Читать книгу Himmlische Winterküsse - Karin Koenicke - Страница 16

Harmonische Hammond

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Wow! Es lief viel besser, als sie erwartet hatte. Während des Gitarren-Intros, das die letzte Nummer einleitete, warf Edwina einen Seitenblick auf Paul. Er saß an seiner Hammond, als hätte er nie etwas anderes gemacht, wippte den Takt mit dem Fuß mit und legte die Finger erwartungsvoll auf die Tasten. Die obersten Knöpfe seines etwas altmodischen Hemdes hatte er inzwischen geöffnet, und weil er sich im Eifer des Gefechts mehrmals durch die Haare gefahren war, war seine Frisur leicht verstrubbelt. Beides stand ihm sehr gut.

Edwina hatte ordentlich Bauchgrummeln gehabt, als sie mit Paul hier angerückt war. Ganz sauber war er ihr nicht vorgekommen mit seiner umständlichen Sprache und den vorsintflutlichen Musikkenntnissen. Leicht hätte das Ganze in einem Fiasko enden können, aber Paul schlug sich wirklich tapfer. Selbst die Nummern, die Kenny geschrieben hatte, bekam er gut hin.

Sie ging zum Mikro und sang die erste Zeile von Sweet Child o’Mine, das die Band als hammerharte Rock-Nummer mit ein paar Punk-Ansätzen spielte. Edwina trieb ihre Stimme zum Äußersten, sie wollte den Song richtig dreckig singen, so wie es sich gehörte für das letzte Stück auf einem Gig. Sie röhrte, grölte, schrie sich heiser, bis ihr Hals kratzte. Das Publikum flippte völlig aus, alle hüpften, tanzten, sangen aus voller Kehle mit.

Als Kenny den Song mit einem schrillen Riff beendete, kannte die Begeisterung der Zuschauer keine Grenzen mehr. Edwina genoss den immer wieder überwältigenden Kick, vom Publikum bejubelt und gefeiert zu werden. Sie legte einen Arm um Brian und den anderen um Kenny, um sich zu verbeugen. Paul stand etwas schüchtern daneben, aber er würde schon noch lernen auf der Bühne etwas extrovertierter zu sein. Sie war völlig erledigt nach dem Auftritt und gleichzeitig aufgedreht, weil das Adrenalin durch ihren Körper peitschte. Noch einmal verbeugten sich alle und nahmen den Applaus entgegen. Edwina war erleichtert, dass das Publikum so aus dem Häuschen war, aber zum vollkommenen Glück fehlte noch etwas Wichtiges. Suchend blickte sie in den Publikumsraum, der sich langsam zu leeren begann.

Brian und Kenny gingen nach draußen, um eine zu rauchen. Sie blieb zurück, trank einen Schluck aus ihrer Wasserflasche und starrte weiter in die Menge hinein. Zeige- und Mittelfinger der freien Hand hatte sie verschränkt. Bitte, bitte, er musste heute kommen! Ihre Augen suchten nach einer einzelnen Person, die sich aus dem Zuschauerpulk lösen und nach vorne kommen würde. Auf sie zu. Um ihren Traum in Erfüllung gehen zu lassen.

Aber er kam nicht. Niemand kam. Die Zuschauer machten sich allmählich auf den Weg nach draußen und würden den heutigen Gig schon bald vergessen haben.

„Wartest du auf jemanden?“ Das war Pauls weiche Stimme. Er stand etwas unbeholfen am Rand der Bühne und sah sie an.

„Ach“, sie wandte sich schließlich vom Zuschauerraum ab, der nun fast völlig leer war. „Er wird sowieso nicht kommen. Es ist Blödsinn, nach ihm Ausschau zu halten.“

„Ein Freund von dir?“

Sie schüttelte den Kopf und begann, die Füße des Mikroständers einzuklappen. „Corey Carpenter. Ich habe ihm eine Demo-CD und einen Terminplan mit unseren Gigs geschickt. Nun hoffe ich eben bei jedem Auftritt, dass er danach zu uns kommt, weil er uns gut findet. Naiv, oder?“

Sie kam sich wirklich kindisch vor, ihm das zu erzählen. Wie ein kleines Mädchen, das seinen Traumprinzen herbeisehnt. Dabei war das einfach nur irreal.

Und doch - Edwina wollte raus aus den muffigen Fabrikhallen und den Hinterhofkneipen, in denen man Heaven’s Nightmare auftreten ließ. Die Band spielte zwar einige Coversongs, weil die beim Publikum gut ankamen, hatte aber auch jede Menge Eigenes im Programm und bot eine Vielzahl an frischen Ideen. Edwina spürte, dass sie Potential hatten. Irgendetwas tief in ihr flüsterte ihr schon lange zu, dass auch sie den ganz großen Durchbruch schaffen konnte. Corey Carpenter war ihre Riesenchance, berühmt zu werden. Edwina wollte in großen Arenen auftreten, die CDs der Band sollten in jedem Plattenladen zu finden sein! Für dieses Ziel würde sie alles tun.

„Den sollte ich wahrscheinlich kennen, oder?“ Paul hatte ein entschuldigendes Lächeln im Gesicht.

