einen Fernseher, aber ich hatte keine Lust, ihn einzuschalten. Also besah ich mir Mr Campbells Bibliothek ein wenig genauer. Zu meinem Erstaunen entdeckte ich ein Regal voller Fantasy-Klassiker. J.R.R. Tolkien in Originalausgabe mit Signatur, sämtliche Bände von Terry Pratchett, C.S. Lewis. In allen war der Name Anna Campbell vermerkt.
Ich nahm The Colour of Magic von Terry Pratchett in meine Wohnung mit. Ich hatte das Buch mehrmals in meiner Kindheit gelesen, aber ich liebte es noch immer.
Am späten Nachmittag des dritten Tages bekam ich eine Nachricht von Michael Campbell auf meinem Smartphone. Er würde gegen zehn Uhr abends eintreffen und ich solle einen leichten Imbiss für zwei Personen vorbereiten, denn er brächte Besuch mit, der vegane Gerichte bevorzuge. Und ich solle Henry zu mir in die Wohnung nehmen, denn sein Gast fürchte sich vor Hunden. Außerdem bräuchte ich ihn am nächsten Morgen nicht zu wecken, denn er wolle ausschlafen. Aufgrund all dieser Hinweise nahm ich an, dass sein Besuch weiblich war.
Ich rief die Dogge und brach zu einem neuerlichen Einkaufsbummel auf, backte Brötchen, bereitete danach Hummus in Melanzaniröllchen zu und stellte sie neben einem Cesar’s Salad in den Kühlschrank.
Dann ging ich ins Bett, nicht ohne zuvor noch sicherheitshalber meine Wohnung zu durchsuchen, ob sich nicht etwas darin befand, das mir nicht gehörte. Eine Macke, die ich eigentlich schon während meiner Jahre zu Hause bei meiner Mutter abgelegt und in Eileens Wohnung wieder aufgenommen hatte. Natürlich fand ich nichts.
Gegen Mitternacht wurde ich durch Stimmen im Flur aus dem Schlaf gerissen. Eine weibliche Stimme kicherte, gefolgt von einem männlichen „Pst.“ Dann ein Poltern gegen meine Wohnungstür und ein unterdrückter Ausruf. Offensichtlich hatten Michael und sein Gast einiges getankt.
Hektisches Flüstern und wieder dieses schrille, affektierte Kichern. Für einen Moment dachte ich an Eileen. Hatte sie die Initiative ergriffen und ihn zu einem Date verleitet? Unsinn. Eileen war keine Veganerin.
Ich vergrub meinen Kopf im Polster, um nichts mehr hören zu müssen. Es ging mich nichts an, wen Michael Campbell abschleppte. Aber ich hätte mir gewünscht, die Wände wären dicker. Diese kleine Wohnung musste nachträglich eingebaut worden sein und sie bestanden wahrscheinlich hauptsächlich aus Rigips.
Ich hörte noch gedämpft eine Tür zuschlagen, dann herrschte Ruhe.
Am nächsten Morgen stand ich wie gewohnt um halb sieben Uhr auf. Es war Freitag und ich wollte auf den Bauernmarkt. In der Diele entdeckte ich einen langen schwarzen Mantel und ein Paar silberfarbene Pumps mit schwindelerregenden Absätzen. Sie gehörten definitiv nicht Eileen. Ich wunderte mich darüber, dass mich das beruhigte.
Ich schlich aus der Wohnung und genoss erst einmal den Spaziergang mit Henry, obwohl feuchter Nebel in den Straßen lagerte und es empfindlich kalt war. Ich musste mir dringend eine warme Jacke kaufen, sobald ich mein erstes Gehalt bekam.
Gegen Mittag kehrte ich mit meinen Einkäufen in die Gloucester Street zurück. Vor dem Haus stand ein Taxi, in das eine Rothaarige mit langen Locken einstieg. Sie trug den schwarzen Mantel und die silbernen Pumps. Mr Campbells nächtlicher Gast hatte also das Bett und die Wohnung verlassen. Ich atmete insgeheim auf. Das schrille Kichern würde mir damit erspart bleiben.
Als ich die Einkäufe im Kühlschrank verstaute, entdeckte ich den unberührten veganen Imbiss. Miss Silberpumps hatte also doch keinen Hunger gehabt.
