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Mitte März 1945

Anna steht vor ihrem Spiegel, alt das Gesicht, grau die Haare. Das erste Mal hat sie ein offenes Gespräch mit ihrer Tochter geführt. Sie erinnert sich an Jakob Rosenwasser. Der kleine Jude wollte, dass sie Hüte trägt. Er hatte gesagt, einen Hut müsse man so sorgsam auswählen wie einen Ehemann. Noch nie hat Anna einen Hut getragen, das einzige Mal war in Jakobs Krämerladen. Sie hatte gezögert, den Hut mitzunehmen, sich nicht getraut. Ihren Ehemann Johann dagegen hatte sie im Kopfstand ausgewählt und mit aufs Dorf genommen. Jakob sollte Recht behalten. Aber was Jakob nicht gesagt hatte: Ihren alten Hut weiß eine Frau leichter abzulegen als ihren alten Mann. Johann, der ihr damals auf dem Marktplatz mit seinem Mundharmonikaspiel den Kopf verdreht hatte, schläft nicht mehr bei ihr in derselben Kammer, er wärmt sich nicht mehr in ihrem Bett. Aber es ist ihr inzwischen völlig gleichgültig, wo er sich herumtreibt, sie könnte seine intime Nähe gar nicht mehr ertragen. Er soll sie nur in Ruhe lassen, sie nicht mehr anfassen und stattdessen andere Weiber begrapschen. Das ist es, was sie will: In Ruhe gelassen werden!

Anna schöpft Wasser in ihre hohlen Hände und lässt es vorsichtig auf ihr Gesicht tropfen. Langsam fließt es ihren Hals hinunter über ihre immer noch festen Brüste wie ein kleiner Bach. Sie verreibt es sanft zwischen den Fingern. Warum hat sie sich nur für Johann entschieden? Wie konnte sie sich von ihm blenden lassen und ihn aus der Stadt mitbringen wie einen Einkauf, über den man sich hinterher selbst wundert, wenn man ihn zu Hause aus der Tüte kramt? Er war ein absoluter Fehlgriff, dieser Johann, sie hätte wissen müssen, dass er fürs Dorf nicht taugt, dass er auf dem Land nicht glücklich werden würde. Anfangs hegte er vielleicht beste Absichten. Er gab sich durchaus Mühe, aber der beschwerliche Alltag auf dem Bauernhof hier in dieser ärmlichen Gegend erstickte rasch jede anfängliche Begeisterung in ihm. Hinter einem Ochsen und einem Pflug herzulaufen über steinige Felder, das war er schneller satt, als Anna lieb war, aber als sie es erkannte, als sie erwachte aus ihrem süßen Liebestraum, da war es zu spät, ihn wieder abzulegen wie einen gebrauchten Hut. Anna bekam seinen Unmut schnell zu spüren, und nur ein einziges Mal stellte sie ihn zur Rede.

»Wo bist du die Nacht gewesen?«

Johann griff nach der vollen Kaffeetasse, die vor ihm auf den Tisch stand, warf sie ihr an den Kopf. Und das war nicht die einzige Tasse, die durch die Küche flog.

»Das geht dich gar nichts an! Wag es nicht noch einmal, mir hinterherzuspionieren!«

Sie schwieg. Was hätte sie auch sagen können. Das erste Kind, ein kleiner Junge namens Michael, krabbelte vor ihr auf dem Boden, und das zweite Kind trug sie in ihrem Leib. Anna hoffte innig, dass es ein Mädchen würde, und als es geboren wurde, gaben sie ihm den Namen Margarete: Perle, Kind des Lichts. Was blieb Anna da anderes übrig, als zu schweigen. Zu ihrem größten Überdruss musste sie dann zusehen, wie sich Johann mit den Nazis einließ, diesen Nichtsnutzen und neuen Heilsbringern, die den Eifelbauern eine schönere Zukunft versprachen. Es waren viele, die darauf hereinfielen, zu viele. Als würde sich mit den Nazis die Arbeit von alleine machen. Welch einem Trugschluss waren die meisten Bäuerchen erlegen.

