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Schräges Scherzo

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Einige Stunden später stand Pasiel am Eingang eines schrecklich heruntergekommenen Gebäudes, das ein schäbiges Metallschild als Black Odeon auswies. Er hatte den gesamten Nachmittag die beiden Silberscheiben mit den Orgelrock-Klassikern gehört und sich eigentlich gut gewappnet gefühlt, aber die finsteren Gestalten, die hier herumlungerten und ihn argwöhnisch musterten, bescherten ihm eine Gänsehaut.

„Ah, da bist du ja schon.“ Edwina kam lächelnd auf ihn zu. „Super, dass du pünktlich bist.“

Sie drückte eine Seitentür auf und ging hinein. Heute Abend trug sie einen wirklich sehr kurzen Rock aus schwarzem Leder, was Pasiels Blutdruck zusätzlich erhöhte. An die moderne Mode musste er sich erst gewöhnen. Er folgte ihr ins Innere des Gebäudes und sah sich erstaunt um. Konzertsäle hatte er schon mehr als genug gesehen, aber der hier war völlig anders als die Carnegie Hall oder der Wiener Musikverein. Die Bühne bot gerade mal Platz für ein paar Musiker und es gab nicht einmal einen Vorhang. Der Zuschauerraum war nicht bestuhlt, und wenn man darüber lief, war er an manchen Stellen so klebrig, dass man mit den Schuhsohlen haften blieb.

„Hey, das ist klasse: Kenny hat die alte Hammond schon aufgebaut“, rief Edwina erfreut und stieg über ein paar Stufen auf die Bühne. „Die anderen laden gerade alles aus.“

Von einer rückwärtigen Tür des Gebäudes kamen zwei junge Männer heran, einer trug das Becken eines Schlagzeugs, der andere einen Gitarrenkoffer.

„Jungs, das ist Paul, unser neuer Keyboarder“, stellte Edwina ihn vor. „Und hier sind Brian und Kenny.“

Der Schlagzeuger, ein junger Mann mit Pferdeschwanz und leicht verschleiertem Blick, grüßte Pasiel freundlich.

Kenny hingegen sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Ohne Pasiel direkt anzusprechen, wandte er sich an Edwina. „Wo hast du denn den aufgegabelt? Der ist doch viel zu alt. Sicher schon Mitte dreißig. Was sollen wir mit so einem alten Sack?“

Pasiel verkniff sich die Antwort, dass er genau genommen schon 139 Jahre alt sei, und musterte den Gitarristen wortlos. Er war ein Typ mit breitem Stiernacken, blonden Haaren ohne Schnitt und kalten Augen. Wie immer bei fremden Musikern sah Pasiel zuerst auf die Hände, denn die verrieten viel über einen Menschen. Dieser Kenny hatte Knubbelfinger und ungepflegte Nägel. Mit solchen Händen konnte man unmöglich virtuos spielen, die Bewegungen seiner Finger waren plump und langsam, außerdem trug er zwei klobige Ringe. Sicher war er kein Genie an seinem Instrument, auch wenn er sich hier benahm, als hätte er Anspruch auf weltweite Bewunderung.

„Die Bewerber haben sich nicht gerade die Klinke in die Hand gegeben“, verteidigte sich Edwina. „Also probieren wir es mit Paul. Oder hat jemand eine bessere Idee?“

„Alles klar, wird schon werden“, sagte Brian völlig entspannt und schraubte sein Schlagzeug zusammen.

Kenny murmelte irgendetwas Unverständliches und steckte ein Kabel in etwas, das wie ein schwarzer Koffer aussah.

Gemeinsam bauten sie die Instrumente auf und verkabelten sie mit allerlei seltsamen elektrischen Geräten. Eine halbe Stunde später kamen bereits die ersten Zuschauer in den Saal. Die meisten von ihnen trugen randvolle Plastikbecher mit Bier in der Hand, womit sich wohl die klebrigen Stellen auf dem Boden erklärten.

„Soundcheck“, kündigte Kenny an und fuhr mit einem kleinen Plättchen über seine Saiten, woraufhin ein Höllenlärm aus dem schwarzen Koffer drang, der offenbar dazu diente, den Klang elektrisch zu verstärken.

Zum Glück hatte sich Pasiel heute durch genügend moderne Musik gehört, sodass sich sein Zusammenzucken in Grenzen hielt. Seine Ohren fanden aber weiterhin furchtbar, was dieser Kenny beim Malträtieren seiner Gitarre für Misstöne erzeugte.