Sie rollte das Mikrofonkabel zusammen. „Oh Mann, du lebst echt hinterm Mond. Corey ist der bekannteste Produzent hier in London. Ein Gott! Er hat ein riesiges Studio und noch riesigere Kontakte. Wenn er eine Band pusht, geht das erste Album garantiert ganz nach oben in den Charts.“

„Verstehe.“

Edwina legte das Kabel und den Mikroständer in eine Kiste. „Du hast also bisher nur richtige Klassik gespielt? Mozart und solchen Kram?“

„So ist es. Nur solchen Kram.“ Als sie die Kiste hochheben wollte, war er blitzschnell an ihrer Seite. „Gib mir das, ich trage es nach hinten.“

„Ich kann das selbst. Oder hältst du mich für ein kleines, unselbständiges Mädchen?“

„Ganz sicher nicht!“ Seine Antwort kam so schnell, dass sie lachen musste. Er war auf altmodische Art niedlich. Sie kaufte ihm tatsächlich ab, dass er ihr die Kiste nicht abnehmen wollte, um sich bei ihr einzuschleimen, sondern aus echter Höflichkeit. Vielleicht sollte sie nach Deutschland ziehen, da ging man mit Frauen offenbar anders um. Dafür wirkten die Männer dort wie aus einer anderen Welt, was sie auch wieder seltsam fand.

Aber so schüchtern sich Paul auch sonst zeigte – wenn er an der Orgel loslegte, war das verdammt gut. Ein paar Mal hatte es zwar ordentlich im Ohr geknirscht, weil er nicht mal die Superhits kannte und bei den Akkorden danebengegriffen hatte, aber mit seinem Retro-Style brachte er frischen Wind in die Band. Das gefiel Edwina. Und sein Lächeln auch, es hatte eine Wärme, die ihr hier in der kalten Großstadt selten begegnet war.

„Guter Job, Mann“, lobte auch Brian, der gerade zurückkam, das neue Bandmitglied und begann, sein Drumset auseinander zu schrauben.

Kenny brachte so etwas natürlich nicht über die Lippen, war ja klar. Er verstaute seine Gitarre im Case und steckte den Verstärker ab. Das Ding hatte heute Abend zum Glück durchgehalten, aber neulich in der Probe einige Aussetzer gehabt. Es war uralt und bald musste sich die Band einen neuen Verstärker leisten, wenn sie nicht mitten im Gig ohne Gitarrensound dastehen wollten. Fragte sich nur, wo sie das Geld herkriegen sollten.

„Baby, komm mit zu mir“, sagte Kenny. „Ich hab nach den Gigs immer total Hunger. Lass uns was kochen.“

Der Kerl hatte echt Nerven! Erst machte er mit dieser rothaarigen Schlampe rum und nun wollte er von Edwina auch noch seine geliebten Baked Beans mit Hash Browns vorgesetzt bekommen. Dabei hatte er sich noch nicht mal entschuldigt für die Knutscherei auf der Party.

„Träum weiter“, fuhr sie ihn an. „Kochen heißt bei dir, dass du zwei Gläser hinstellst und dir einen Joint drehst, während ich die Drecksarbeit mache. Such dir eine andere Blöde, die das tut.“

„Hey, was soll das?“ Kenny kam auf sie zu. „Was zickst du jetzt plötzlich rum? Komm schon, wir kuscheln danach gemütlich, dann ist alles wieder gut.“

Das war ja wieder typisch. Er baute Mist, und wenn sie daraus Konsequenzen zog, nannte er sie zickig. Und Sex wollte er trotzdem. So kam er garantiert nicht bei ihr durch.

Kenny machte Anstalten, seinen Arm um sie zu legen. Edwina wich vor ihm zurück und sah ihm direkt in die Augen. „Lass das, ich hab heute keinen Bock auf dich“, zischte sie.

„Stell dich nicht so an. Wir gehören doch zusammen, Baby, das weißt du. Ich hatte was intus auf der Party, das war nichts Ernstes mit Angie. Wir gehen jetzt zu mir!“ Als wäre das eine beschlossene Sache, packte er sie am Ellbogen und wollte sie mit sich fortziehen. Der hatte wohl einen Knall! Edwina riss sich gerade von ihm los, da stand Paul mit einem Mal neben ihr.

„Ich glaube, Edwina hat klar gesagt, was sie will. Du solltest sie in Ruhe lassen“, forderte er Kenny nachdrücklich auf.

Der war so baff, dass er tatsächlich von ihr abließ. „Ich glaub‘s ja nicht! Der Herr Organist spielt Robin Hood!“ Wütend sah er ihn an. „Du hast hier gar nichts zu melden“, fauchte er. „So ’ne Niete wie dich können wir in der Band nicht gebrauchen. Misch dich nicht ein und verpiss dich!“

Paul wich keinen Zentimeter zurück. „Das hat mit der Band überhaupt nichts zu tun“, erklärte er in so ruhigem Ton, dass Edwina nicht anders konnte, als ihn für seine Gelassenheit zu bewundern. „Sie ist ein freier Mensch und kann ihren Abend so verbringen, wie sie will. Das hast du zu respektieren.“

„Ich zeig dir gleich, was ich respektieren muss, du Witzfigur!“, rief Kenny und riss die Fäuste nach oben.