Gibt es sie wirklich, diese eine Liebe, fragt sich Anna, während sie ihr verhärmtes Gesicht im Spiegel betrachtet. Stadt und Land passen nicht zueinander, ihre alten Eltern hatten sie gewarnt. Aber sie hatte nicht auf sie gehört. Heute weiß sie, dass sie einen Jungen aus dem Dorf hätte nehmen sollen wie die anderen Frauen.

Aber ob die glücklicher sind? Anna vermag es nicht zu beantworten. Nur eines hat die Erfahrung sie gelehrt: Männer bringen Unheil, so oder so, einer wie der andere, sie sind alle gleich. Und die Frauen halten dicht, sie schließen sich mit ihrem Unglück ein. Anstatt einen kräftigen Durchzug zu veranstalten und frischen Wind in die Stube zu lassen, machen sie schnell Fenster und Türen zu und vergraben sich in ihrem Selbstmitleid. Alles wunderbar, sagen sie ihren Freundinnen: die Ehe, die Kinder, die Arbeit, das Leben. Alles in bester Ordnung, auch wenn sie noch so unglücklich sind. Frauen igeln sich ein, sie schlucken das eigene Leid hinunter, anstatt sich ihm zu verweigern und es auszukotzen wie eine Mahlzeit, die sie nicht vertragen haben. Über alles reden sie gern und machen viele Worte, nur die eigene Wahrheit wollen sie nicht hören. So sind sie, die Frauen hier im Dorf und vielleicht auch anderswo, aber das kann Anna nur vermuten, denn ihre Fußspur reicht nicht weiter als bis zu der kleinen Stadt, in der sie Johann aufgegabelt hatte. Hier endet ihr Horizont: zwei Fahrradstunden vom Dorf entfernt. Nein, die Weibsbilder hier tragen keine Hüte, keiner Frau würde es einfallen, mit einer Windstoßfrisur, die Schläfenhaare nach vorn gekämmt, auf die Straße zu gehen. Und hier, nicht anderswo, spielt ihr verdammtes Leben!

Der Tag fällt in Annas armselige Schlafkammer. Sie könnte viel erzählen, aber nichts, was für andere Ohren bestimmt ist. Auch mit ihrer Tochter Margarete kann sie nicht über alles reden. Das ist vielleicht ein Fehler. Sie will nicht, dass es ihrer Tochter einmal genauso ergeht, wie es ihr ergangen ist. Sie will, dass Margarete glücklich wird. Sie hätte es niemals zugelassen, dass sie diesen Niklas heiratet, ihren Großcousin. Aber andererseits: Die meisten jungen Männer sind in diesem verfluchten Krieg umgekommen. Die Auswahl an gesunden Männern ist nicht mehr allzu groß. Nicht nur um Micha, auch um Margarete macht sie sich Sorgen. Sie will nicht erleben, dass eines ihrer Kinder vor ihr stirbt. Micha erbt den Hof. Aber was soll aus ihrer Tochter werden, wenn der Krieg vorbei ist? Sie braucht einen Mann. Johann zermartert sich darüber nicht den Kopf. Anna hat ihn schon früh die Treppe herunterpoltern hören. Er ist aufgestanden, hat sich seine braune Hakenkreuzuniform angezogen, einen schwarzen Kaffee aufgebrüht, und dann hat er das Haus verlassen, seit Wochen schlecht gelaunt, weil seine Nazifreunde keine Siege mehr verkünden können. Am besten ist es, man geht ihm aus dem Weg.

