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Kapitel 2
ОглавлениеLondon, November 2017
Seit Jahren quälte mich ein immer wieder kehrender Albtraum: Ich stand bei Harrods in einer endlosen Schlange an der Kassa und wollte bezahlen. Ich machte meine Geldbörse auf, doch sie war leer. Kein Geld, keine Kreditkarte, nichts. Ich stand wie festgewachsen, wusste nicht, was ich sagen sollte, wäre am liebsten unter den bohrenden Blicken der Kassiererin im Boden versunken. Dann kam ein Mann – vermutlich der Kaufhausdetektiv. Er bat mich, meine Tasche zu öffnen. Ich wollte es nicht tun, aber er nahm sie mir einfach ab und leerte den Inhalt auf den Tresen. Eine heiße Welle lief durch mich, als ich sah, was zum Vorschein kam: Schmuck, Uhren oder auch Dessous. Ich wusste nicht, wie das alles in meine Tasche gekommen war, wollte es erklären, konnte nicht. Diebin! schrie er. Diebin! Polizei!
An dieser Stelle wachte ich immer auf.
Vielleicht wollte ich deshalb nie zu Harrods oder in eines dieser großen Kaufhäuser. Aber jetzt war ich da, stand in der Dessousabteilung und fühlte mich wie erschlagen von der überbordenden Menge an schimmerndem Stoff und Spitze in allen Farben. Maggie hatte auf meiner Begleitung bestanden. Es war ein Fehler, dass ich ihr von meinem Traum erzählt hatte. „Du solltest dich deinen dummen Ängsten stellen, Häschen“, kommentierte sie nur spöttisch.
Seit zwei Uhr nachmittags waren wir unterwegs in diesem Tempel der Kauflust, der überquoll vor Weihnachtsdekoration und suchten Abteilung für Abteilung auf. Maggie durchstöberte voller Unrast Kleider, Schuhe, Taschen, Parfüms und Schmuck, als suche sie nach etwas, was doch nicht zu finden war. Wie nebenbei erstand sie ein Abendkleid von Dior um einen Preis, der mir die Schweißperlen auf die Stirn trieb, dazu passende goldfarbene Sandalen mit schwindelerregenden Absätzen und eine Clutch. Nicht zu reden von den diversen anderen Schnäppchen und Kleinigkeiten.
Ich durfte einen kurzen Blick in die Food Hall werfen, mit all den ausgestellten Köstlichkeiten, deren Preise mich ebenfalls beinahe laut aufstöhnen ließen. Maggie interessierte das weniger. Sie achtete meist eisern auf ihre Figur und hatte kaum etwas übrig für lukullische Genüsse, außer sie standen zum Essen bereit vor ihr auf dem Tisch. Für mich als gelernte Köchin hätte die Hall allerdings einiges an Inspiration geboten. Ich schlug ihr vor, mich von ihr zu trennen, aber davon wollte sie nichts wissen.
„Nicht, dass du dann die Zeit vergisst und mich warten lässt“, meinte sie spitz. Also fügte ich mich und trottete folgsam weiter hinter ihr her, immer mit dem Gefühl, völlig fehl am Platz zu sein.
Der Anblick des Schreins für Lady Diana und Dodi Al-Fayed jagte einen leichten Schauer über meinen Rücken, aber auch davon nahm Maggie keine Notiz. Im Gegensatz zu mir hatte sie ihn bestimmt schon so oft gesehen, dass sie kein Interesse mehr daran hatte.
Mittlerweile war es vier Uhr nachmittags und ich zeigte leichte Erschöpfungserscheinungen. Ich hätte Lust auf eine Tasse Tee und eine Kleinigkeit zu essen gehabt, aber Maggie schien davon nichts wissen zu wollen. Und jetzt waren wir zu guter Letzt in der Dessous-Abteilung gelandet. Ich wischte unauffällig die schweißnassen Hände an meiner Jeans ab, während sie mit Kennerblick die unzähligen Ständer musterte, das eine oder andere Stück hochnahm und einer eingehenden Prüfung unterzog. Sie hielt einen Body an ihren perfekten Körper, ein hauchfeines Nichts aus schwarzer Spitze.
„Der sieht gut aus“, sagte ich.