„Verdammt, hör auf mit dem Scheiß!“ Edwina stellte sich ihm in den Weg. Sie hasste es, wenn Kenny sich benahm wie ein Schlägertyp aus der Gosse. „Paul hat völlig recht, ich kann tun und lassen, was ich will. Aber wir spielen hier in einer Band, also vertragt euch gefälligst.“

Kenny ließ die Arme sinken. „Ich kann diesen Kerl mit seinem elitären Gehabe nicht leiden“, moserte er. „Der passt nicht hier rein.“

„Das hast du nicht zu entscheiden“, konterte Edwina. „Du hast keinen Finger gerührt, nachdem Mike gegangen war. Hast dich total auf mich verlassen und nicht einen einzigen Zettel verteilt oder an eine Hauswand geklebt. Aber jetzt dumm daherreden, wenn ich einen neuen Orgelspieler gefunden habe! So brauchst du mir wirklich nicht zu kommen!“

„Leute, ich hau ab“, mischte Brian sich ein. „Wenn’s nach mir geht, kann Paul ruhig bleiben, der hat einen geilen Sound drauf. Bis dann!“

Na, bitte! Edwina sah Kenny triumphierend an. Der verzog das Gesicht, sagte aber nichts. Sie war sich trotzdem sicher, dass er Paul Ärger machen würde, wo es nur ging.

„Mir doch scheißegal, wenn du heute nichts zu essen kriegst“, verkündete er. „Ich hole mir jetzt was aus dem Pub. Mach du doch, was du willst.“ Er schulterte seine Gitarrentasche und stapfte nach draußen. Edwina musste an ein bockiges Kleinkind denken. Manchmal fragte sie sich wirklich, wieso Kenny sie immer wieder rumbekam. Aber er war der Einzige gewesen, der in ihrer Anfangszeit als Sängerin an sie geglaubt hatte. Nächtelang hatte er mit ihr Songs geübt und schließlich seine beiden Kumpels dazu überredet, mit ihr als Frontfrau eine Band zu gründen. Ohne ihn hätte es Heaven’s Nighmare niemals gegeben und das würde sie ihm nie vergessen.

„Er sollte dich nicht so behandeln“, sagte Paul.

Ärgerlich fuhr Edwina zu ihm herum. Die Sache zwischen ihr und Kenny war ihre Privatsache, da brauchte sie keinen Rat von jemandem, der rein gar nichts über sie wusste.

„Ich komme durchaus alleine klar“, erwiderte sie barsch. „Ein Kindermädchen brauche ich weiß Gott nicht. Ich schlage mich seit fast zehn Jahren selber durch.“

Er zuckte sichtlich zusammen. „Tut mir leid.“ Sein Blick senkte sich auf den Boden. „Es war keinesfalls meine Absicht, dich zu bevormunden. Ich habe es einfach selbst zu oft erlebt, dass ein Mensch dem anderen seinen Willen aufdrängt. Und irgendwie reagiere ich da wohl empfindlich – vor allem, wenn es um andere Menschen geht.“

Seine Entschuldigung kam von Herzen, das spürte sie. Edwina ärgerte sich ein wenig, dass sie ihn so angefahren hatte.

„Hast du Hunger?“, fragte sie als Friedensangebot.

Er sah auf. „Sag bitte nicht, dass du jetzt für mich Bohnen und Bratkartoffeln zubereiten willst.“ Das Lachen stand ihm gut.

„Um Himmels willen“, rief sie und grinste. „Sicher nicht. Aber ich habe ein Lieblingslokal in London. Was hältst du von Persisch?“

„Kenne ich nicht, aber ich versuche es gerne. Offenbar bin ich ja neuerdings ein Abenteurer.“ Sie wusste nicht recht, worauf er das bezog, hatte aber plötzlich Lust, das alles herauszufinden. Paul war anders als die Männer, denen sie sonst begegnete. Irgendwie weicher. Aufmerksamer. Selbst seine Musik klang völlig anders als alles, was sie bisher gehört hatte.

„Komm mit, wir gehen zur U-Bahn“, schlug sie vor. „Wir müssen ins West End.“

Kurze Zeit später saß sie neben ihm im Zug. Wieder stieg dieser eigenartige Geruch in ihre Nase. Das musste wirklich ein tolles Aftershave sein, wenn der Duft selbst nach einem schweißtreibenden Auftritt noch so präsent war.

„Sag mal, was hat dich eigentlich nach London verschlagen?“, fragte sie.

„Ich bin beruflich hier.“ Er wirkte so, als wolle er nicht gerne darüber sprechen. Das reizte sie erst recht, mehr über ihn herauszufinden.

„Geht es etwas genauer?“

Er überlegte einen Augenblick. „Ich bin im Überwachungsgewerbe“, sagte er schließlich.

„Du meinst Kameras und so ein Zeug? Was Banken installieren, um Räuber zu filmen?“

„Nein, ich kümmere mich eher um Privatpersonen.“

Das konnte sie sich gut vorstellen. Luxusvillen, von dicken Mauern umgeben, hinter denen sich die Beckhams oder gar irgendwelche Adlige verschanzten, um sich vom gemeinen Volk fernzuhalten. In dieses Umfeld passten sicher auch seine vornehme Sprache und die klassische Musik. Er trieb sich also genau bei den privilegierten Leuten herum, auf die sie einen Hass hatte.