Edwina sah ihn auffordernd an, was wohl bedeuten sollte, dass nun er an der Reihe war.

Sein Hals wurde eng und in seinem Bauch krabbelten Ameisen herum, aber er musste sich zusammenreißen. Hier in der Band zu bestehen, war seine einzige Chance, an Edwina heranzukommen und den himmlischen Auftrag zu erfüllen. Versagte er, konnte er sich vom ewigen Heldentum endgültig verabschieden.

Er versuchte, sich an den Anfang von Light my fire zu erinnern, und spielte die Achtel- und Sechzehntelnoten des Intros. Zu seiner Überraschung stieg der Schlagzeuger sofort ein und ergänzte den Rhythmus. Obwohl Edwina am Mikrofon stand und ihre Hüften im Takt der Musik bewegte, erfüllte eine männliche Stimme den Raum. Gitarrist Kenny fühlte sich berufen, den Gesang beizusteuern. Pasiel versuchte, sich sein Missfallen nicht anmerken zu lassen. Auf der CD hatte ein charismatischer Bariton gesungen und für passenden Klang gesorgt. Jim Morrison hieß der Mann, falls Pasiel sich richtig an das kleine Büchlein in der Hülle erinnerte. Kennys nöliger Möchtegern-Tenor fügte sich jedenfalls nicht besonders gut in den Song ein. Pasiel war froh, als sein Orgel-Solo an der Reihe war. Da er das Stück sicher zwölf Mal angehört hatte, erinnerte er sich gut an diese Stelle. Natürlich spielte er nicht exakt die genau gleichen Tonabfolgen, er variierte und improvisierte mit eigenen Einfällen. Nach einigen Takten riss er sich jedoch am Riemen und ging lieber auf Nummer sicher, indem er zur gewohnten Melodie zurückkehrte.

Er hatte den tonalen Bogen noch nicht ganz zu Ende gespannt, da beendete Kenny das Hammond-Solo abrupt, indem er zu einem eigenen ansetzte. Er würgte die Gitarre, misshandelte die Saiten, als wolle er seinem Instrument den Garaus machen, verhedderte sich in viel zu schnellen Läufen und baute eigenartig gedehnte Noten ein, die Pasiel leichten Kopfschmerz verursachten. Das Solo passte nicht sonderlich gut zur etwas düsteren Stimmung des Songs, der eher ruhig dahinglitt wie ein barocker Kanon. Kennys Gitarrenspiel mochte die Zuhörer beeindrucken, wirkte aber bei diesem Stück deplatziert, fand Pasiel. Aber was wusste er schon, sicher hatte er noch kein gutes Gespür für die moderne Rockmusik.

Schon beim Abschlussakkord brandete Beifall auf.

Überrascht blickte Pasiel nach unten in den Zuschauerraum. Der hatte sich tatsächlich schon zur Hälfte gefüllt.

„Willkommen, alle zusammen!“, rief Edwina ins Mikro. „Super, dass ihr hier seid und mit uns einen geilen Abend verbringen wollt. Wir werden euch mit unseren eigenen Nummern und mit ein paar Covern ordentlich einheizen. Heaven’s Nightmare lassens immer krachen!“

Pasiel fiel fast von dem wackligen Stuhl, den man hinter seine Orgel gestellt hatte. Heaven’s Nightmare - das war also der Name der Band!

Jetzt dämmerte es Pasiel, was mit dem Hinweis auf dem Zettel gemeint war, dass Eddie Stevenson an den Himmel glaube. Am liebsten hätte er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn geschlagen, doch er ließ seine Finger lieber auf den Tasten. Natürlich glaubte Edwina an den „Himmel“ – nämlich an den Erfolg ihrer Band. Das war echt ein gemeiner Trick der englischen Wettbewerbsteilnehmer gewesen. Aber egal – Pasiel war auf dem besten Weg, seine Mission zu erfüllen. In die Band hatte er es jedenfalls schon geschafft und das war nun mal die Voraussetzung, um Edwina beschützen zu können.

„Weiter geht es mit Rehab, da muss unser neuer Keyboarder ein bisschen tricksen, damit sich seine Hammond wie ein Bläsersatz anhört“, kündigte Edwina an und hängte sich eine alte akustische Gitarre um. Offensichtlich steuerte sie zu manchen Liedern noch den Rhythmus bei.

