Читать книгу Der Schwede - Karl Eidem - Страница 10
Stockholm
Оглавление1. bis 10. März 2012
Noch hatte Ido die Zügel in der Hand, aber Hans beabsichtigte, das zu ändern. Er wollte selbst die Oberhand gewinnen. Aber wie? Welche Dokumente konnte er beschaffen, ohne die ganze Zeit am Haken des Mossads zu hängen? Er rief seinen Kontakt in der Moskauer Botschaft an, stellte ein paar Fragen und bekam sogar die Antworten, die er sich erhofft hatte. Danach kontaktierte er Erik ein weiteres Mal. Sie hatten nichts mehr voneinander gehört, seit Hans mit der Speicherkarte die Sauna verlassen hatte. Hans gab Erik einen neuen Auftrag und vergaß das Ganze augenblicklich wieder.
Ein paar Tage später klingelte sein Handy. Erik war zurück in Schweden und hatte etwas zu berichten.
„Ehrlich Hans, das war ganz schön anstrengend.“
„Erzähl!“
„Ich war beim Stadtteilbüro. Die nennen sich auf Russisch ein bisschen anders, aber Gott sei Dank hat man die Sprache ja irgendwann einmal gelernt. Das Archiv lag gleich dort, im Keller, ein bisschen spooky. Die Rezeptionistin wirkte wie eine Parodie, kaute demonstrativ gelangweilt Kaugummi und schaute kaum auf, als ich hereinkam. Ich habe sie um die archivierten Unterlagen zur X-Straße gebeten, und sie hat mir mit großem Widerwillen gezeigt, wo ich alles finde.“
„Und …?“
„Sie wollte eine Unterschrift von mir, aber ich habe nur etwas Unleserliches hingekritzelt. Dann sind wir zusammen durch ein paar muffige Korridore gelatscht. Sie hat mir eingebläut, nichts mitzunehmen und nichts zu kopieren. Ich habe ihr eine falsche Adresse gegeben, um mich nicht verdächtig zu machen, aber als sie mich alleinließ, habe ich mir die richtige Mappe geschnappt …“
„Und …? Komm zum Punkt, Erik!“
„Sie war leer, Hans. Komplett leer. Ich habe noch ein Beweisfoto gemacht, aber die verdammte Mappe war leer.“
Beim Squashspielen kam er oft auf neue Ideen. Als ob sein Kurzzeitgedächtnis gelöscht und der sich endlose wiederholende Gedankenstrom für einen Moment komplett abgeschaltet würde, während er auf dem kleinen Spielfeld dem Ball hinterherjagte. Anschließend überkam ihn immer eine Ruhe, die Platz für völlig neue Gedanken schaffte. Die Sporthalle lag in der Nähe von Gärdet am Rand der Stockholmer Innenstadt in der Wittstocksgatan, nicht allzu weit von seiner eigenen Wohnung entfernt. Die Anlage war klein und fast in Vergessenheit geraten, mit gerade einmal drei Plätzen. Hans spielte hier schon seit einigen Jahren. Plötzlich drängte sich ihm das Wort Scheideweg auf. Auf der Holzbank im Umkleideraum sitzend, war es auf einmal da.
Gerade befand sich Hans an einem solchen Scheideweg. Er hatte das Foto der leeren Mappe gesehen, das Erik ihm aus Moskau geschickt hatte. Ohne Erklärung, ohne Kommentar hatte Hans es, ein wenig unvorsichtig, an Ido weitergeleitet. Eine leere Mappe, das konnte alles bedeuten – oder nichts. Jetzt konnte er zwei unterschiedliche Wege einschlagen. Lass es gut sein!, besagte das erste Hinweisschild. Das ist eine falsche Fährte. Mach weiter!, stand auf dem anderen Hinweisschild. Du bist da etwas auf der Spur. Vielleicht sogar etwas Großem. Während des Spiels hatte Hans eine neue Nachricht bekommen.