Anna hat an diesem Morgen viel Zeit vertrödelt. Sie zieht sich rasch an, legt etwas Holz im Schlafzimmer-

ofen nach. Eine Woche noch bis Palmsonntag, und sie muss noch die Fußböden schrubben und wachsen und im Haus klar Schiff machen, wieder einmal steht Ostern vor der Tür, und wieder einmal glänzt Johann den ganzen Tag über durch Abwesenheit. Er zieht von Hof zu Hof, die Moral der Bauern liege am Boden, sagt er, wenn er abends müde heimkommt. Auch Anna weiß, dass alliierte Fliegerbomben auf die deutschen Städte prasseln. Beim neunundsiebzigsten, dem letzten Luftangriff auf Osnabrück an Palmsonntag, am Vormittag des 25. März 1945, kommen mindestens einhundertachtundsiebzig Menschen ums Leben, die noch verbliebenen Gebäude in der Altstadt werden nahezu vollständig zerstört. An diesem Tag kommt der Ortsbauernführer spätabends besonders mürrisch heim, zieht die Stiefel aus, wirft sie in die Ecke, setzt sich an den Tisch, schlürft seine Suppe und verschwindet gleich darauf mit herunterhängenden Mundwinkeln und ohne ein ‚Gute Nacht‘ in seine Bettkammer.

Anna muss in diesen Tagen die Stuben säubern, sie wachst die Dielen mit Ochsenblut, damit sie an Ostern glänzen. So ist es Brauch, das Dorf macht sich für Ostern fein, egal, ob die Welt um sie herum zusammenkracht. Noch spielt Johann dann und wann auf seiner Mundharmonika. Noch werden am Abend auf seine Anordnung hin alle Fenster verdunkelt, noch stapfen sie im Dunkeln zu Fuß zur Frühmesse ins Nachbardorf durch den langsam schmelzenden Schnee, egal ob ein Tiefflieger sie erspäht – nur das »Oh du fröhliche« singt keiner mehr. Die Häuser sind voller einquartierter Frauen und Kinder aus der Stadt, die vor den Bomben fliehen, die auf Köln, Düsseldorf, Hannover, München, Berlin und Kiel niederregnen. Da ist die Luft schwarz. Hier haben sie wenigstens ein Dach über dem Kopf. Hier gibt es noch genug zu essen. Soll sie wirklich, wie jedes Frühjahr, den Holzboden schrubben? Anna denkt an die Männer an der Ostfront, die mit den vielen Flüchtlingen auf dem Rückzug sind – rette sich, wer kann. Ihr fällt ein Satz aus dem Matthäus-Evangelium ein, den die Küsterhelferin Christel immer zitiert: »Bittet aber, dass eure Flucht nicht im Winter geschehe.«

Anna beschließt, den Fußboden in diesem Jahr nicht zu bohnern. Es ist sinnlos.

Als sie die knarrenden Stufen der alten Treppe hinabsteigt, ziehen noch einmal die Bilder jenes Tages an ihr vorüber, als sie Johann auf dem Marktplatz kennenlernte. Einen Augenblick lang bleibt sie auf den Stufen stehen und schließt die Augen. Eine wohlige Wärme durchfließt ihren Körper. Fast schämt sie sich. Die Menschen sind in Sorge, sie haben keine schönen Träume. Anna gibt sich einen Ruck und geht in die Küche. Sie legt kleine Holzspäne auf die Reste der Glut im Herd, sie beginnen zu glimmen, fangen Feuer. Sie schiebt weitere Holzscheite nach und will gerade die Luftklappe schließen, als es an ihre Küchentür klopft. Wo ist Margarete, fährt es ihr durch den Kopf. Sicher schläft sie noch. Auch Mathilde, Will und Lissy haben noch kein Lebenszeichen von sich gegeben. Anna liebt diese Zeit, sie liebt die Frühe. Dann ist es still. Dann ist sie mit sich allein. Sie hat sich gerade heiße Milch aufgebrüht und sich an den leeren Tisch gesetzt. Noch einmal klopft es. Anna erwartet niemanden, und eigentlich will sie keinen hereinlassen und mit niemandem reden; sich diese Stille nicht zerstören lassen. Sie dreht sich zur Tür um, die sich im selben Augenblick öffnet: Da steht er vor ihr: Micha, ihr Sohn! Mit ihm hat sie am wenigsten gerechnet. Sie schlägt die Hände vor den Mund und stößt einen so hellen Seufzer aus, dass er das ganze Haus aufzuwecken vermag. Wie es unerwartet in ihr wühlt und bebt! Ihr wird schwindelig vor Freude, fast ohnmächtig fällt sie in seine Arme. Sein Rucksack knallt dumpf auf die hölzernen Dielen.