„Und jetzt haben sie dich von Deutschland hierher versetzt, damit du die Reichen von London mit Kameras und Selbstschussanlagen ausstattest?“ Okay, das war übertrieben, aber sie hatte Lust, ihn ein bisschen zu provozieren.

Er lachte leise. „Nein, es ist völlig anders. Ich bin eher im direkten Personenschutz tätig.“

„Ein Bodyguard?“ Sie traute ihren Ohren nicht. Das passte zu Paul ungefähr so wie ein Ballettröckchen zu Rocco. „Hey, normalerweise sind das bullige Typen mit Knopf im Ohr und einer Knarre im Hosenbund.“

Ihr Blick glitt über seinen Körper, der trotzdem gar nicht mal übel aussah. Paul war groß und schlank, ohne schlaksig zu wirken. Rocco würde ihn wohl als „halbe Portion“ bezeichnen, aber Edwina mochte das lieber als die übermäßigen Muskelberge des Türstehers. Pauls ruhige, elegante Art, sich zu bewegen, gefiel ihr gut und seine Figur auch. Sich Paul mit Pistolenhalfter vorzustellen, bereitete ihr dennoch Schwierigkeiten.

„Warum sollte ich einen Knopf an mein Ohr nähen?“ Verständnislos sah er sie an.

Edwina musste lachen. „Das sagt man bei uns so für ein Funkgerät.“

„Ach so.“

„Und was sind das für Leute, die du beschützt? Politiker oder irgendwelche Berühmtheiten?“ Sie überlegte, ob es auch in der klassischen Musik Superstars gab, die sich Bodyguards leisteten so wie Madonna oder Beyoncé.

„Ja genau. Am liebsten sind mir allerdings Rocksängerinnen mit einer Stimme so mitreißend wie eine Naturgewalt.“ Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

Edwina blickte unsicher auf den schmutzigen Fußboden. Sie konnte ihre Stimme selbst nicht gut einschätzen. Kenny lobte sie zwar gern als Rockröhre, aber er war natürlich nicht neutral. Sie hingegen hatte an manchen Stellen so ein dumpfes Angstgefühl, ob sie den nächsten Ton richtig treffen oder den Sprung in eine höhere Lage gut hinkriegen würde. Gesagt hatte sie das allerdings noch niemandem. Von idiotischen Stimmübungen, wie manche Kolleginnen sie machten, hielt Edwina überhaupt nichts. Das war blanker Unsinn, den man in Schulen eingetrichtert bekam, die am liebsten alle Stimmen gleich eintönig machen wollten. So, wie es in der Klassik üblich war. Da klang doch eine Operndiva genau wie die andere. Umso mehr freute sie sich, dass Paul erkannt hatte, wie individuell ihre Stimme war. Sie war sich sicher, sein Lob war ehrlich gemeint. Lachend stand Edwina auf. Die Bahn kam am Leicester Square an und sie mussten aussteigen. Edwina lotste Paul hinaus und führte ihn in die Garrick Street, wo das Simurgh beheimatet war.

„Ich liebe dieses kleine Lokal“, erklärte sie und drückte die Tür auf. Wie wunderbar es hier schon roch! Sofort lief ihr das Wasser im Mund zusammen. In einer Ecke fanden sie einen Tisch für zwei Personen, direkt unter einem Wandteppich mit Szenen aus dem alten Persien. In einem filigranen Messingleuchter flackerte eine Kerze und im Hintergrund lief orientalische Flötenmusik.

„Ich habe so etwas noch nie gegessen“, gab Paul nach einem Blick in die Speisekarte zu. „Aber ich habe auch noch nie Deep Purple gespielt. Dieser Abend bringt also in vielerlei Hinsicht etwas Neues.“

Edwina fühlte sich wohl, wenn sie ihm zuhörte. Vielleicht war es dieser leichte Akzent, mit dem er sprach, oder der weiche Klang seiner Stimme. Womöglich aber auch diese eigenartige Traurigkeit, die ihn umwehte. Sie konnte es nicht recht greifen, aber er hatte etwas Tiefsinniges an sich, obwohl bei ihm durchaus immer wieder feiner Humor aufblitzte. So etwas hatte sie bisher nur bei sehr alten Menschen erlebt. Ihre Granny, die vor ein paar Jahren gestorben war, hatte ähnliche Wesenszüge gehabt. An sie zu denken, machte ihr Herz schwer.

„Geht es dir gut?“ Sein Blick war bei ihr. Nur bei ihr. Dabei kam der Ober gerade heran und fragte nach den Getränkewünschen. Paul schien ihn gar nicht wahrzunehmen.