„Hallo, hier ist wieder JJ von RR Search. Ich habe gute Neuigkeiten! Sie wollen sich hinsetzen und konkrete Bedingungen aushandeln. Rufen Sie mich einfach an, dann erzähle ich mehr. Fantastisch, Hans – meine Glückwünsche!“
Und jetzt das hier! Hätte er ein Faible für künstlich herbeigezogene Interpretationen, könnte er das als ein Zeichen auslegen. Bei der Säpo war er am Ende der Fahnenstange angelangt, aber immerhin war ein neuer, guter Landeplatz bereits in Sicht, und er brauchte den letzten Faden, der ihn hielt, nur noch zu durchtrennen. Dahingegen gab es keinen Grund, an dem dünn gesponnenen Faden aus obskuren Fotos und Intrigen des Mossads festzuhalten. Aber Hans Edelman hatte nichts für die Deutung von Zeichen über. Sein ganzes Leben lang hatte er sich für sein analytisches, methodisches Vorgehen gerühmt, sich voll und ganz und ohne observation bias auf einzelne Fakten und Ereignisse konzentriert. Er war noch nicht bereit, das alles loszulassen. Irgendetwas war im Gange. Aber was? Er meinte, ein Muster zu erkennen. Ein Muster aus Vertuschung, Ausweichen und Täuschung.
Und wieder führte ihn die Spur zurück zum Mossad. Bald würde er gezwungen sein, jemanden bei der Säpo einzuweihen, obwohl es ausgesprochen gute Gründe gab, seine Absichten geheim zu halten. Zum einen lief er Gefahr, abgeschossen zu werden – bildlich gesprochen. Alles, was vom Gewöhnlichen abwich, wurde anhand der damit einhergehenden Risiken bewertet. Die sogenannten Nebeneffekte. Es galt, seinen Job zu machen und nicht aufzufallen. Zum anderen war Hans davon überzeugt, dass die Russen Maulwürfe oder Informanten bei der Stockholmer Säpo hatten. Alles andere hätte ihn überrascht. Daher musste er einen Weg finden, sich mitzuteilen, ohne zu viel Staub aufzuwirbeln, aber gleichzeitig so klare Ansagen zu machen, dass er irgendeine Art go-ahead provozieren konnte. Er fühlte sich besser, rief den Headhunter an und vereinbarte einen Termin für Mitte der kommenden Woche, obwohl er seinen Fall weiterhin verfolgen wollte.
Hans kehrte zurück in sein Dienstzimmer bei der Säpo. Neben das verschwommene Bild des Mannes im Fenster hatte er die Namensliste und das Foto der leeren Mappe geheftet. In einer Ecke klebte ein Davidstern, der Hans vorerst als Symbol für Jerusalem diente und für das ausgesprochen große Interesse des Mossads daran, womit er sich gerade beschäftigte. Der Klingelton seines Handys durchbrach die Stille. Eigentlich hatte Hans vorgehabt, dieses Gespräch selbst zu initiieren, aber als er die bekannte Stimme hörte, musste er feststellen, dass Ido ihm schon wieder zuvorgekommen war. Zu seiner Verwunderung hatte Ido direkt verstanden, was die leere Mappe zu bedeuten hatte.
„Also, Hans, uns fehlt immer noch ein Plan vom Haus. Ein leerer Ordner? Vielleicht sollten meine Freunde vor Ort doch ein bisschen stärker ins Rad greifen, was meinst du?“
„Das kam von dir, Ido, nicht von mir.“
„Alles klar, mein Freund. Du hörst in Kürze von mir. Ich halte einen kleinen Schwatz mit ihnen und melde mich dann wieder.“
„Weißt du irgendetwas über die Villa?“
Ido zögerte mit der Antwort, als wollte er betonen, wie sehr es ihm widerstrebte, Hans für lau Informationen zuzuschustern.
„Wenn du so fragst … Die Villen in diesem Viertel gehörten früher den ganz hohen Tieren beim KGB. Ein schöner Ort, um sich nach Feierabend von all den Verhören und der Folter in der Lubjanka zu erholen.“
„Wann war das?“
„Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion. Ich bin mir nicht sicher, was danach passiert ist. Wahrscheinlich sind die Grundstücke verkauft worden. Vermutlich für einen Appel und ein Ei an Leute mit den entsprechenden Kontakten.“
„Klingt nach einer guten Spur. Können wir das weiter aufrollen?“
„Man kann immer in der Geschichte nachforschen, aber jetzt haben wir nicht vor, die Umstände dort zu untersuchen. Wenn herauskommt, dass jemand in diese Richtung ermittelt oder Informationen einholt, kann das Konsequenzen haben. Sie könnten den Gefangenen verlegen. Wir glauben, dass wir hier vorsichtig handeln müssen. Uns leise anschleichen …“
„Auf Samtpfoten, wie eine Katze“, murmelte Hans.
