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Rabiater Rock
Puh! Als Pasiel sich zur Camden High Street vorgekämpft hatte, musste er sich erst einmal gegen eine Hauswand lehnen und den Tornado seiner Gedanken zur Ruhe bringen. Von wegen: Eddie, ein junger, gläubiger Arzt, der einen Harfenspieler suchte! Die Briten hatten mit ihrem Kandidaten genauso getrickst wie Michael und Gabriel mit dem deutschen. Eine Anstellung im Tätowierladen als „medical business“ zu bezeichnen, war schon fast eine Unverschämtheit.
Außerdem war ihm völlig unverständlich, wieso auf dem Zettel gestanden hatte, dass Edwina gläubig sei. „Believes in heaven“, murmelte er vor sich hin und schüttelte den Kopf. Davon war nun wirklich nichts zu spüren gewesen. Von einer braven Kirchgängerin war sie so weit entfernt wie Strawinsky von Vivaldi. Auch die Sache mit der Harfe blieb ihm ein Rätsel. Dass Orgel ganz offensichtlich ein Begriff für ein modernes Tasteninstrument war, das man in kleinen Ensembles spielte, war ihm inzwischen klar. Aber wie passte eine Harfe in diese sogenannte „Band“ von Edwina? Bei der Art von Musik, die sie ihm auf diesem modernen Grammophon vorgespielt hatte, würden zarte Harfenklänge sicherlich untergehen.
In Gedanken versunken schlenderte Pasiel die winterliche Chalk Farm Road entlang. Auf der rechten Seite gab es eine Menge Cafés und Läden, auch Flohmarktbuden waren aufgestellt. Manche davon verkauften Mode, wie er sie noch gesehen hatte. Andere boten Dinge feil, die ihm völlig fremd waren. Zu seiner Zeit hatte sich kein stilbewusster Käufer hierher verirrt. Soweit er sich erinnerte, waren nur die Dienstboten in diesen Teil der Stadt gekommen, um Obst oder Gemüse zu kaufen. Allerdings hatten sich seine Besuche in London nie über längere Monate erstreckt, außerdem war er stets vollauf mit seiner geschäftlichen Mission ausgelastet gewesen.
Doch natürlich hatte sich in den letzten hundert Jahren nicht nur London selbst massiv verändert, sondern auch die Menschen, die hier lebten. Von Handys hatte er im Irdischen Bulletin natürlich ein paar oberflächliche Dinge gelesen, aber dass so viele Spaziergänger diesen Apparat in der Hand hatten und nicht damit telefonierten, sondern mit dem Finger darüber glitten, verwunderte ihn nun doch. Männer trugen bunte Hosen und manche hatten ihre Augen geschminkt, als wollten sie in einem Varietétheater auftreten. Frauen trugen trotz der Kälte kurze Röcke über dicken Strumpfhosen und stellten ihre Beine zur Schau.
Apropos Frauen: Er hatte durch einige Schaufenster geschielt. Sie schnitten Haare, verkauften Motorräder, schleppten Kästen mit Bierflaschen. Oder tätowierten halbnackte Männer. Pasiel war sich nicht einmal sicher, ob dieser Rocco tatsächlich ein Matrose gewesen war.
Er seufzte tief. Sein Auftrag war bei Weitem nicht so einfach, wie er sich das vorgestellt hatte. Trotzdem würde er sich der Herausforderung stellen. Er war hier, um als Held nach oben aufzufahren, und genau das würde er tun. Entschlossen schritt er voran. All denen im Himmel, die ihn nicht ernst nahmen, würde er beweisen, dass er kein mozartumwehter Weichling war.
Zuallererst musste er sich mit der modernen Musik vertraut machen. Pasiel sah sich um. Auf der anderen Straßenseite waren auf den Gebäuden, die wie alte Markthallen wirkten, Reklameschilder angebracht worden. Dahinter versteckte sich ganz offenkundig eine Art Kaufhaus. Mit Abigail, seiner Gattin, war Pasiel damals mehrere Male im Liberty gewesen, dem großen Department Store an der Regent Street. Das wunderschöne Fachwerkhaus hatte jedoch völlig anders ausgesehen als dieses schmucklose Gebäude, das als Einkaufsparadies angepriesen wurde.
Da eines der Schilder eine Schallplatte als Firmenzeichen hatte, beschloss Pasiel, sich die Läden näher anzusehen. Als er das Gebäude betrat, wurde er von Lärm und dem Geruch gegrillter Zwiebeln empfangen. Dann sah er etwas, das ihn sehr entzückte. Eine Treppe, die sich bewegte! Ihm fiel ein, dass diese großartige Erfindung im Jahr 1900 auf der Weltausstellung in Paris vorgestellt worden war. Damals war er gerade erst zwanzig Jahre alt gewesen und seine Eltern hatten ihn leider nicht nach Frankreich reisen lassen, weil er im Unternehmen gebraucht worden war.
Er ging ein paar Schritte zur Seite und beobachtete einige Minuten lang, wie dieses Wunderwerk der Technik funktionierte. Danach wollte er es unbedingt selbst ausprobieren. Vorsichtig trat er auf die Stufe, hielt sich am Handlauf fest und schon trug ihn die fahrbare Treppe nach oben. Es war großartig! Pasiel fuhr auf der anderen Seite gleich wieder hinunter und anschließend ein weiteres Mal hinauf. Auch wenn die Musik im 21. Jahrhundert gänzlich grausam war, ein paar vorzügliche Errungenschaften hatte die Neuzeit offensichtlich mit sich gebracht. Nach der dritten Runde auf den rollenden Treppen machte er sich endlich auf den Weg in Richtung Plattengeschäft.
