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Anfang Dezember 1944

Niklas packt den Rest Brot aus der Vorratskammer in seinen Tornister und schnürt ihn zu. Dann bindet er sich den langen Wollschal, den ihm die Mutter gestrickt hat, um den Hals. Allein sitzt er mit einem Bogen Papier und einem Stift am Küchentisch, sein Heimaturlaub ist vorüber, pfeilschnell sind die Tage im Dorf verflogen. Margarete hat er nur einmal kurz treffen können, die Mutter hat ihn voll in Beschlag genommen und nicht aus den Augen gelassen. Wenn er sie nur in seinen Rucksack stecken könnte! Wenn er nur etwas von dem Frieden dieser Adventnacht mitnehmen könnte an die Front! Den Küchengeruch! Das leise Knistern des Holzfeuers im Ofen! Dann wäre es leichter aufzubrechen. Sind es nicht die Mutlosen, die zuerst ertrinken, wenn das Schiff untergeht, weil sie bis zum Schluss den unsinnigsten Befehlen gehorchen?

Im Ofen glimmt das Feuer.

Niklas schreibt einen Brief an die Mutter: Das Holz werde über den Winter reichen. Sie solle nur gut darauf achten, dass die Hühner keine kalten Füße kriegten, denn dann sei es vorbei mit dem Eierlegen. Und sie solle dem Ochsen kräftig Futter geben, damit er bei Kräften bleibe bis zum Frühjahr, dann sei er bestimmt wieder zurück. Versprochen! Pass auf dich auf! Alles wird gut, schreibt Niklas und legt einen vergilbten Zettel bei, darauf ein kleines Gebet, das Paul ihm im Schützengraben gegeben hatte, kurz bevor die Granate ihn zerfetzte. Er hat seiner Mutter, die wissen wollte, ob es an der Front jemanden gebe, auf den er sich verlassen könne, von Paul erzählt. Aber er hat nicht gesagt, dass es ihn getroffen hat. Auf wen kann sich der Soldat im Krieg verlassen? Niklas faltet den Bogen, schiebt ihn zusammen mit Pauls Zeilen in einen Umschlag und legt den Brief mitten auf den Tisch. Dann schnürt er den Rucksack auf den Rücken, wirft noch einmal einen Blick zurück in die Küche. Wie warm, wie gemütlich es hier ist! Er zieht sich die Mütze über den Kopf, öffnet die Tür. Durch den dunklen Flur verlässt er das Haus und geht hinaus.

Draußen, vom Hof aus, kann er die Straße einsehen, die hinab zur Kirche führt. Auf den Dächern liegt Schnee. Niklas spürt, wie die Kälte unter seine Kleider kriecht. Wie kalt wird es erst in Russland sein? Er zieht den wollenen Schal enger um den Hals, dreht sich noch einmal um. Das kleine Bruchsteinhaus; die leeren Schwalbennester unter dem Dach; die knorrig-kahlen Äste des wilden Weins, die sich an den Putzresten festkrallen; der Misthaufen, der dampft wie ein Topf warmer Nudeln. Vor der Haustür sitzt Penelope, die nicht schläft und ihn ansieht, als spüre sie, dass er wieder aufbricht.

Niklas geht die Straße hinunter, an der Kirche vorbei und verlässt das Dorf. Dahinter öffnet sich der weite Horizont. Preußisches Sibirien, so nennen die Deutschen die Gegend hier. Ein zarter Lichtsaum fällt auf die steinigen Böden. Es ist noch nicht lange her, da haben die Männer die Rennstrecke rund um die Nürburg ausgeschaufelt. Von überall her waren sie gekommen, brachten ihre Hacken und Schaufeln mit, sie waren arbeitslos. Und jetzt sagt Johann Gross, dieser Hitler habe den Nürburgring gebaut. Die Nazis behaupten sogar, sie hätten die Autobahn erfunden. Sie haben eigens einen Generalinspekteur Straßenwesen ernannt. Aber die Menschen rund um die heilige Autostrecke glauben dieser Propaganda schon lange nicht mehr. Auch Niklas weiß inzwischen, dass nichts von dem stimmt, was die Nazis sagen.