„Alles gut. Ich musste nur an jemanden denken“, sagte sie hastig und bestellte eine Cola, um den peinlichen Moment zu überbrücken. Sie mochte es nicht, wenn jemand Zeichen von Schwäche bei ihr entdeckte. Das Leben hatte sie gelehrt, dass man nur als Starke gut zurechtkam. Ihre Mutter war der beste Beweis. Sie war viel zu schwach gewesen. Zu schwach, um den Avancen von Edwinas Vater zu widerstehen. Zu schwach, um ihn später daran zu hindern, die Familie zu verlassen. Letztendlich auch zu schwach, um den Kampf gegen den Alkohol aufzunehmen. Niemals wollte Edwina so sein. Dann lieber auf Gefühle verzichten, so konnte man zumindest nicht verletzt werden. Dafür war ihr Kenny ganz recht, die Beziehung zu ihm war zwar stürmisch, doch auch reichlich oberflächlich.

„Hast du an jemanden gedacht, der dir sehr nahestand?“

Verflixt, wie kam er auf solche Sachen? „Och, nur meine Oma“, antwortete sie ausweichend. „Aber egal, lass uns bestellen. Magst du es denn würzig?“

Paul wandte sich der Speisekarte zu und wirkte ein wenig verloren. „Ich weiß nicht recht“, sagte er. „Ich kenne eher deutsche Hausmannskost. Kannst du mir etwas empfehlen, bei dem ich nicht am Ende ganz unmännlich mit Tränen in den Augen hier sitze?“

„Mach dir keine Sorgen, die kippen hier kein Chili ins Essen. Aber dafür gibt es jede Menge andere Gewürze, ich liebe das! Wie wäre es mit der Entenbrust in Granatapfelsoße mit Safran-Pistazien-Reis?“

Er nickte schicksalsergeben. Edwina entschied sich für Fisch in Koriander-Tamarinden-Soße. Als die Getränke kamen, hob sie ihre Cola und stieß mit seinem Rotweinglas an. „Auf Heaven’s Nightmare, die künftigen Chartstürmer!“

„Vor allem auf ihre bezaubernde Sängerin.“

Er trank einen Schluck, setzte das Glas ab und ließ seine schmalen Finger über dessen Stiel gleiten. „Du hast mich unfassbar überrascht heute. Ich habe noch nie im Leben eine Stimme wie deine gehört.“

„Wirklich nicht? Manche sagen, ich klinge ein bisschen wie Amy.“ Es kribbelte in ihrem Bauch, wenn er sie so ansah und über ihre Stimme redete. Und das Kribbeln war eines der äußerst angenehmen Art.

„Amy?“

Angesichts seiner fragenden Miene musste sie schon wieder lachen. Das konnte doch nicht wahr sein!

„Es gibt also tatsächlich noch irgendjemanden auf dieser Welt, der noch nichts von Amy Winehouse gehört hat?“

Entschuldigend hob er die Schultern. „Dafür kann ich dir alle klassischen Komponisten vom Frühbarock bis zur Neuzeit aufzählen. Du musst wissen – ich habe in meinem Leben schon eine ganze Menge Sängerinnen kennengelernt, doch keine hat mich so beeindruckt wie du. Da ist so etwas Raues, Ungeschliffenes in deiner Stimme, das immens faszinierend ist.“

Edwina senkte erneut ihren Blick. Dass er so von ihr schwärmte, schmeichelte ihr enorm. Sie wusste, dass ihre Stimme außergewöhnlich war, aber das hieß noch lange nicht, dass sie jedem Zuhörer gefiel. Und Paul hatte schließlich einen völlig anderen Hintergrund als die normalen Zuhörer, die zu den Auftritten der Band anrückten. Er kam aus der Klassik, kannte sich zumindest dort gut aus und hatte mit Sicherheit ein gutes Gehör. Und er fand, dass ihre Stimme etwas ganz Besonderes war. Dieser Gedanke wärmte sie von tief innen heraus. Es war also doch die richtige Entscheidung gewesen, erst gar nicht auf irgendwelche Musikakademien zu gehen, sondern das Singen autodidaktisch zu lernen. So war sie wenigstens nicht weich gespült und glatt gebügelt worden, sondern hatte ihren ganz eigenen Charakter behalten.

Paul sah sie an. Er schien außer ihr keine einzige Person im voll besetzten Lokal wahrzunehmen. Sie fühlte sich wohl in seiner Nähe. Ihr Lieblingslokal und ein Musiker als Begleiter, der von ihr als Sängerin begeistert war – besser konnte man einen Abend überhaupt nicht verbringen.

„Erzähl mir etwas von dir“, bat sie ihn. „Mit wem spielst du denn, wenn du dich nicht gerade von Kennys Verstärker wegpusten lässt?“

Er nahm noch einen Schluck vom Wein, ganz langsam, als müsse er überlegen. Gerade, als er anfangen wollte zu sprechen, wurde das Essen gebracht.

„Ein Gedicht!“ Genießerisch schloss Paul kurz die Augen, nachdem er probiert hatte.

Doch Edwina ließ nicht locker. Sie fixierte ihn mit ihrem Blick, sodass er schließlich anfing, zu reden.