»Micha!«

»Mutter!«

»Mein Sohn!«

Sie klammert sich an ihn, am liebsten würde sie ihn an sich ketten.

»Du lebst, mein Gott, du lebst! Der Herrgott hat unsere Gebete erhört«, stammelt sie.

Langsam kommt sie wieder zu sich. Micha setzt sich an den Tisch. Es fällt ihm schwer. Er ist verwundet.

»Dein Bein!«

»Ja, ich habe was abgekriegt. Halb so schlimm«, sagt er. Er werde es ihr erzählen. Aber nicht jetzt. Er habe Hunger. »Es riecht so gut in deiner Küche!«

»Ich habe einen Streuselkuchen gebacken«, sagt sie und stellt keine weiteren Fragen.

Micha hat Hunger wie ein Bär, Anna huscht aus der Küche. Sie holt einen Laib Brot aus der Speisekammer.

»Es ist ganz frisch«, sagt sie und hockt sich zu ihrem Sohn an den Tisch.

»Frisches Brot«, sagt er leise.

Anna ritzt mit dem Messer ein Kreuz ein, sie murmelt ‚Gott segne dieses Brot’ vor sich hin, schneidet es an und reicht ihm eine dicke Scheibe. Er hält die Brotschnitte an seine Nase.

»Ich hatte diesen Geruch fast vergessen. Dafür weiß ich jetzt, wie Pulver riecht.«

Anna kommt mit einem Schöpflöffel, nimmt den Teller, füllt ihn mit Haferflockensuppe. Micha trägt einen Bart. Er ist abgemagert, tunkt die Brotscheibe in den Napf. Anna sieht mit besorgter Miene, wie ihr Sohn das Essen in sich hineinschaufelt.

»Brot mit richtiger Milchsuppe, dass ich das noch mal erleben darf.«

Er solle langsam essen, sonst werde ihm schlecht, mahnt sie.

»Und wenn schon! Besser satt kotzen als hungrig sterben.«

»Wo ist Vater?«

»Ich weiß es nicht.«

»Und Max?«

»Der steht im Stall. Das Pferd und die Katzen sind das Einzige, was deinen Vater hier auf dem Hof kümmert. Gottseidank haben wir die Polen. Wir müssen Brennholz haben, aber das ist deinem Vater egal. Der Winter dauert lange dieses Jahr.«

»Das hier nennt ihr Winter?«, ruft Micha.

Darauf weiß sie keine Antwort. Sie reicht ihm noch ein Stück Brot.

»Hitler braucht kräftige Soldaten, aber bald gibt’s keine mehr.«

»Pst! Ich will jetzt nicht über diesen Kerl reden!«

Micha lächelt sie an und streichelt ihr mit der Hand über die rote Wange.

»Du hast Recht. Es ist so schön warm hier.«

»Leg dich erst mal hin. Ruh dich aus. Du siehst so müde aus. Versuch, ein bisschen zu schlafen.«

»Schlafen …«, sagt Micha leise. »Schlafen ...«

»Ja, schlafen«, wiederholt Anna. »Schlaf heilt die Seele.«

»Ich weiß nicht, ob ich das noch kann. Gibt es Nachricht von den andern Jungs im Dorf?«

»Ich erzähl‘s dir später, das hat doch Zeit.«

»Nein«, insistiert der Sohn. »Hast du was von Karl gehört?«

»Ella, Karls Verlobte, hat vor ein paar Tagen einen Brief von ihm aus Frankreich bekommen. Im Umschlag steckte auch ein Bild von ihm. Er steht lachend, in Siegespose und mit Zigarette in der Hand, vor einem feindlichen Panzer«, erzählt Anna.