Mit einem verächtlichen Lächeln legte sie ihn weg. „Viel zu billig.“
Ich seufzte innerlich. Maggies Geschmack war exklusiv geworden, das hatte ich schon während unseres Einkaufsbummels bemerkt. Ich hatte aufgehört, zu addieren, was sie an diesem Nachmittag bereits ausgegeben hatte. Hatte sie mich deshalb mitgenommen? Um vor mir zu prahlen? Ich war mir nicht sicher. Es mochte auch sein, dass sie ihre schlechte Laune mit einem Einkaufsbummel kompensieren wollte. Es schien nicht zu wirken. Sie war noch immer mies drauf. Ich hatte keine Ahnung, warum und wollte es auch nicht wissen. Sie hätte es mir ohnehin nicht gesagt.
Ich beobachtete sie, während sie durch die Abteilung schritt wie eine Königin. Mit einer einstudiert wirkenden, eleganten Bewegung warf sie ihr langes, schwarzes Haar zurück, das geglättet über ihren Rücken fiel. Sie hatte sich nicht nur äußerlich komplett verändert. Ihr Blick glitt gelangweilt über die exquisiten Dessous. Das hier ist eigentlich unter meiner Würde, sagte ihr Gesichtsausdruck. Aber ich will meiner kleinen, armseligen Schwester ein bisschen Abwechslung bieten. Prompt streifte mich ihr Blick und ich bemühte mich, schnell wegzusehen und so zu tun, als würde mich das alles brennend interessieren. In Wirklichkeit wollte ich einfach nur nach Hause. Meine Füße und mein Kopf taten weh und immer wieder wallte Panik in mir auf. Ich schob meine Brille hoch und umklammerte krampfhaft die Handtasche, ließ sie keinen Moment los. Es hätte ja sein können, dass ich unbewusst etwas einsteckte und ich wollte weder Maggie noch mich blamieren. Vor allem nicht meine große Schwester. Schließlich musste ich ihr dankbar sein, dass sie mich aufgenommen hatte, nachdem ich wieder einmal versagt hatte und am Ende war.
Ich atmete tief durch und versuchte, das wilde Klopfen meines Herzens zu ignorieren. Ich musste mir ein Geburtstagsgeschenk aussuchen, sie hatte in einem Anfall von Großzügigkeit darauf bestanden. Pflichtbewusst sah ich mich um. Eigentlich brauchte ich keine aufregenden Dessous – wozu auch? Aber vielleicht fand ich ja eine Kleinigkeit, die mir Maggie gnädig schenken konnte. Ich wollte ihr keine unnötigen Ausgaben bescheren.
Mein Blick fiel auf ein Regal mit BHs und Höschen. Schimmernder Satin in allen Farben, jedes Teil trug einen Buchstaben in Glitzersteinen. Schlicht und doch elegant. Ich suchte nach einem C für Claudia und fand es auf einem weißen Set. Ich schielte nach dem Preis. 34 Pfund! Nun ja, für meine Schwester wäre das eine Kleinigkeit.
„Maggie? Sieh doch mal, das gefällt mir!“
Meine Schwester drehte sich mit einem Ruck um und packte meinen Arm. Ihre langen Nägel bohrten sich durch den Stoff der Bluse in meine Haut. „Halt die Klappe, du dumme Kuh!“, zischte sie. „Nicht diesen Namen, kannst du dir das nicht endlich merken?“
„Entschuldige bitte – Eileen“, flüsterte ich kleinlaut. Sie hatte recht. Ich war dumm. Zu blöd, um mir zu merken, dass sie nicht mehr Maggie hieß, sondern Eileen. Eileen LaSalle. Margaret „Maggie“ Duncan existierte nicht mehr. Sie hatte ihre Kindheit und Jugend in Callander hinter sich gelassen und war in die mondäne Modewelt Londons eingetaucht, um eine glänzende Karriere als Model zu machen.
Sie ließ mich los und ich rieb meinen schmerzenden Arm. „Das gefällt dir?“ Sie schnaubte verächtlich. „Das passt doch nicht zu dir. Strasssteine und ein Stringtanga?“
Jetzt erst sah ich es. Aber inzwischen war mein Widerspruchsgeist erwacht. „Doch. Es gefällt mir. Oder sind 34 Pfund zu viel?“ Ängstlich sah ich sie an.