Noch könnte Niklas sich in die einsamen Wälder schlagen, sich dort verstecken wie damals der »Stumpfarm«, der in der Eifel gewildert und gemordet hat, bis man ihn aufspürte, vor dem Koblenzer Schwurgericht zum Tode verurteilte und im Kölner Klingelpütz enthauptete. Abhauen ist sinnlos, egal ob im Krieg oder im Frieden, denkt Niklas. Weglaufen ist keine Lösung.

Als er Koblenz erreicht und der Zug einrollt, ist es bereits taghell. Auf dem Bahnhof wimmelt es von Soldaten. Es ist nur ein kurzer Halt. Niklas wirft seinen Tornister mit Schwung in den offenen Bahnwaggon und springt auf den anfahrenden Zug. In einer Ecke des Waggons findet er ein freies Plätzchen, hier hockt er sich nieder zwischen zwei schlafende Soldaten.

Das gleichmäßige Rattern der Räder auf den Schienen macht auch Niklas schläfrig. Er denkt an Margarete, von der er sich nicht hatte verabschieden können; er denkt an die Mutter, die seinen Brief inzwischen gefunden haben muss. Sein Herz zieht sich zusammen. Alle haben ihm bis zuletzt zugeredet, dass er sie nicht im Stich lassen dürfe, dass eine Mutter mehr zähle als ein Führer oder ein Vaterland. Er ist ein Bauernjunge, er ist kein Feigling. Die Mutter wird ihn verstehen: Ein Bauer muss graben, wo er steht. Er schlägt sich nicht in die Büsche.

Niklas kann sich nur schwach an seinen Vater erinnern, er war noch klein, als sie ihn tot auf einem Karren heimbrachten. Niklas durfte ihn nicht sehen. Er war doch noch ein Kind. Einmal, da hatte er den Vater gefragt, warum ein Huhn nur ein Ei legt pro Tag, warum nicht zwei oder drei, dann hätten sie welche verkaufen können und mehr Geld.

»Den Hühnern ist es schnurzpiepegal, ob wir Geld haben oder nicht«, antwortete der Vater.

»Hühner sind dumm«, sagte Niklas.

»Da bin ich mir nicht sicher. Ein Ei auszubrüten, das will was heißen. Das ist komplizierter, als man denkt, mein Junge. Ich habe großen Respekt vor den Hühnern. Die leisten verdammt gute Arbeit!«

Im Sommer hatte der Vater ihm beigebracht, wie man Forellen mit den bloßen Händen fischt, man kitzelt sie unter dem Bauch, dann halten sie still. Blitzschnell muss man zupacken und sie aus dem Bach auf die Wiese werfen. Da zappeln sie, ringen nach Luft. Und dann ein gezielter Schlag mit einer Weidenrute ins Genick. Der Vater hatte ihm gezeigt, wie man Wasser vom Dorfbrunnen heimträgt, dampfende Kartoffeln aus dem Kessel in einen Eimer schöpft, mit den Händen zerquetscht, die Schweine damit füttert. Und dann hatten sie seinen toten Körper nach Hause gebracht. Er hätte ihn noch vieles fragen wollen: wie man einen störrischen Ochsen vor den Pflug spannt, einen Zaun repariert, einen Baum pflanzt; wie man einer Frau sagt, dass man sie liebt.

Als sie jung waren, konnte er mit seinem Freund Micha, mit Margarete und Maria Forellen fischen, sie über dem Lagerfeuer braten. Er konnte Margarete in den Arm nehmen. Aber er konnte ihr nicht sagen, dass er sie liebt. Er wusste nicht, wie ein Mann einer Frau seine Gefühle gesteht. Durch sie weiß er jetzt, wie es sich anfühlt, wenn man eine Frau begehrt; seit ihrem Kuss spürt er das Kribbeln in seinem Bauch. Wenn der Krieg vorbei ist, so denkt er, werde ich Margaretes Versprechen erneuern! Ich werde mich zu ihr bekennen, egal, was die Leute reden! Egal, ob wir miteinander verwandt sind!

Alles hat seine Zeit: der Krieg, die Liebe.

*

Anne-Kathrin kommt am Morgen in die Küche. Auf dem Tisch liegt ein Brief. Sie hat gehofft, dass Jockem Niklas überredet hat, sich in den Wäldern zu verstecken, bis der Krieg vorbei ist. Sie nimmt das Papier, stolpert die Treppe hinauf, reißt die Tür zu seiner Schlafkammer auf, starrt auf das leere Bett. Sie läuft hinaus in den Stall, Penelope springt ihr entgegen.