„Wie eine Katze, genau. Ohne den kleinsten Laut.“
Nach dem Gespräch druckte Hans ein Bild von Moskau aus dem Internet aus und heftete es in eine andere Ecke seiner Anschlagstafel. Das Bild zeigte unter anderem eine Kirche mit einer Kuppel. Hans trat ein paar Schritte zurück und musterte seine zusammengetragenen Hinweise. Ein paar vereinzelte Bilder. Da schimmerten immer noch verdammt viele weiße Lücken durch. Ungefähr so fühlte sich der ganze Fall für ihn an – zerfasert, ohne einen roten Faden, der die einzelnen Elemente irgendwie verbinden würde.
Als Nächstes plante Hans, seinen Vorgesetzten zu informieren. Bevor er weitere Schritte unternahm, musste er ein neues Projekt registrieren lassen, um den Rücken frei zu haben. Hilfe brauchte er nicht. Umfangreiche Ressourcen auch nicht. Am liebsten war es ihm, wenn man ihn einfach in Ruhe arbeiten ließ. Er stellte sich seinen Vorgesetzten immer wie ein Insekt vor, das nie lange an einer Blume haltmachte, sondern gleich zur nächsten weiterhüpfte, um niemals stecken zu bleiben oder festgehalten zu werden, immer besorgt, nicht mehr wieder loszukommen.
„Hallo, Hans“, begrüßte ihn sein Vorgesetzter, ohne auch nur aufzublicken, als Hans den Raum betrat. Stattdessen blieb er in Gedanken versunken hinter seinem Schreibtisch sitzen.
„Was kann ich für dich tun?“
„Ich will nur kurz eine Sache ansprechen, auf die ich zurzeit ein Auge habe. Nichts Wichtiges.“
„Nichts Wichtiges? Warum bist du dann hier?“
Falsche Taktik.
„Äh, nein. Ich meine, dass ich es wichtig finde, dich vorab zu informieren, angesichts der ganzen bürokratischen Vorgaben und möglichen Kosten. Ich bin auf eine ungewöhnliche Spur gestoßen, ein Gerücht über einen Schweden in Moskau.“
Er berichtete so vage wie möglich von seinen Recherchen und ließ die Verbindung zum Mossad vorerst unter den Tisch fallen. Sein Chef hörte ihm allem Anschein nach desinteressiert zu.
„Nicht viel, womit man hier arbeiten könnte, finde ich“, stellte er anschließend fest. „Was hast du jetzt vor?“
„Ich will nur den ein oder anderen Stein umdrehen. Vielleicht mal mit ein paar von den Ops sprechen – also den Leuten in der Abteilung für die operative Unterstützung – und hören, was die dazu zu sagen haben.“
„Ich habe nicht vor, den Minister davon in Kenntnis zu setzen, nur, damit du Bescheid weißt.“
„Damit hatte ich auch nicht gerechnet.“
Gerade, als Hans sich von seinem Stuhl erheben wollte, nahm sein Chef ihn beiseite.
„Ich hoffe, du bringst da nicht irgendein Riesending ins Rollen. Das würde uns gar nicht in den Kram passen. Die Vorteile halten sich eher in Grenzen.“
„Ich weiß. Aber irgendwas muss ich unternehmen.“
„Aber bitte keine verdammte Flüchtlingsgeschichte. Hinterlasse keine Spuren, wenn du verstehst, was ich meine … keine S-P-U-R … wie in diesem Buch.“
Hans wusste, dass er auf ein Buch anspielte, das gerade erst herausgekommen war und der Säpo eine ganze Menge Bauchschmerzen bereitet hatte. Als er auf die Tür zuging, nahm sein Chef ihn noch einmal ins Visier.
„Hör zu, Hans, bleib an dieser Spur dran. Schaden wird es nicht. Übrigens habe ich gehört, dass du dich bei der Personalabteilung bezüglich deiner Kündigungsfrist erkundigt hast.“
„Ich wollte nur mal nachfragen, kann nicht schaden, so etwas zu wissen.“
„Sicher, sicher. Jeder von uns fragt sich mal, ob er das Richtige tut. Denk aber daran, dass wir hier große Stücke auf dich halten und dass du gerne deine Suche nach demSchweden in Moskau durchziehen kannst.“
Mit den Zeige- und Mittelfingern malte er Gänsefüßchen in die Luft, so, als müsste er seiner Skepsis zusätzlichen Ausdruck verleihen.