Eileen lächelte. In ihren tiefblauen Augen lag ein boshaftes Glitzern. „Wenn du nur den BH willst?“
Sie hob den Tanga mit ihrem Zeigefinger an. „Der kostet noch mal sechzehn Pfund.“
„Oh. Dann … dann ist das sicher zu teuer.“ Fünfzig Pfund für die zwei Teilchen Stoff! Ich versuchte, die Enttäuschung hinunterzuschlucken, aber es gelang mir nicht. „Ich … ich wollte nicht …“
„Dummerchen.“ Eileen setzte eine gönnerhafte Miene auf. „Wenn du unbedingt willst, kaufe ich dir das Set. Obwohl du es wahrscheinlich niemals tragen wirst.“
Ich schluckte. Sie hatte wieder recht. Aber jetzt konnte ich nicht mehr zurück. „Es macht dir wirklich nichts aus? Ich meine …“
Sie winkte nachlässig mit der Hand. „Aber natürlich nicht, Schwesterchen. Du solltest vielleicht den BH anprobieren, oder?“
Sie sah sich bereits nach einer Verkäuferin um und winkte herrisch, als sie eine entdeckte. Die Frau kam dienstbeflissen auf uns zu. Ihre Blicke huschten zwischen Eileen und mir hin und her und wie so oft, nahm ich Verwunderung wahr. Kein Wunder, boten wir doch einen so auffälligen Kontrast. Eileen in ihren Designerkleidern, mit High Heels eins fünfundachtzig groß, perfekt zurechtgemacht und ihre kleine Schwester Claudia in abgetragenen Jeans aus dem Discounter und flachen, robusten Schuhen, ungeschminkt, mit Brille. Mein Haar war nachgedunkelt, hatte das Babyblond verloren, aber ich trug es noch immer zu einem Pferdeschwanz gebunden.
Auf jemanden, der uns nicht kannte, musste es den Eindruck machen, als wäre die mondäne Dame mit ihrem Dienstmädchen unterwegs. Genau das, was Eileen vermitteln wollte.
Die Verkäuferin maß abschätzig meine verwaschene Bluse. „Für Sie? Größe 34 müsste passen.“
Ich zuckte mit den Schultern. Ich trug normalerweise bequeme Tops und keine BHs, wusste also nicht, welche Größe ich hier brauchte.
In der Umkleidekabine stellte ich fest, dass der BH wie angegossen passte. Ich konnte natürlich nicht die Kurven Eileens aufweisen, aber die hatte ohnehin nachgeholfen. Im Gegensatz zu ihr hatte ich allerdings auch nicht vor, so viel in meinen Körper zu investieren. Nun, für sie hatte es sich offensichtlich gelohnt. Sie war mittlerweile ein gut gebuchtes Model, während ich …
Hastig zog ich mich um, ich durfte Eileen nicht zu lange warten lassen. Als ich aus der Kabine kam, merkte ich auch gleich, dass ich ihre Geduld lange genug strapaziert hatte.
„Passt er? Dann komm endlich, ich habe auch noch etwas anderes vor.“ Mit eisiger Miene rauschte sie davon. Die Verkäuferin packte meine Unterwäsche in ein durchsichtiges, goldfarbenes Stoffsäckchen. „Ich werde es für Sie zur Kassa bringen.“ Ich nickte der Frau mit einem verkrampften Lächeln zu und beeilte mich, meiner Schwester zu folgen.
„Vielen Dank“, meinte ich, als ich zu ihr aufschloss.
„Schon gut.“ Ihr flüchtiges Lächeln verwandelte sich in eine Mischung aus Ärger und Panik. Aber ihre Aufmerksamkeit galt nicht mir, sondern einem unscheinbaren schlanken Mann in Begleitung einer wunderschönen Blondine mit langen Locken, die einen halben Kopf größer als er war.
„Verdammt!“ Eileen drehte sich zu mir um, schnappte meinen Arm und zog mich hinter ein Regal. Ich war zu überrascht, um zu protestieren. „Das sind Cameron und Helen“, zischte sie. „Nicht auszudenken, wenn die mich hier mit dir …“
Ich machte mich los. „Du könntest ja sagen, du hättest großzügiger weise deine Haushälterin zu einem Einkaufsbummel eingeladen. Das wäre nicht einmal gelogen.“
Es stimmte wirklich. Seit ich vor einem Monat nach London gekommen war, durfte ich die Hausarbeit für Eileen erledigen und in ihrer Abstellkammer wohnen. Natürlich zahlte ich keine Miete. Ich öffnete den Mund, um meine Bemerkung abzuschwächen, aber es war bereits zu spät.