Ein junger Kerl mit völlig verfilzten Haaren kam auf ihn zu, kaum dass er den Laden betreten hatte. Erst wollte Pasiel auf Abstand gehen, denn solche Leute hatten früher auch Flöhe und Läuse mit sich herumgetragen. Aber dann fiel ihm ein, dass das vielleicht nur eine moderne Haartracht war.
„Hi, was suchst du?“, fragte der Verkäufer.
Pasiel entschied sich, bei der Wahrheit zu bleiben. „Ich bin Organist und kenne nur die großen Meister. Nun will es aber das Schicksal, dass ich in einem Ensemble spiele, das neuere Musik zum Besten gibt. Ich würde gerne einigen Stücken lauschen, bei denen eine Hammond-Orgel zum Einsatz kommt. Die Sängerin sagte etwas von …“ Er überlegte einen Augenblick. „… Türen und was mit Lila. Kann das sein?“
Der Zottelige lachte. „Du meinst die Doors und Deep Purple. Komm mit, ich leg dir da ein paar Sachen auf.“
Er marschierte zu einem Tresen, auf dem ein Kopfhörer lag. Die Anlage daneben hatte nur einen schmalen Schlitz. In diesen schob der Verkäufer unter Pasiels aufmerksamen Blicken eine silbern glänzende Scheibe. Ein paar Sekunden später kamen schon die ersten Töne aus dem Kopfhörer, den er sich aufgesetzt hatte. Erneut zuckte Pasiel zusammen, als das Lied richtig anfing. Es war ein anderes als das, das Edwina ihm vorgespielt hatte, aber die Gitarre gab ebenso metallische Schmerzenslaute von sich und selbst der Kontrabass klang so, als hätte ihn die Elektrizität größenwahnsinnig gemacht.
Der Verkäufer widmete sich einer anderen Kundin und ließ ihn allein. Andächtig lauschte Pasiel, studierte die kleine Hülle, in der die Scheibe gewesen war, und steckte vorsichtig eine andere in den Schlitz. Die Bedienung bereitete ihm keine größeren Schwierigkeiten, denn er war in eine Unternehmerfamilie hineingeboren worden und hatte von klein auf mit Maschinen zu tun gehabt. Die Firma seiner Eltern hatte Gläser in allen möglichen Variationen produziert, der Verkaufsschlager waren jedoch Einweckgläser gewesen. Die Idee, Obst und Gemüse durch Einkochen haltbar zu machen, hatte bei den damaligen Kunden so viel Anklang gefunden, dass das Unternehmen kaum mit der Produktion nachgekommen war. Man hatte nach Expansion geschielt und schließlich beschlossen, in England eine Niederlassung zu gründen. Passenderweise hatte man ihn dann auch gleich mit einer Angehörigen des Dunlop-Imperiums verheiratet, sodass die Firma günstig an Gummidichtungen für die Einmachgläser gekommen war. Ob heute noch irgendjemand seine Pflaumen und Gürkchen einwecken würde? Pasiel bezweifelte das. Die Menschen aßen im Gehen aus Pappkartons oder steckten sich runde Sandwichbrötchen in den Mund, die seltsam einförmig anmuteten. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sich im modernen England irgendjemand die Mühe machte, Obst einzukochen.
Allerdings fand er diese kleinen Silberscheiben, auf die so viele Lieder passten, sehr aufregend. Er fragte den Verkäufer ein paar Löcher in den Bauch, weil er sich auch die nächsten Tage eingehend mit der dröhnenden Musik, die neuerdings modern war, beschäftigen wollte.
„Ich habe zwei Compilations mit berühmten Hammond-Songs“, erklärte der Verkäufer und legte ihm die eingeschweißten Hüllen vor. „Die kannst du dir auf einen MP3-Player packen und unterwegs anhören.“
Pasiel hatte keine Ahnung, wovon der Mann sprach. „Was ist das?“, fragte er.
Der Verkäufer sah ihn verwundert an. „Du bist ja wirklich total Old School, oder?“, wollte er wissen.
Als Pasiel nur die Schultern zuckte, weil er nicht verstand, was sein humanistisches Gymnasium mit den Silberscheiben zu tun haben sollte, streckte der junge Mann mit den Filzhaaren plötzlich einen Finger in die Luft. „Ich hab‘ eine Idee!“, rief er und verschwand. Nach einiger Zeit kam er zurück, ein stolzes Lächeln im Gesicht und ein kleines Paket unter dem Arm.
„Da du offenbar weder Smart-Phone noch iPod besitzt, ist mir was eingefallen. Wir haben im Lager schon ewig einen uralten Discman herumliegen.“
„Discman?“
„Schau“, er packte den Apparat aus und legte eine der Silberscheiben ein. „Den kannst du überall mitnehmen und dabei CDs anhören.“
Das war vorzüglich! So konnte Pasiel vor Edwinas Laden patrouillieren und dabei ihre Musik studieren. Er strahlte den Verkäufer an und kaufte den tragbaren Musikabspielautomaten. So gerüstet konnte bei der Bandprobe sicher nichts mehr schief gehen, wenngleich dieser rabiate Rock nichts war, was seine zarten Musikergehörgänge erfreute.