Das kurze Gespräch ließ Hans mit zwiespältigen Gefühlen zurück. Welchem bürokratischen, selbstgefälligen System hatte er sein Leben eigentlich gewidmet? Halt den Ball flach! Wirble keinen Staub auf! Denk an die Risiken, nicht an die Möglichkeiten! Allerdings hatte er genau das erwirkt, worauf er es abgesehen hatte. Er hatte seine Karten gut ausgespielt. Sich bewusst mit der Personalabteilung in Verbindung gesetzt zu haben, war die richtige Strategie gewesen. Das hatte ihm Zeit und Handlungsspielraum verschafft.
An diesem Abend schaute er sich mit Stina einen französischen Kinofilm an. Anschließend gingen sie ins Restaurant. Er fühlte sich innerlich so stark wie schon lange nicht mehr. Es war an der Zeit, den nächsten Schritt zu wagen. Außerdem musste er mehr über den KGB in Erfahrung bringen. Mit welchen Leuten würde er es zu tun bekommen? Wenn es einen Schweden gab, der in Moskau gefangen gehalten wurde, dann musste es auch Russen geben, die ihn gefangen hielten, die ihn bewachten und Personen im Hintergrund, die die Wachen überwachten. Wer waren diese Leute und was führten sie im Schilde?
Der KGB war für Hans immer nur ein gesichtsloser Wasserkopf gewesen, und seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte er keinen Gedanken mehr daran verschwendet. Bei internationalen Konferenzen hatten sich die Vertreter des KGBs immer rar gemacht. Kooperationen waren nicht gerade ihr Ding. Er musste versuchen, sich mehr mit dem Thema vertraut zu machen. Er brauchte ein Motiv. Wenn er an den KGB dachte, kamen ihm zwei Dinge in den Sinn: Gift und Desinformation. Gift als Hinrichtungsmethode anzuwenden, war schon immer schwach gewesen. War nicht erst neulich dieser Russe in London mit Uran vergiftet worden? Für den KGB schien das ja eine geeignete Methode zu sein. Für den schwedischen Nachrichtendienst auf keinen Fall. Und dann immer diese Desinformation, die Lügen und falsche Propaganda – auch das waren offenbar beliebte Methoden.
Hans erinnerte sich daran, gelesen zu haben, dass der KGB versucht hatte, den Mord an JFK dafür zu nutzen, falsche Informationen zu verbreiten und die Tat selbst als Vorspiel eines amerikanischen Bürgerkriegs erscheinen zu lassen. Ja, das waren Methoden, mit denen Hans nicht vertraut war. Dieser Fall aus Moskau passte allerdings nicht ganz ins Bild. Er kam leise daher. Diskret. Und wenn etwas dran war, dann wurde dort jemand am Leben gehalten – also das Gegenteil von allem, was man erwarten würde. Was sollte das? Bei der Säpo gab es einen Experten, der sich besonders gut mit Russlands Angelegenheiten auskannte. Intern wurde er der KGB-Kenner genannt. Hans musste sich dringend mit ihm unterhalten – vielleicht konnte er ja ein bisschen Licht ins Dunkel bringen.
Er hatte David Karlén schon eine ganze Weile auf dem Schirm gehabt. Nach seiner Intervention im Fall des entführten US-Botschafters in Stockholm war sein Stern beim Nachrichtendienst steil in die Höhe gestiegen. Er galt als einer der Besten. Wenn nicht sogar als der Beste. Hans hatte seine Akte in Ruhe studiert und sich intern diskret umgehört. Karlén hatte einen Abschluss von der Försvarets tolkskola, später hatte er bei den Fallschirmjägern gedient. Von dort aus war er direkt zu den Spezialkräften der Polizei gewechselt.