„Ach weißt du, es ist nichts Besonderes. Ich spiele hin und wieder in der Kirche, manchmal sogar ein Orgelkonzert. Wenn mir danach ist, klimpere ich für mich selbst auf dem Klavier herum. Chopin, Schubert, Beethoven, je nach Stimmung. Das ist eben die Musik, in der ich zu Hause bin.“

Edwina kannte die Namen, hätte aber kein einziges Stück dieser Komponisten nennen können. Wenn er ausschließlich in der Klassik beheimatet war, wie konnte es dann sein, dass er sich so schnell in den Songs der Band zurecht gefunden hatte?

„Als ich im Laden Purple aufgelegt habe – war das wirklich das erste Mal, dass du Rockmusik gehört hast?“

Er tauchte ein Stück Entenbrust in die Granatapfelsoße. „Ja, ich kannte so etwas vorher nicht.“

Edwina musterte ihn genau. Sagte er die Wahrheit? „Aber wie kann es sein, dass du dann bei dem Gig fast alle Stücke mitspielen konntest?“, platzte es aus ihr heraus.

Paul tupfte sich mit der Serviette die Mundwinkel ab.

„Ich war nachmittags in einem Musikladen und habe mir einiges angehört. Im Grunde sind diese Songs alle gleich aufgebaut. Strophe, Refrain, dann das Gleiche noch einmal, zwischendurch eine Überleitung.“

„Die Bridge.“ Sie nickte. „Das stimmt. Trotzdem kennst du doch die Akkorde nicht.“

Sie selbst hatte wenig Ahnung von diesen Sachen, sie musste ja nur singen und bei einigen Songs auf der Gitarre mitschrummen, aber nur ein paar Akkorde. Kenny jedoch fluchte oft genug, wenn ihm irgendeine Tonart nicht passte. Er suchte sich die Akkordfolgen für neue Songs aus dem Internet zusammen und das hatte der alte Keyboarder ebenso gemacht. Wie man so etwas ohne Vorlage machen konnte, war ihr ein Rätsel.

„Naja, die Harmonien sind nicht besonders kompliziert. Schau, das Lied über diese Entziehungskur war das einzige in Es-Dur, das meiste andere war in C oder G. Also nicht schwierig. Und wenn ihr das spielt, was du Blues nennst, ist es sogar noch einfacher. Eine simple Kadenz: Vier Takte lang ein Septimakkord, danach kommt er zwei Mal in der vierten Stufe, zurück zur Grundform, dann die fünfte und das war es schon.“

Edwina hatte den Eindruck, er sprach Chinesisch mit ihr. Bestimmt hatte Paul studiert, wahrscheinlich an einer dieser Nobeluniversitäten, die es sicher auch in Deutschland gab, und nun ließ er sich ihr gegenüber sein Wissen heraushängen. Es war totaler Unsinn, dass die Stücke alle so einfach aufgebaut waren!

„Na prima. Das heißt also, wir Rockmusiker sind minderbemittelte Stümper, die nur mit ganz einfachen Akkorden zurechtkommen, während die Herren Klassiker intellektuell in völlig anderen Sphären schweben?“ Sie nahm ihr Besteck auf und säbelte energisch ein Stück von der Beilagenkarotte ab.

„So habe ich das überhaupt nicht gemeint, Edwina.“ Sie hörte das Bedauern in seiner Stimme, ging aber nicht darauf ein. Leute, die sich für überlegen hielten, konnte sie nicht leiden. Solchen war sie schon zu oft im Leben begegnet. Sie selbst machte ihr Ding, und zwar nicht mal schlecht, egal, was irgendein studierter Musiktheoretiker dazu sagte. Musik war viel mehr als nur simple Akkorde oder Tonleitern, es ging ums Gefühl. Und das brachte sie verdammt gut rüber mit ihrer Art zu singen, das zeigte ihr die Reaktion des Publikums jedes Mal aufs Neue. Trotzdem verunsicherte sie seine Aussage ein wenig. Paul war ihr wohlgesonnen, das spürte sie. Sollte er am Ende recht haben damit, dass die Band nur stümperhaft spielte? Würden sie Corey Carpenter überhaupt überzeugen können, falls er jemals vorbeikam? In ihrem Hals stellte sich eine Gräte quer, vielleicht aber auch ein Anflug von Angst. Sie spülte, was immer es war, mit Cola hinunter.

Schweigend aßen sie weiter, jeder in seine Gedanken vertieft. Erst als der Kellner das Geschirr abgetragen hatte, sah Paul sie wieder an.

„Du hast mich berührt mit deiner Stimme“, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Und das ist viel mehr wert als all die graue Theorie. Musik hat etwas mit der Seele zu tun.“

Sie nickte langsam. „Ja, da hast du absolut recht.“ Anschließend musste sie schmunzeln. „Da haben wir ja Glück, dass wir ein paar Soul-Nummern in der Setlist haben.“

Er hob den Finger, als wäre ihm eine Idee gekommen. „Kannst du mir euer Repertoire zusammenschreiben? Dann könnte ich mich bis zur nächsten Probe zumindest in eure Coversongs einhören und würde mich nicht mehr blamieren, wenn ich die großen Stars des Rock nicht erkenne.“

Als der Kellner vorbeihuschte, bat Paul um einen Zettel mit Stift und reichte ihr beides. Der Plan war nicht verkehrt, fand Edwina, und kritzelte ihm die Songs und Interpreten hin, die die Band draufhatte. Er runzelte die Stirn, als er die Titel las, besonders bei Highway to Hell, steckte das Papier dann aber vorsichtig ein.