»Karl steckt an der Westfront? Er ist verlobt?«

»Karl hat Ella kennengelernt, als er beim letzten Heimaturlaub im Herbst in Cochem Wein gehamstert hat. Ella ist wirklich eine Nette! Wenn sie ihren Namen buchstabiert, dann sagt sie: Ella wie alle, nur rückwärts! Sie ist immer fröhlich und hat nette Sprüche auf Lager. Im Winter ist sie oft ins Dorf gekommen: Sie will herziehen, sobald der Krieg vorbei ist.«

»Sie will wirklich von der Mosel herziehen?«

»Ja, das hat sie vor. Warum auch nicht? Bei den beiden hat’s richtig gefunkt. Das hat sogar der einäugige Edmund erkannt.«

»Nicht zu fassen«, sagt Micha.

Er schüttelt den Kopf.

»Auf der Rückseite des Fotos hat er ein kleines Gedicht für sie geschrieben.«

»Ein Gedicht? Karl hat Ella ein Gedicht geschickt?«

Micha kommt aus dem Staunen nicht heraus. Karl, sein Freund, mit dem er die Schulbank gedrückt hat, schreibt Gedichte? Ausgerechnet Karl, der früher lieber Bäume im Wald gefällt hat oder über die Felder galoppiert ist, als über Hausaufgaben zu brüten? Dieser Karl schreibt jetzt also Liebesgedichte?

»Ja, er hat Ella ein Liebesgedicht geschrieben. Sie hat es allen vorgelesen, immer und immer wieder, sie war so stolz und glücklich. Alle Frauen kennen es inzwischen schon auswendig. Nur einer im Dorf kennt es nicht: dein Vater! Der darf nichts davon wissen!«

»Karl hat wirklich ein Gedicht geschrieben? Sagenhaft! Erzähl! Na los! Sag schon! Du kennst es doch auch!«

Anna ziert sich.

»Na mach schon! Was hat er geschrieben?«

»Du darfst es aber nicht Vater weitererzählen!«

»Ich schwöre es bei Max und allen unehelichen Katzen, die sich auf unserem verdammten Hof herumtreiben«, sagt Micha lachend.

»Also gut.« Anna räuspert sich. »Aber kein Wort davon zu Vater, hörst du?«

»Versprochen!«

»Voll Erwartung Tag für Tag,

auf des Krieges größten Schlag,

auf den Tag der Invasion

auf der Küstenstation.

Bomben fielen jede Stund,

schlugen Frankreichs Küste wund.

Feindlich war uns Schicksals Zwang.

Das war Deutschlands Untergang!«

»Stark«, staunt Micha. »Echt stark. Das ist wirklich von Karl? Recht hat er! Deutschland säuft ab! Und er ist verlobt! Ich kann’s nicht glauben! Er hat auch die Schnauze voll, wie wir alle! Da kann sein Schnappschuss vor dem feindlichen Panzer nicht drüber hinwegtäuschen. Wann ist der Brief angekommen? Vielleicht ist Karl ja schon unterwegs nach Hause!«

»Ja, vielleicht«, antwortet Anna.

»Und was ist mit Niklas?«, fragt er. »Gibt es auch Nachrichten von Niklas?«

Anna weiß nicht, was sie sagen soll.

»Er war auf Heimaturlaub. Dann ist er wieder zurück an die Ostfront«, antwortet sie.

»Zurück an die Ostfront? Welche Ostfront? Es gibt keine Ostfront mehr! Ist er denn völlig verrückt?«

»Er hat sich nicht umstimmen lassen«, erwidert Anna. »Ich erzähl dir alles später. Jetzt schlaf erst mal, du musst dich ausruhen, mein Junge. Versuch zu schlafen!«

»Schon gut«, sagt Micha.