Außerdem stand dort, dass bei ihm eine sogenannte Bindungsstörung diagnostiziert worden war – in der Akte war von einer Attachmentproblematik die Rede, was auch immer das bedeuten mochte. Karlén war unverheiratet und hatte keine Kinder. Am Rand der Akte hatte der Psychologe etwas notiert: „Möglicherweise ist es gerade diese Störung, die seine Effektivität und Kompetenz in Drucksituationen bedingt – die Fähigkeit, Unbehagen und das Gefühl der Bedrohung komplett auszublenden.“ Karlén war hoch qualifiziert und hatte Zertifikate für den Gebrauch von Handfeuerwaffen, den Nahkampf und allgemeiner körperlicher Leistungsfähigkeit. Hans hatte kurz überlegt, David im Rahmen einer Finte zu entlassen und ihn dann heimlich wieder für den Fall anzuheuern. Diese Idee hatte er allerdings schnell wieder verworfen. Das wäre viel zu kompliziert gewesen, hätte die Beteiligung von zu vielen Instanzen erfordert und schlussendlich nur unnötig Aufmerksamkeit erregt.
Angesichts dieses Lebenslaufes hatte Hans einen harten, abgebrühten Typen erwartet, aber dieser Erwartung wurde sein erster Eindruck von David gar nicht gerecht. Im Gegenteil – er erinnerte ihn ein wenig an sich selbst, so entspannt und neugierig, wie er wirkte. Er war groß und von kräftiger Statur, hatte blasse Haut und einen rötlichen Schimmer im Haar.
„Nur damit du es weißt, du hast mir heute eine neue persönliche Bestleistung versaut“, warf er Hans gleich zu Beginn vor.
„Wie das?“, fragte Hans.
„War gerade auf dem Laufband, als dein Anruf hereinkam. Ich muss wirklich daran denken, mein Handy nicht bei mir zu tragen, wenn ich auf Rekordkurs bin.“
Hans war sich nicht hundertprozentig sicher, ob sein Kollege scherzte oder nicht, weshalb er den Kommentar überging und mit einem allgemeinen Briefing begann, nicht ganz unähnlich dem Vortrag, den er seinem Vorgesetzten am Tag zuvor gehalten hatte. Bei der Säpo waren über eine internationale Kontaktperson Hinweise zu einem Schweden eingegangen, der in Moskau versteckt wurde. Nachforschungen hatten diesen Eindruck bestätigt, wenngleich es noch zahlreiche Lücken zu schließen gab. Erkundigungen auf diplomatischem Wege waren bis auf Weiteres ausgeschlossen.
Als Nächstes gelte es, die Lage einzuschätzen, erklärte Hans. In einem Nebensatz erwähnte er, dass der Mossad mit einigen Informationen ins Rad gegriffen hatte. David hörte aufmerksam zu und warf hier und da eine Nachfrage ein. Es war immer eine Abwägungsfrage, wann man einen der Ops im Ermittlungsprozess mit einbezog, aber in diesem Fall war Hans’ Entscheidung auf so früh wie möglich gefallen. Er wollte von Beginn an einen wasserdichten Plan ausarbeiten, und es lag keine Gefahr darin, David jetzt schon mit an Bord zu holen – bis auf die unwahrscheinliche Möglichkeit, dass er in der Öffentlichkeit zu laut darüber redete. Aber dieses Risiko konnte Hans eingehen.
„Darf ich mir die Namensliste mal ansehen?“
Hans nickte in Richtung seiner Pinnwand. David musterte die angehefteten Notizen eine Weile und machte dann Anstalten aufzustehen und sich das Ganze aus der Nähe anzuschauen, aber Hans bedeutete ihm, sitzen zu bleiben.
„Ja, da ist noch zu viel Weiß zu sehen. Ich kann da noch kein Muster erkennen. Aber ich habe hier noch eine Kopie der Liste.“
Hans zog einen Zettel hervor und legte ihn auf den Tisch. Zusammen gingen sie die vier Namen mit den kurzen biografischen Angaben durch.
Sven Hall (SH). Internationaler Geschäftsmann. 2002 in Südafrika (Kapstadt) verschwunden. Es wird vermutet, dass SH über viele Jahre hinweg Dokumente an den FSB/KGB verkauft hat, vor allem bezüglich des Waffenhandels von SAAB. Im Jahr 2000 wurde nach SH gefahndet, nachdem sich SAAB mit der schwedischen Polizei in Verbindung gesetzt hatte. Eine Leiche wurde nie gefunden, aber es gab eine glaubwürdige Zeugenaussage mit einer Personenbeschreibung von SH, der in Südafrika in Drogengeschäfte involviert sein sollte. Die unbestätigte Hypothese war, dass er von der örtlichen Mafia beseitigt worden war. Der Fall ist abgeschrieben und verjährt. Übergelaufene Spione bestätigten, dass SH sie eine Weile lang mit Entwürfen von Vereinbarungen und Verträgen für Waffengeschäfte versorgt hatte, die SAAB abzuschließen versuchte. Allerdings war er ein Agent von sehr geringer Priorität, dem keine nennenswerten Summen ausgezahlt wurden. Als der Fall verjährte, stellte man fest, dass SH für den FSB/KGB nicht von Interesse war und der russische Geheimdienst demzufolge nicht mit seinem Verschwinden zu tun hatte. Geburtsjahr: 1952.