„Dieser Corey Carpenter ist dir wirklich wichtig, oder?“, fragte er plötzlich. „Du hast sehr enttäuscht gewirkt, als er nicht da war.“

„Ja klar. Ich schaue immer in die Menge, ob ich ihn irgendwo sehe. Weißt du, er hat mich nach der Demo-CD angerufen und gesagt, wenn er mal Zeit hat, kommt er vorbei und hört sich die Band an. Er klang richtig interessiert! Seither warte ich.“

Sie zog mit dem Fingernagel Linien in die Tischdecke. Waren sie überhaupt gut genug für einen Plattenvertrag? Diese Zweifel gefielen ihr nicht, sie versuchte, den Gedanken schnell zur Seite zu schieben.

„Du wirkst besorgt“, stellte Paul fest. Als sie zu ihm aufsah, schimmerten seine Augen warm im Kerzenschein. Sie hatten ein seltenes Braun, stellte Edwina fest. Nicht dunkel wie der Mahagonitisch in Gareths Büro, sondern eher wie das helle Nussbaumholz, aus dem die Möbel bei ihrer Granny gewesen waren. Vielleicht sogar ein bisschen wie die dunkleren Perlen der Bernsteinkette, die sie gern getragen hatte.

„Hast du Angst, dass er nicht kommt?“, fragte er nach.

„Nein, vielmehr …“ Sie zögerte. Sollte sie es ihm wirklich sagen? Sein Blick war immer noch bei ihr, verständnisvoll und offen. „Dass er kommt, aber nach drei Songs wieder verschwindet, weil ihm nicht gefällt, was wir tun.“

Schon mehrmals hatte sie Albträume gehabt, hatte Corey in der Menge erkannt, sich gefreut wie verrückt – um dann feststellen zu müssen, dass er angewidert das Gesicht verzog und den Saal kopfschüttelnd verließ. Im Traum war aus ihrem Hals nur noch ein heiseres Krächzen gekommen, alles war wund gewesen und sie war völlig verzweifelt von der Bühne geflohen.

„Er wird mögen, was er hört.“ Pauls Stimme war so sanft, dass sich der Satz wie eine Umarmung anfühlte.

„Glaubst du das wirklich?“ Vorsichtig sah sie ihn an und suchte in seinem Gesicht nach verräterischen Zeichen, dass er sie nur beruhigen wollte. Aber seine Miene wirkte ehrlich.

Plötzlich überkam Edwina eine wunderbare Zuversicht. Es war, als würden alle Anspannung und jeder Zweifel von ihr abfallen wie eine Bleischürze, die von ihren Schultern glitt. Mit einem Mal fühlte sie sich leicht und voller Kraft. Obwohl sie Paul überhaupt nicht kannte, schenkte er ihr großes Selbstvertrauen. Sollte sie ihm glauben, dass sie etwas Besonderes war und Corey vielleicht beeindrucken konnte? Sie war sehr versucht, das zu tun. Es war einfach ein umwerfend tolles Gefühl, von völlig fremder Seite Bestätigung zu bekommen. Und das, was Paul über ihre Stimme gesagt hatte, machte ihr wirklich Mut.

„Es wäre wirklich ein Traum, mal in einem richtigen Studio aufnehmen zu können. Und stell dir nur mal vor: Du gehst in ein Musikgeschäft und da liegt unsere CD! Ich werde völlig ausflippen, wenn ich das mal erlebe.“

Er nickte. „Denk erst mal an die Fans. Sie werden dir zu Füßen liegen und alle versuchen, so zu singen wie du.“

Sie phantasierte ja bloß das Blaue vom Himmel herunter – aber zu sehen, wie er sich mit ihr freute, war toll. Dass er die Einzigartigkeit ihrer Stimme so zu schätzen wusste, hätte sie wirklich nicht geglaubt. Er war von seiner Klassikmusik doch viel mehr diese glatten, perfekt ausgebildeten Soprane gewöhnt.

Dabei kannte er sie doch nicht einmal. Aber genau das zeichnete Paul offenbar aus: Dass er sich auf Neues einließ und offen für Impulse war, egal ob es um eine Musikrichtung oder um Begegnungen ging. Sie mochte Menschen, die nicht nur an alten Zöpfen festhielten. Einen Moment lang war sie versucht, ihre Hand, die nicht weit von seiner entfernt auf dem Tisch ruhte, einfach auf seine Finger zu legen. Es tat schlichtweg irrsinnig gut, mit ihm hier zu sitzen, in seine Augen zu schauen und sein Lächeln zu sehen.

„Möchten Sie ein Dessert?“, fragte der Kellner, der aus heiterem Himmel neben ihrem Tisch aufgetaucht war.

Paul sah sie fragend an, aber sie schüttelte den Kopf, weil sie völlig satt und zufrieden war.