Eileens Augen funkelten kalt. „Was soll das? Du solltest dankbar dafür sein, dass ich so großzügig zu dir bin. Ich hätte dich auch auf der Straße stehen lassen können, nicht wahr?“
Ich schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter. „Tut mir leid. Ich habe es nicht so gemeint. Es war nur Spaß.“
„Humor ist nicht gerade deine Stärke, also lass das“, sagte Eileen bissig. „Vielleicht war ich tatsächlich zu großzügig zu dir. Du solltest dir endlich eine Stellung suchen, damit du mir nicht mehr auf der Tasche liegst.“
„Klar. Ich bin ja dabei.“
„Das sagst du schon, seit du bei mir angekrochen bist. Kannst du dir nicht vorstellen, dass ich mich für dich schäme? Und jetzt komm.“ Sie packte wieder meinen Arm und ich unterdrückte einen Aufschrei. Das Paar war nicht mehr zu sehen, trotzdem zog mich Eileen hinter sich her wie ein ungezogenes Kind, das bei einem unerlaubten Ausflug ertappt worden war.
„Mir ist die Lust aufs Einkaufen vergangen“, schnaubte sie.
Mir auch, wollte ich sagen, aber ich schluckte die Bemerkung hinunter. Ich wollte sie nicht noch mehr reizen, denn dann würde ich es zu Hause büßen müssen.
Zu Hause. Das stimmte eigentlich nicht. Ich hatte keines, schon eine Weile nicht mehr. Ich war eine Versagerin, brachte nichts auf die Reihe.
Auch Eileen hatte ihre Einkäufe bei der Kassa hinterlegen lassen und als wir in der Schlange standen, durchsuchte ich heimlich meine Tasche. Nein, da war nichts, was nicht mir gehörte. Trotzdem brach mir der kalte Schweiß aus, als wir näher rückten. Eileen trommelte mit den Fingern auf ihren Unterarm. Sie hasste es, anstehen zu müssen, aber aus einem anderen Grund. Sie war mittlerweile daran gewöhnt, bevorzugt behandelt zu werden.
Als sie bezahlte, stockte mir kurz der Atem. Für diesen Betrag hatte ich kurz zuvor noch beinahe ein Jahr lang arbeiten müssen. Sie holte ihre Kreditkarte heraus, ohne mit der Wimper zu zucken. Bevor ich die unzähligen Taschen und Tüten in Empfang nahm, schob ich noch hastig das Päckchen mit der Unterwäsche in meine Handtasche. Ich würde sie bestimmt nicht tragen, das wusste ich schon jetzt. Ein jämmerlicher kleiner Sieg, der mich nicht mit Stolz erfüllte. Wieder einmal wurde mir bewusst, welch tiefe Kluft uns trennte.
„Nun komm endlich.“ Eileen wartete bereits ungeduldig beim Ausgang, während ich mich bemühte, keine der Tüten zu verlieren. Sie hatte schon ein Taxi gerufen. Ich verstaute ihre Einkäufe im Wagen und hatte plötzlich überhaupt keine Lust mehr auf ihre miese Laune und ihren Kommandoton.
„Ich gehe noch ein wenig spazieren“, sagte ich, aus einem Impuls heraus. Sie zog die Brauen hoch und warf mir einen vernichtenden Blick zu. „Und wer trägt mir dann die Einkäufe hoch?“
Ich lächelte. „Vielleicht hilft dir der Taxifahrer? Du kannst ihn bestimmt mit deinem Charme dazu bringen.“
Eileen sah mich scharf an, aber ich bemühte mich, eine harmlose Miene zu machen. Sie warf ihren Kopf zurück, schüttelte ihre Mähne und bedachte den Fahrer mit einem verführerischen Lächeln. „Sie sind doch so gut, nicht wahr?“
Der Mann – ein gemütlicher Typ mit Bierbauch und Glatze, geschätzte Fünfzig plus – ging sofort auf ihren zuckersüßen Ton ein. „Aber natürlich, Miss. Kein Problem.“
Ich wandte mich ab, wusste nicht, ob ich wütend, erleichtert oder einfach nur angeekelt sein sollte. Aber eines war sicher – ich musste von Eileen loskommen, je eher, desto besser. Sie war drauf und dran, meine mühsam erkämpfte Unabhängigkeit und meinen ohnehin nur schwach ausgeprägten Selbstwert aufs Neue zu zerstören. Nur – wie sollte ich das schaffen? Ohne Geld, ohne Job, ohne Wohnung, mit einer Vergangenheit, die mir schon mehr als einmal zum Verhängnis geworden war?