Anton Wallström (AW). Bis zu seinem Verschwinden in Stockholm im Jahr 2012 Mitarbeiter des Außenministeriums. Wurde von einem abtrünnigen russischen Offizier der Spionage beschuldigt. Versorgte während eines zweijährigen Aufenthalts in New York einen russischen UN-Beamten mit EU-relevanten Weisungen. AW wurde gemaßregelt, behielt aber aufgrund seiner außerordentlichen Qualifikationen seine Stelle im Außenministerium. Die Ereignisse hatten großen Einfluss auf seine Gesundheit, und in den folgenden Jahren litt er zeitweise unter Depressionen. Abgesehen von seinem verzweifelten Lebensgefährten hinterließ AW keine Spuren bei seinem Verschwinden. Am wahrscheinlichsten ist die Annahme, dass er Suizid begangen hat. Geburtsjahr: 1970.
Sten Westman (SW). Ehemaliger Geschäftsmann, der 2006 in Sankt Petersburg verschwand. Soll Kontakte zur russischen Mafia gehalten haben. Wurde der Spionage verdächtigt, was sich aber nie bestätigt hat. SW hatte Verbindungen zum Technologieunternehmen Ericsson und soll versucht haben, die russische Botschaft in Stockholm zu kontaktieren, um Geschäftsgeheimnisse weiterzuverkaufen. Es ist unklar, ob die Russen ihn ernst nahmen. Wahrscheinlich waren die von SW angebotenen Informationen völlig nutzlos und längst allgemein bekannt. Der schwerwiegendste Verdacht war, dass er an Informationen über Transportrouten für große Lieferungen neuer Mobiltelefone gelangt war und diese verkauft hatte. In der Folge ereignete sich ein bewaffneter Raubüberfall, und zwar in der Nähe von Katrineholm, eine Lieferung im Wert von mehreren Millionen Kronen wurde entwendet. Teile davon wurden später auf dem russischen Markt sichergestellt. Geburtsjahr: 1965.
Martin Bonnier (MB). Schwedischer Anwalt jüdischer Abstammung, der den Oligarchen Wladimir Potanin bei einem Prozess in Moskau vertrat. Der Prozess stand im Zusammenhang mit dem Verkauf von Staatsvermögen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Große Unternehmen und natürliche Ressourcen wurden innerhalb eines kurzen Zeitraums zu Schleuderpreisen veräußert. Wem es aufgrund von Kontakten und geknüpften Netzwerken gelang, Unternehmen aufzukaufen, der erwirtschaftete in Rekordzeit ein beträchtliches Vermögen. Potanin wurde großer Nickelvorkommen in Sibirien habhaft. Heute lebt er zurückgezogen in der Karibik. Beim Prozess kam es nie zu einer Einigung der Parteien. Geheimen Informationsquellen zufolge ging es dabei um hohe Geldbeträge. Dem Zeugen zufolge hatte MB in größerem Umfang für Potanin gearbeitet, war danach aber nie nach Stockholm zurückgekehrt, sondern soll in Russland abgetaucht sein, vermutlich als Folge seiner Beteiligung an dem Rechtsstreit. Geburtsjahr: 1945.
Davids Miene war ausdruckslos.
„Aha.“
„Hmm. Genau. Keine umfangreiche Datenlage“, ergänzte Hans. Er hatte ihm auch die Bildanalyse bis ins Detail beschrieben. Sie suchten also nach einem älteren Mann.