Das gefiel Pasiel gar nicht. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was bei diesem Song auf ihn zukommen würde, und wartete erst einmal ab, welche Akkorde Kenny vorgab. Der schnallte seinem Gitarrenhals eine Art Metallklammer um, offenbar deshalb, weil die Akkorde der gewünschten Tonart dann einfacher zu greifen wurden. Gespannt wartete Pasiel, was nun kommen würde. Die Gitarre spuckte jaulend ein paar Töne aus, die nach Es-Dur klangen. Probeweise versuchte Pasiel einen kleinen Akzent in passendem B-Dur, hatte aber immer noch keine Vorstellung davon, wohin der Song sich entwickeln würde.

Da setzte Edwinas Singstimme ein. Pasiel rutschte beim Akkord von den Tasten ab, denn so etwas hatte er noch nie gehört. Rau, kantig, kehlig und unsauber, jedoch durch ihre wilde Art extrem faszinierend. Er kannte samtige Mezzosoprane und herrlich klare Altistinnen, aber so eine rohe Stimme war ihm völlig fremd. Einerseits sträubten sich seine Nackenhaare, weil Edwina so unsauber intonierte, andererseits kroch sie ihm mit ihrer derben Leidenschaft unter die Haut. Es war eine unfassbar intensive Mischung aus Lässigkeit, schrecklichem Banausentum und unwiderstehlicher Faszination.

Sie sang von einer Entziehungskur und ihrem Daddy, aber Pasiel hörte kaum auf den Text. Wie in Trance sah er Edwina an, musterte ihre aufreizenden Bewegungen, saugte das dunkle Timbre ihrer Stimme in sich auf. Er war so abgelenkt, dass er aus Versehen die Tonart wechselte und einige grobe Schnitzer hineinspielte, aber das kümmerte ihn nicht. Eine Sache war ihm nämlich völlig klar: Diese Stimme brauchte Führung. Sie war ein Rohdiamant, rau und ungeschliffen, der – wenn er einmal blank poliert wäre – über alle Maßen strahlen würde.

Pasiel lächelte in sich hinein. Für so etwas war er genau der richtige Mann. Nicht umsonst bildete er schon seit über hundert Jahren bei den himmlischen Chören die Engelsstimmen aus. Er würde mit Edwina hart arbeiten, dann könnte sie eine der ganz Großen werden.

„Was spielst du für einen Scheiß?“, riss Kenny ihn aus seinen rosigen Zukunftsplänen. Der Gitarrist war nah an ihn herangetreten und funkelte ihn drohend an, während er die letzten Akkorde des Stückes anschlug.

„Ich musste erst reinkommen“, verteidigte sich Pasiel. Mehr Zeit blieb zum Glück nicht für Bühnenkonversation, denn das Lied war aus und die Leute klatschten frenetisch.

Edwina verbeugte sich kurz, wobei sie dem Publikum tiefe Einblicke in ihr Dekolleté gewährte. Als Oberteil trug sie etwas, das Pasiel an die geschnürten Corsagen unter früheren Ballkleidern erinnerte. Nur dass die Damen zu seiner Zeit eben noch das Kleid darüber gezogen hatten, während Edwina ausschließlich mit diesem Stück Unterwäsche angetan auf der Bühne stand. Allerdings musste er zugeben, dass er diese neue Mode, die ihren Körper auf vorteilhafte Weise betonte, durchaus reizvoll fand.

Sie spielten ein paar Eigenkompositionen, die aber so einfach gestrickt waren, dass sie Pasiel vor keine großen Herausforderungen stellten.

„Ich möchte euch die Band vorstellen“, sagte Edwina nach dem fünften Song ins Mikrofon und rief nacheinander Brian und Kenny auf, bevor sie ihren eigenen Namen nannte.

Er war als Letzter dran. „Paul ist unser Neuzugang und springt hier total ins kalte Wasser. Wir hatten nicht mal die Gelegenheit, miteinander zu proben. Dafür schlägt er sich total tapfer, finde ich. Such dir was aus, Paul, was sollen wir spielen?“

Sie sah ihn auffordernd an. Obwohl Pasiel fürchtete, Kenny würde sich wieder das Mikro greifen, entschied er sich für das Stück, das er als allererstes der modernen Rockmusik gehört hatte.

Hush von Deep Purple“, rief er und Edwina nickte zustimmend.