»Ich sag Anne-Kathrin Bescheid, dass du da bist. Sie wird dir alles haarklein berichten.«

*

Micha hat Mühe, die Augen offen zu halten. Bleischwer sind seine Beine. Die warme Ofenluft in der Küche macht schläfrig. Er will sich gerade zurückziehen, als die Haustür auffliegt und Johann hereinstürzt. Er ist sichtlich erregt, zwischen seinen buschigen Brauen zeigt sich eine tiefe Zornesfalte. Als er Micha sieht, hellt sich seine Miene auf. Seine Augen leuchten, ein Lächeln überzieht sein Gesicht.

»Micha!«

Vater und Sohn fallen sich in die Arme, Johann klopft seinem Sohn auf den Rücken.

»Gut, dass du wieder da bist! Mein tapferer Junge! Wir haben uns heftig Sorgen gemacht.«

Micha löst sich aus seiner festen Umarmung, lächelt den Vater verstohlen an.

»Ich habe doch gewusst, dass du dich nicht unterkriegen lässt.«

Johann setzt sich an den Küchentisch. Er deutet auf den Stuhl gegenüber.

»Erzähl! Wie ist die Moral bei der Truppe? Sicher stehen die Reihen fest!«

»Johann«, fährt Anna dazwischen. »Dein Sohn muss sich ausruhen. Lass ihn! Er muss erst mal zur Ruhe kommen! Ihr habt noch genug Zeit zum Reden.«

»Stimmt. Entschuldige, Micha, dass ich mit der Tür ins Haus falle. Aber ich bin so gespannt, wie es an der Front aussieht. Aus erster Hand will ich es erfahren! Die Leute hier machen immer mehr Scherereien. Es wird immer schwerer, die Befehle des Führers durchzusetzen. Die Moral der Bauern sinkt von Tag zu Tag. Sie weigern sich, mir zu gehorchen.«

»Kein Wunder bei dem, was man so hört«, unterbricht ihn Anna.

»Alles Feindpropaganda! Ich bin sicher, Micha wird das bestätigen! Nicht wahr, Micha? Das alles ist übelste Propaganda. Die Front steht!«

Micha schweigt. Er schaut zur Mutter hinüber, die sich am Herd zu schaffen macht.

»Die Bauern bereiten mir Sorgen. Die Ernte im vergangenen Herbst war gut, aber die Familien haben den größten Teil in den Wäldern versteckt. Das ist eindeutig Volkszersetzung. Das kann ich nicht durchgehen lassen!«

Johanns Stimme bebt.

»Ich versteh sie«, sagt Anna. »Die Menschen haben Angst, dass sie im Winter hungern müssen. Deshalb verstecken sie ihre Kartoffeln und ihre Rüben.«

Johann macht eine unwirsche Handbewegung in ihre Richtung.

»Dieser Weidenbach ist der Schlimmste! Ich bin ihm heute Nachmittag in den Wald nachgeschlichen und hab ihn beobachtet, wie er auf dem Steinbüchel im Fichtenwäldchen aus einer Erdgrube Runkelrüben ausgebuddelt und auf seinen wackligen Karren geworfen hat. Er hat Stroh drübergestreut, wollte seine Beute unbemerkt in die Scheuer bringen. ‚Erwischt’, hab ich gerufen und den Delinquenten zur Rede gestellt: Erst hat er nur laut gelacht, aber als ich ihm angedroht habe, ihn abholen zu lassen, hat er kalte Füße gekriegt. Er hat mir gleich die Gruben der anderen gezeigt. Unglaublich, diese Hinterlist! Ich habe alle Erdlöcher konfisziert. Gleich Morgen werden sie ausgehoben. Die Rüben werden dem deutschen Volk zurückgegeben.«

»Mein Gott«, ruft Anna entsetzt. »Wo soll das noch hinführen, wenn …«

»Was willst du damit sagen, Frau«, fällt Johann ihr ins Wort.