„Also, was denkst du? Der letzte Name klingt am heißesten – ein alter Mann, der Bonnier heißt.“
„Ja, da haben wir auch die offensichtliche Verbindung zum Mossad, wenn du darauf anspielst. Außerdem ist er der Älteste von allen. Aber ich sehe keine schlüssige Erklärung, warum er für irgendjemanden von Interesse sein sollte, der über genügend Ressourcen verfügt, ihn unter permanenter Bewachung am Leben zu halten.“
David nickte zur Pinnwand hinüber. „Der Davidstern da, ich schätze mal, der steht symbolisch für den Mossad, oder? Vielleicht sollten wir deine Quelle beim Mossad härter ins Gebet nehmen?“
Hans nickte zustimmend.
„Well, the hand that feeds you, und so weiter …“
David schaute ihn fragend an.
„Das heißt …?“
„Dass wir keinen Angriffspunkt haben. Also, gegen den Mossad. Die erzählen uns nur so viel, wie sie uns erzählen wollen, nicht mehr und nicht weniger.“
„Okay. Aber nichtsdestotrotz halten sie den Fall ja am Leben. Sie haben also ein gewisses Interesse an der Sache. Die Frage ist nur, welcher Art oder warum? Im Grunde sind wir selbst der Angriffspunkt. Die Tatsache, dass sie unsere Hilfe brauchen.“
Hans nickte. David hatte recht.
„Allerdings hat mein Kontaktmann beim Mossad angedeutet, dass es sich bei keinem der Namen auf der Liste um denSchweden handelt.“
„Das ist ja seltsam. Heißt das, die wissen, wer er ist?“
„Ich will mich daran jetzt nicht festbeißen. Er hat nur anklingen lassen, dass ihm die Namen nichts sagen. Eigentlich hat er fast desinteressiert gewirkt.“
„Könnte das alles im Zusammenhang mit Waffenhandel stehen?“
„Natürlich, wieso nicht? Aber da erscheint mir die Verbindung nach Schweden doch recht vage. Heute sind das wohl hauptsächlich alte Nazis und Neonazis, die in so etwas involviert sind.“
„Ich weiß nicht. Ich mache nur Brainstorming.“
Nach und nach wurden die Fragen, die die beiden ausdiskutierten, immer konkreter.
„Stichwort Befreiung. Was sagst du dazu?“
David schaute von der Liste auf.
„Da haben wir noch einen langen Weg vor uns. Wir haben noch zu viele Wissenslücken.“
Er verstummte, dachte noch einen Augenblick nach und fuhr dann fort.
„Grundsätzlich würde ich sagen, dass dieser Mann von vier Fesseln festgehalten wird, die wir durchbrechen oder wenigstens lockern müssen. Erstens: Er muss raus aus dem Haus. Zweitens: raus aus Moskau. Drittens: weg vom Festland, das heißt, möglichst schnell zur Küste. Viertens: raus aus dem Land. Zurück nach Schweden. Vier Fesseln – da kann vieles schiefgehen, bevor man auch die vierte Fessel sprengt.“
„Vier Fesseln“, wiederholte Hans. Ihm gefiel der Vergleich. „Vier Fesseln, die wir sprengen müssen.“ Die Metapher erinnerte ihn an Moskau mit seinen vier Verkehrsringen. Jedenfalls war das ein Gedanke, den er an die Pinnwand heften konnte.
„Wir müssen aber davon ausgehen, dass jede Fessel eine Feuertaufe für sich darstellen wird“, fuhr David fort. „Ich meine, wenn das Haus schwer bewacht wird, dann gibt es einen Grund dafür. Irgendjemand will diesen Burschen, pardon, den alten Knacker dort festhalten. Und wenn wir anfangen, Öl ins Feuer zu gießen, müssen wir damit rechnen, diese Leute gegen uns aufzubringen. Außerdem operieren wir auf deren Boden. Unsere Vorteile müssen wir uns selbst schaffen – und dann das Maximum herausholen. Lass mich noch ein bisschen darüber nachdenken – ich überlege mir einen Plan.“
Als David den Raum verlassen hatte, trat Hans an seine Pinnwand heran und zeichnete ein Bild der vier Fesseln wie die Jahresringe eines Baumes. In den innersten Kreis pinnte er das verschwommene Bild. In den zweiten das Bild der Kuppelkirche. Was stand für den dritten Kreis? Die Meeresküste? Sankt Petersburg? Und was stand symbolisch für Sankt Petersburg? Aus Mangel an Kreativität zeichnete Hans eine gestrichelte Linie, die mit viel Wohlwollen an eine Küste erinnerte. In den vierten Kreis zeichnete er die schwedische Flagge.