Kenny drehte an ein paar Knöpfen des Koffers herum, und als er das kleine Plättchen über die Saiten schrammen ließ, klangen sie genauso verzerrt wie auf der alten Platte, die Pasiel im Tätowierstudio so erschreckt hatte. Pasiel ließ sich nicht lumpen und griff ebenso beherzt in die Tasten dieses seltsamen Stromklaviers, das man hier Orgel nannte. Der Rhythmus des Schlagzeugs dröhnte in seinen Ohren, die klirrende Gitarre durchdrang den Saal bis in den letzten Winkel und sägte an seinen dünnen Nervenseilen.

Edwinas Stimme setzte ein, geheimnisvoll und lockend durch ihr dunkles Timbre, tief berührend durch ihre Rohheit. Obwohl sie den Text sang, den Pasiel von der CD kannte, interpretierte sie den Song doch auf eine ganz eigene Art. Das machte ihm Mut, bei seinem langen Solo auch eigene Ideen einzubringen. Er tauchte in die Harmonien ein, verwandelte sie mit seinen Anschlägen, jagte das Stück durch vielfältige Höhen und Tiefen. Als er sich bereits etwas vom Grundthema entfernt hatte, fiel ihm ein schräges Scherzo von Chopin ein, das sich hervorragend in die Struktur der Komposition einfügte. Spontan baute er einige Zeilen daraus ein.

Wie lange er seinen Solopart ausdehnte, war ihm nicht bewusst. Wie so oft, wenn er am Klavier saß, vergaß er darüber Raum und Zeit. Erst als Kenny vor ihm stand, die Gitarre wie eine drohende Waffe auf ihn gerichtet, beruhigte er sein Spiel und fand wieder zu gemäßigten Akkorden zurück.

Pasiel zuckte zusammen, weil aus dem Zuschauerraum ohrenbetäubende Pfiffe und lautes Gejohle kamen. So ein Unglück! Er hatte es vermasselt. Wie war er nur auf den Gedanken gekommen, dass er seinen Lieblingskomponisten in eines der modernen Rockstücke einbauen konnte? Kein Wunder, dass ihn das Publikum auspfiff. Er wagte nicht, in die Menge zu schauen, erhaschte aber einen Blick auf Edwina, die ihn anstrahlte. Dann vollführte sie eine Geste, die er nicht kannte: Sie zeigte mit der Faust auf ihn und streckte dabei den Daumen nach oben heraus. Verwirrt sah er ins Publikum und erkannte, dass viele auf ihn schauten und ihm enthusiastisch zuklatschten. Das durfte nicht wahr sein! Hieß das, dass den Leuten sein Solo gefallen hatte?

„Ist Paul nicht großartig?“, schrie Edwina ins Mikrofon, nachdem der Song zu Ende war, und der Applaus schwoll noch weiter an. Danach kündigte sie eine Pause an.

Erst, als Pasiel von seinem alten Holzstuhl aufstand, merkte er, wie verschwitzt er war. Seine Beine waren wackelig und er musste sich für ein paar Sekunden an der Hammond-Orgel festhalten, bis er nicht mehr das Gefühl hatte, dass alles um ihn herum schwankte.

Ein glückliches Strahlen breitete sich in seinem Gesicht aus. So schwierig war es gar nicht gewesen, ein vollwertiges Bandmitglied zu werden. Er hatte es tatsächlich geschafft, in dieser Rockgruppe zu bestehen!

Die nächsten Tage würde er natürlich seine Hausaufgaben machen und noch mehr dieser Silberscheiben kaufen, um sich in die Musik einzuhören. Schließlich konnte er nicht den ganzen Tag völlig untätig vor dem Laden herumlungern, während Edwina tätowierte. Als Schutzengel würde er sicher spüren, wenn Gefahr drohte, das hoffte er zumindest. Die Schwierigkeit bestand darin, Edwina als scheinbar normaler Mensch vor allen Bedrohungen zu beschützen, ohne allzu aufdringlich zu erscheinen. Aber er würde das hinbekommen, indem er ihr anbot, als ihr Gesangslehrer zu fungieren und ihre Stimme zu schulen. Auf diese Weise konnte er fast ständig in ihrer Nähe sein.

Mit dem Gefühl, dass nichts und niemand seiner heldenhaften Rückkehr als Wettbewerbssieger mehr im Weg stand, verließ Pasiel nach dem Abschlusssong die Bühne.

Himmlische Winterküsse

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