»… wenn der Krieg zu Ende ist, meine ich: Dann hast du dir das ganze Dorf zum Feind gemacht!«

»Ich bin Ortsbauernführer und führe Befehle aus«, erklärt Johann kurz und bündig.

»Und der Weidenbach? Wie hat er reagiert«, will Anna wissen.

»Der hat mich nur angeschaut, dann hat er mit dem Kopf gewackelt und ist einfach weggegangen. Dir gehen die Augen auch noch auf, hat er gesagt.«

Anna schüttelt nur den Kopf.

»Der Weidenbach hat recht. Wenn der Krieg aus ist, nehmen sie uns alles weg!«

»Quatsch, Weib! Alles Quatsch! Hör auf, den Teufel an die Wand zu malen!« Johann fuchtelt ungeduldig mit der Hand. »Dieser verfluchte Weidenbach hetzt alle im Dorf gegen mich auf.«

»Kannst du dich nicht ein bisschen zurückhalten?«, fragt Micha. »Man kann Befehle ja so oder so auslegen.«

Aber Johann hat sich mehr und mehr in Rage geredet.

»Vor zwei Wochen habe ich alle Bauernhöfe abgeklappert und befohlen, die Tischordnung zu ändern. Ostarbeiter gehören in den Stall! In den Stall! In den Stall! In den Stall!«, brüllt er mit sich überschlagender Stimme. »Der Weidenbach hat mich doch tatsächlich rausgeworfen. Verschwinde! Verlass sofort mein Haus, hat der Kerl gerufen.«

»So böse habe ich deinen Vater noch nie gesehen«, staunt Anna.

Sie stellt eine Flasche Schnaps auf den Tisch.

»Noch bestimme ich, wer auf meinem Hof Ostarbeiter ist und wer nicht, hat er mir frech entgegengeschleudert, dieses Arschloch!«

Vor Wut verschluckt sich Johann und bekommt einen Hustenanfall. Anna stellt ihrem Mann einen Teller mit dampfenden Kartoffeln vor die Nase, die es jetzt fast jeden Tag gibt, mal gebraten, mal gekocht, dann wieder gebraten.

»Iss was«, sagt sie zu Johann. »Wenn du hungrig bist, rastest du aus.«

Johann mampft und redet mit vollem Mund weiter. Anna nickt Micha hinter Johanns Rücken zu und bedeutet ihm, er solle sie alleinlassen. Micha hebt den Rucksack vom Boden auf und bewegt sich rückwärts aus der Küche. An der Tür stößt er sich den Kopf.

»Autsch … Wo ist Margarete? Wie geht es ihr?«

»Liegt sicher noch im Bett. Sie hat ständig Kopfschmerzen«, antwortet Anna.

»Geh jetzt, ruh dich aus. Margarete läuft dir nicht weg.«

Er steigt die Treppe hoch in sein Zimmer. Wie warm die Kammer ist! Im Ofen lodert das Feuer, daneben liegt trockenes Holz. Mutter hat wirklich fest geglaubt, dass ich wiederkomme, sie hat auf mich gewartet, denkt er, als er sich auf das Bett fallen lässt. Sie hat den Ofen befeuert, damit es im Zimmer warm ist, wenn ich heimkomme, obwohl sie nicht wusste, wann das sein würde.

Micha streift die verdreckte Uniform ab, reißt sich das Oberhemd, seine Unterhose, seine stinkenden Socken vom Leib, kriecht unter das wärmende Federbett. Es duftet nach Lindenblüten, die seine Mutter im Spätsommer zum Trocknen auf den Speicher legt. Micha döst ein, Tausende von Bienen summen in seinem Schädel wie in der Kastanie draußen im Hof, wenn es Sommer ist. Er zieht sich die Decke über den Kopf. Ob die Öfen in den Stuben der anderen Kameraden im Dorf auch brennen diese Nacht? Micha versucht einzuschlafen.

Es ist still.

So still.

Die Stille im Dorf

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