»Niklas ist fort«, sagt Anne-Kathrin enttäuscht. »Er ist fort! Hat sich nicht von uns beiden alten Damen verabschiedet.«

Zurück in der Kammer sinkt sie auf den Stuhl neben dem Ofen, öffnet den Umschlag und liest den Brief. Er beginnt mit Pauls Gebet:

»Noch schwebe ich hoch in den Lüften.

Schwer zieht die Erde an meinem Seil.

Herr, wenn meine Flügel lahmen:

Wirf deinen Blick

hinab in mein Tal.

Bleib bei mir! Rette mich!«

Anne-Kathrin liest und liest, bis die Buchstaben vor ihren Augen verschwimmen. Sie streichelt Pauls Gedicht, streichelt den Brief, schiebt beide Blätter zurück in den Umschlag und legt ihn in die alte Eichenkommode zu ihrer Wäsche, die nach getrockneten Sommerwiesenblüten duftet. Erst jetzt versteht sie, wie verzweifelt ihr Junge gewesen sein muss. Sie hätte ihrem Sohn noch so viel sagen wollen, so viel sagen müssen. Aber sie hat in diesen wenigen Tagen nie den Mut, nie den richtigen Augenblick, nie die richtigen Worte gefunden. Vielleicht ist es jetzt zu spät. Wie grausam der Krieg doch ist und wie ungerecht!

Sie schaut aus dem Fenster hinab auf die Straße. Nachbarskinder rennen über das Pflaster. Sie spielen im frischen Schnee. Der Morgen ist weiß. Er ist unschuldig. Ein paar Spatzen lassen sich auf dem Gartenzaun nieder und fliegen wieder davon. Mit ihren Füßchen haben sie eine feine Spur in den Schnee gestanzt, es sieht aus wie ein kleines Kunstwerk. Die Kirchturmuhr schlägt, Anne-Kathrin zählt nicht, wie oft. Von ihrem Dachfenster aus kann sie den Turm sehen. Wo ist die Eule, denkt sie. Warum müssen Frauen immer alles allein durchstehen? Sie geht die steilen Stiegen der Holztreppe hinunter, huscht durch den dunklen, kalten Flur in die Küche. Sie wandert hin und her wie eine Gefangene in ihrer Zelle. Sie legt dünne Holzscheite auf die abgebrannte Glut, die gleich zu lodern beginnt. Die dürren Knüppel brennen wie Zunder. Feiner Rauch weicht durch die Ritzen der Ofenplatte in den Raum, Anne-Kathrin schlägt die Herdklappe zu. Sie setzt sich an den Tisch: Das monotone Ticktack, Ticktack der Uhr an der Wand, daneben das verrutschte Bild des Führers, das Knistern des Feuers.

Anne-Kathrin kennt sich aus mit dem Feuer, den ganzen Winter über geht es nicht aus. Abends wickelt sie einen dicken Eichenklotz in nasses Papier und legt ihn auf die zischende Glut. Das hat ihr die Mutter gezeigt. Am Morgen legt sie dünne Scheite auf den glühenden Klotz, und sogleich flackert die Flamme. Das Geäst, das sich in ihrem Schuppen stapelt, ist trocken und liegt dort schon seit Jahren. Die Buchenscheite müssen lange lagern, mindestens ein Jahr. Ihr Mann hat sie noch geschlagen, er hat immer für genug Gehölz gesorgt.

Anne-Kathrin schließt die Augen. Irgendwo da draußen durch die Kälte irrt ihr Sohn.

»Lieber Gott, lass Niklas gesund wiederkommen! Nimm mir nicht auch noch das einzige Kind«, betet sie leise vor sich hin. »Bald ist Weihnachten. Gott, dein eignes Fleisch und Blut wird geboren. Nimm mir meins nicht weg!«

Sie schämt sich, mit dem Allmächtigen zu handeln, wie sie mit einem Juden im Stall um ein Stück Vieh gefeilscht hat. Sie weiß nicht mehr, was sie von diesem Heiland halten soll. Gibt es ihn überhaupt?

Neben dem Ofen ist Penelope eingeschlafen.

Die Stille im Dorf

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