Ich zuckte zusammen, als Henry ein kurzes Winseln ausstieß und die Küchentür geöffnet wurde. Mein Arbeitgeber schlurfte zur Tür herein. Er war barfuß, trug Jogginghosen und ein schwarzes T-Shirt mit einem Wolfskopf darauf. Einen heroischen Anblick bot er trotzdem nicht. Sein Haar hing ihm zerzaust ins Gesicht und er gähnte herzhaft. Henry trabte heran, setzte sich vor ihn nieder und sah ihn erwartungsvoll an.
„Guten Morgen, Sir“, sagte ich munter.
Er zuckte zusammen und griff sich mit einer kläglichen Geste an den Kopf. „Nicht so laut, Sie Ausbund an Fröhlichkeit“, knurrte er.
„Kopfschmerzen?“, erkundigte ich mich.
„Mmh. Hätten Sie Wasser für mich?“ Er ließ sich auf den Küchenstuhl fallen.
„Ja, eine Flasche steht im Kühlschrank.“
Er hob den Kopf, sah mich aus rot geränderten Augen an. „Könnten Sie nicht …?“
Ich kam seinem Wunsch nach. In diesem Moment erinnerte er mich an meinen Vater. An die jämmerliche Figur, die er nach seinen Alkoholexzessen bot und die meine Mutter dazu gebracht hatte, ihm mit Verachtung entgegenzutreten.
Mr Campbell blieb noch einen Moment sitzen, ein Bild des Elends. Schließlich trank er das Glas mit einem Zug leer und streckte es mir auffordernd entgegen. Als ich den Kühlschrank noch einmal öffnete, fiel sein Blick auf den unberührten Imbiss. „Susan wollte keine Melanzani, tut mir leid.“
Aha, Susan hieß also die Kichererbse im schwarzen Mantel.
„Kein Problem“, sagte ich würdevoll. „Ich nehme das nicht als persönliche Beleidigung.“
„Die Brötchen schmeckten aber großartig. Wo haben Sie die gekauft?“
„Ich habe sie selbst gebacken.“
Er sah mich verblüfft an. „Tatsächlich? Da habe ich wohl eine echte Perle eingestellt.
Ich errötete und wusste nicht, was ich sagen sollte.
Er setzte sich wieder an den Tisch und fixierte das Wasserglas in seinen Händen. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit ihm anfangen sollte.
Henry winselte und legte die Pfote auf den Oberschenkel seines Herrn, als wolle er ihm sein Mitgefühl ausdrücken. Mr Campbell streichelte abwesend über den Kopf des Tieres. „Na alter Junge. Du hast wenigstens Mitleid mit mir.“
Es klang so theatralisch, dass ich kichern musste. „Möchten Sie irgendetwas essen?“, fragte ich, weil ich mir ein wenig nutzlos vorkam. Er schüttelte den Kopf und stieß wieder einen Seufzer aus.
„Wie war die Weinmesse?“
Er zuckte mit den Schultern. „Ganz ok. Man steht den ganzen Tag da und quatscht sich die Seele aus dem Leib. Man lernt natürlich jede Menge Leute kennen. Aber danach will man nur noch ins Bett.“
„Und Paris?“
„Hab nicht viel davon gesehen. Aber ich war schon öfters da. Sie noch nicht?“
„Nein, leider. Aber ich würde gerne einmal hinfahren.“
Er hob den Kopf und sah mich an. „Woher kommen Sie eigentlich, Miss Duncan?“
„Schottland. Callander. Das ist in der Nähe von Stirling.“
Er lächelte. „Ich weiß, wo das ist. Meine Mutter kommt aus Stirling.“
„Anna Campbell?“, fragte ich aufs Geratewohl.
Er nickte überrascht. „Woher wissen Sie …?“
„Ich habe mir erlaubt, ein Buch auszuborgen, in dem ich diesen Namen las. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus?“ Ich warf ihm einen ängstlichen Blick zu.
„Aber nein. Sie lieben also auch Fantasy? Meine Mutter las nur solche Bücher. Sie hat sie zurücklassen müssen, als sie ging.“
Ich sah ihn erstaunt an, aber er schwieg und wollte wohl nicht näher auf das Thema eingehen.
Stattdessen sah er sich in der Küche um. „Das sieht ja richtig gemütlich aus hier.“
Ich wurde zu meinem Ärger rot. „Ich dachte, ich …“
Er machte eine abwehrende Handbewegung. „Hören Sie auf, sich ständig zu rechtfertigen. Es ist in Ordnung so!“
Tut mir leid, wollte ich sagen, aber ich schluckte es gerade noch hinunter.