„Es ist spät“, stellte Paul fest. „Ich sollte dich nach Hause bringen, du musst morgen arbeiten.“

„Bist du meine Nanny?“

„Nein, aber wie jeder Star hast du einen Bodyguard. Also passe ich auf dich auf.“ Er wandte sich an den Ober, der das Geschirr abräumte. „Wir möchten bitte zahlen.“

Edwina zog ihren Geldbeutel heraus, aber er bestand darauf, sie einzuladen. „Nimm es als Einstand in die Band“, sagte er lächelnd.

Kenny hatte immer auf getrennte Rechnungen bestanden, fiel ihr gerade ein. Was in Ordnung war, sie hatten ja beide einen Job. Aber bei Paul fühlte es sich ganz selbstverständlich an, dass er sie heute einlud, dabei war sie normalerweise eine emanzipierte Frau. Nun ja, hin und wieder durfte man das zulassen, man traf schließlich nicht oft einen Bodyguard und Gentleman. Außerdem konnte er es sicher von der Steuer absetzen.

Sie musterte ihn, während er umständlich die Pfundnoten aus seiner Brieftasche zog. So ganz schlau wurde sie nicht aus ihm, aber der seltsame Kauz, für den sie ihn anfangs gehalten hatte, war er dann doch nicht. Okay, so richtig passte er nicht in diese Welt, aber seine Andersartigkeit gefiel ihr. Er hatte etwas Weises an sich, das sie nicht ganz zuordnen konnte, aber sie mochte es.

Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zur U-Bahn. Paul ging nah neben ihr her, nur wenige Zentimeter trennten ihre Hände. Edwina spürte ein verräterisches Zucken in ihren Fingern. Nur zu gerne hätte sie ihn leicht berührt, um zu schauen, ob er darauf eingehen und nach ihrer Hand greifen würde. Aber sie wagte es nicht, weil sie ihn nicht verschrecken wollte. Paul war ganz sicher kein Draufgänger wie Kenny, sondern ein Mann mit Stil, der sich nicht einfach so auf eine kleine Affäre einließ. Es war ein wirklich schöner Abend gewesen und Edwina ertappte sich bei dem Wunsch, ihn zu wiederholen.

Noch am Bahnsteig redeten sie über Corey Carpenter und die nächsten Auftritte. Es kam ihr vor, als wäre Paul schon ewig ein Mitglied der Band, so angeregt unterhielten sie sich.

„Ich glaube, mit unserem Retrosound haben wir tatsächlich gute Karten. So was ist im Moment bei den Radiostationen total angesagt“, erklärte sie.

Paul hatte angeboten, sie ganz bis nach Hause zu begleiten, was sie freute. Dabei fuhr sie schon seit vielen Jahren auch nachts allein durch London und brauchte keinen Aufpasser, trotzdem nahm sie sein Angebot an. Natürlich nur, weil sie dann noch ein bisschen über Musik quatschen konnten.

„Ich kenne mich da zwar nicht so genau aus, aber ich bin überzeugt davon, dass die Zuhörer die Band mögen werden. An deiner Stimme müssen wir natürlich noch etwas machen“, sagte Paul in ganz selbstverständlichem Ton.

Sie glaubte, ihn nicht richtig verstanden zu haben. Sicher hatte er sich nur vertan. Bei einer Fremdsprache konnte so etwas schon mal vorkommen.

„Du meinst bestimmt: Aus meiner Stimme kann man noch ganz viel rausholen“, schlug sie vor.

Doch er zog die Augenbrauen hoch. „Nein, nein. Da fehlt noch einiges an Schulung, aber das ist kein Problem. Wenn du diesen Corey richtig beeindrucken willst, musst du noch viel üben. In den Höhen presst du zu sehr und deine Atemstütze ist ein wenig schwach. Die Intonation muss auch noch sauberer werden, aber das bekommen wir hin. Ich habe schließlich schon bei vielen Sängerinnen den Feinschliff vorgenommen und freue mich wirklich sehr darauf, mit dir zu arbeiten! Wir machen dich so professionell, dass Mister Carpenter dir sofort einen Vertrag vorlegt.“

Völlig entsetzt starrte sie ihn an. Er war also doch gar nicht so begeistert von ihrer Stimme, wie sie angenommen hatte! Noch schlimmer fand sie, dass er sie ändern wollte, in ein Schema pressen. Dabei war sie so sicher gewesen, dass ihm genau ihre Individualität gefiel! Ihre Hände ballten sich zu Fäusten.

„Ich bin professionell!“, rief sie so aufgebracht, dass einige Passanten sich zu ihr umdrehten. „Und meine Stimme ist genau so, wie sie sein soll, verdammt noch mal! Ich brauche weder einen Feinschliff noch irgendwelche Lektionen von einem überheblichen Klassik-Fuzzi, der alles nur glatt und sauber haben will!“

Wie hatte sie nur einen Augenblick lang denken können, dieser Paul sei ein angenehmer Zeitgenosse und würde in die Band passen! Er war ein Klassikfreak und Besserwisser, der nicht die leiseste Ahnung von echter Musik hatte.

Zum Glück fuhr ihre U-Bahn gerade ein. Edwina stürmte hinein, ohne sich noch einmal nach Paul umzudrehen. Sollte er doch bleiben, wo der Pfeffer wuchs. In ihr Leben passte dieser Kerl jedenfalls nicht, das stand fest.

Himmlische Winterküsse

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