„Wie passt die neue Brille?“
„Oh, ganz wunderbar, vielen Dank!“ Ich schluckte und atmete tief durch. „Aber ich kann sie keinesfalls als Geschenk annehmen, das geht einfach nicht. Ich werde sie ratenweise von meinem Gehalt abbezahlen.“
Er hob den Kopf und sah mich an. Tapfer hielt ich seinem Blick stand. Seine Augen hatten die Farbe von Bitterschokolade. Ein im Moment völlig unpassender Gedanke.
Wir fochten einen stummen Kampf aus. Den ich zu meinem Erstaunen gewann. Er strich sein Haar zurück. „Also gut, Sie schottischer Sturkopf. Ich bin einfach nicht in der Verfassung, mit Ihnen zu streiten. Machen wir halbe-halbe?“
Ich überlegte kurz. „Ja, das kann ich annehmen.“
Er trank das Glas leer, schenkte sich noch einmal ein. Es sah nicht so aus, als würde ich ihn so schnell los. Was wollte er noch? Sein Herz ausschütten? Dafür war ich eigentlich nicht zuständig. Oder doch? In der Jobbeschreibung hatte nichts von seelischer Unterstützung eines nach zu viel Alkoholgenuss Gestrandeten gestanden.
„Möchten Sie wirklich nichts zu essen, Sir?“
Er schüttelte den Kopf. „Was wissen Sie über Macbeth?“, fragte er so unvermittelt, dass ich zusammenzuckte.
„Macbeth? Sie meinen den schottischen König? Geboren 1005, verstorben am 15. August 1057. König war er von 14. August 1040 bis zu seinem Tod, wenn ich mich recht erinnere. Oder meinen Sie das Drama von William Shakespeare?“
„Wow!“ Er starrte mich so verblüfft an, dass ich lachen musste. Dann wurde ich wieder rot. „Geschichte war in der Schule eines meiner Lieblingsfächer.“
„Wissen Sie, was Susan auf meine Frage geantwortet hat?“ Er grinste. „Sie dachte, das wäre eine neue Fastfood-Kette.“
„Mir scheint, die Qualitäten von Miss Susan liegen eindeutig woanders“, sagte ich trocken.
Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich kann mich nicht besonders gut erinnern.“
„Wozu das dann?“ Es war mir herausgerutscht. Eigentlich ging mich das nichts an.
Er runzelte die Stirn. „Ich weiß auch nicht. Früher hat es mehr Spaß gemacht. Aber jetzt … Ich fürchte, die Frau, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen will, existiert nicht.“
„Vielleicht suchen Sie einfach in den falschen Kreisen“, meinte ich vorsichtig, erstaunt über sein Mitteilungsbedürfnis. Er kannte mich ja gar nicht. Aber vielleicht war es genau das, was er brauchte. Jemanden, der ihm einfach nur zuhörte und nicht mit ihm kokettierte und ihn ins Bett bekommen wollte.
„Ja, mag sein. Egal.“ Er stand auf. „Ich möchte Sie nicht länger aufhalten, Sie haben bestimmt zu tun.“
„Schon gut.“ Seltsamerweise fühlte ich leichte Enttäuschung. Ich hätte mich doch gerne noch länger mit ihm unterhalten.
„Welche Pläne haben Sie heute noch, Sir?“
„Nichts Bestimmtes, bin zu müde. Am Abend werde ich nicht hier sein. Essen mit Susan, fürchte ich“, sagte er knapp. „Das Wochenende werde ich bei meinem Bruder auf der Isle of Mull verbringen. Sie können sich freinehmen.“ Er gähnte. „Vielleicht sollte ich mich noch ein wenig hinlegen, ich habe wirklich auf gar nichts Lust.“
Ich gab Henry einen Wink. Der sauste aus der Küche, kam gleich darauf mit der Hundeleine im Maul zurück.
Michael Campbell sah mich erstaunt an. „Ihr beide habt euch wohl gegen mich verbündet?“
Meine Mundwinkel zuckten, ich konnte nichts dagegen tun. „Im Gegenteil. So etwas nennt man Win-Win-Situation. Der Hund braucht Auslauf und frische Luft, genau wie Sie. Das Wetter ist schön, also gibt es keine Ausreden!“
Er lachte. „Na dann komm, alter Knabe. Ich sehe schon, Miss Duncan wickelt uns beide noch um ihren kleinen Finger!“
Er ging, gefolgt von einem schwanzwedelnden Henry.
Ich blieb noch einen Moment stehen, starrte ins Leere. Michael Campbell war nett. Viel zu nett.