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Stockholm

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13. bis 14. Februar 2012

Hans hatte bereits ein paar Minuten in der Sauna des Flughafenhotels gesessen, als der andere Mann eintrat, ihn grüßte und sich auf die unterste Bank setzte. Sie waren alleine im Raum. Mithilfe verschiedener geheimer Apps auf seinem Tablet, die relevante Daten mit Bildern aller Kameras im Flughafen abglichen, war Hans dem Mann gefolgt, seit sein Flugzeug vor einer Viertelstunde gelandet war. Sein Name stand auf den Passagierlisten, die vor der Landung routinemäßig an Polizei und Zoll übermittelt worden waren. An der Grenzkontrolle wurde sein Pass gescannt und sein Gesicht tauchte auf den Überwachungskameras sowohl beim Gepäckband als auch beim Zoll auf. Hans fand, dass er verschwitzt und müde aussah, ein bisschen ungepflegt. Vielleicht war er gestresst?

„Hallo Erik“, sagte er freundlich. „Ist alles gut gelaufen?“

„Denke schon, Hans. Sieht alles danach aus.“

„Ist dir niemand hierher gefolgt?“

Genau in diesem Moment drehte jemand die Dusche im Vorraum der Sauna auf, und sie zuckten beide zusammen.

„Nein, keine Sorge.“

„Bist du dir ganz sicher?“

„So gut wie. Wer bin ich denn schon? Ein uninteressanter Geschäftsmann, der eine Agentur für Schwerfahrzeuge betreibt. Ein kleiner, bescheidener Schwede.“

„Wie ist es gelaufen?“

„Ich bin deinen Anweisungen gefolgt. Bin in der Gegend herumspaziert, bis ich das Haus gefunden hatte, mitten unter den anderen großen, teuren Villen, allesamt mit Zäunen und Mauern abgeschirmt, überall Stacheldraht und Überwachungskameras. Ab und zu ging ein Gittertor auf, und ein schwarzer Mercedes, Lexus oder Audi kam herausgefahren, bevor sich das Tor mit einem diskreten Surren wieder schloss. Ich bin ganz schön ins Schwitzen geraten.“

Wer auch immer draußen unter der Dusche stand, schien noch nicht auf dem Weg zur Sauna zu sein. Erik legte die mitgebrachte Speicherkarte neben sich auf die Bank und sprach weiter. Hans nahm das zur Kenntnis.

„Gerade, als ich am Haus vorbeiging, meinte ich zu sehen, wie jemand aus einem Fenster im Obergeschoss herausschaute. Also habe ich die Kamera genommen und ein paar Mal abgedrückt. Das ging ganz schnell. Dann bin ich weitergegangen und habe einige Straßen weiter die Speicherkarte herausgenommen. Den Blackberry habe ich durch einen Gullydeckel fallen lassen und gewartet, bis ich ein Platschen hörte und sicher sein konnte, dass er im Wasser gelandet war. Beim ersten U-Bahn-Eingang bin ich dann abgetaucht und habe mich der Menschenmenge angeschlossen. Niemand wollte irgendetwas von mir wissen. Bin also zurück zum Büro und habe mich schnell umgezogen. Von dort aus bin ich direkt zum Flughafen abgehauen. Den Rest der Zeit bin ich so vorgegangen wie gewohnt.“

„Gut so. Vielen Dank. Schauen wir mal, was passiert. Ich lasse auf dem üblichen Weg von mir hören. Das Geld kommt auch wie gewohnt. Übrigens, wie sieht es an der Heimatfront aus?“

„Alles okay so weit. Das ganze Herumreisen ist natürlich nicht optimal, aber es geht schon.“

„Danke noch mal, Erik. Pass auf dich auf!“

Hans rutschte von der obersten Bank herunter, nahm die Speicherkarte an sich und zog die Saunatür hinter sich zu. Erik blieb noch eine Weile sitzen. Eine Viertelstunde später saß Hans in einem Taxi auf dem Weg zurück in die Stockholmer Innenstadt. In seiner rechten Innentasche war die Speicherkarte versteckt. War es richtig, jemanden derart einzuspannen? Welchen Risiken hatte er Erik eigentlich ausgesetzt? Hans lächelte in sich hinein – hatte Ido Zakai nicht von seinen Sayanim gesprochen, seinen unsichtbaren oder kaum sichtbaren Helfern? Die Vorteile lagen auf der Hand. Diskretion und die Möglichkeit, den Nachrichtendienst aus der konkreten Informationsbeschaffung herauszuhalten. Es verschaffte ihm den Raum, Missionen ganz nach seinen Vorstellungen zu leiten. Das war gut. Und was für den Mossad taugte, taugte für die Säpo nicht minder. Der Wagen blieb vor der Zentrale der Säkerhetspolisen stehen. Es war Freitagabend, und das Gebäude war so gut wie ausgestorben. Hans steuerte direkt die Abteilung für Bildanalyse an, wo er bereits von einem der Analytiker erwartet wurde.

„Hier, bitte“, sagte Hans und reichte ihm die Speicherkarte. „Wie lange brauchst du dafür?“

„Ich habe den Abend dafür angesetzt. Schauen wir mal. Kommt drauf an.“

„Okay, aber sag bitte sofort Bescheid, wenn du etwas findest! Meine Nummer hast du ja. Und bitte schreibe etwas Verständliches.“

„Jawohl, Chef.“

Von der Analyseabteilung aus ging Hans direkt zur Garage und nach einer weiteren halben Stunde war er daheim, etwas später als an einem gewöhnlichen Freitag.

„Hallo“, begrüßte ihn seine Frau Stina, mit der er seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet war. „Gab es etwas Besonderes?“

„Nicht wirklich“, antwortete Hans mit vorgetäuschter Zerstreutheit. „Es hat sich einfach so ergeben.“

„Gut. Ich dachte nämlich, dass wir heute doch irgendwo etwas essen gehen könnten.“

Das italienische Restaurant, das sie ansteuerten, lag in ihrem Wohnviertel, und mittlerweile kannten sie die Speisekarte schon auswendig. Freitagabends landeten sie oft hier. Jetzt, da ihre beiden Kinder nicht mehr zu Hause wohnten, lohnte es sich nicht mehr, ein aufwendiges Abendessen zu kochen. Hans war unkonzentriert und schaute in regelmäßigen Abständen auf sein Handy, um sicherzugehen, dass er keine neue Nachricht verpasst hatte. Stina ging davon aus, dass er nervös auf Informationen bezüglich seiner potenziellen neuen Stelle wartete und versuchte, das Gespräch in diese Richtung zu lenken.

„Hast du seit deinem Bewerbungsgespräch schon etwas Neues gehört?“

„Noch nicht so wirklich.“

Er war von einem Headhunter kontaktiert worden. Es ging um den Posten des Sicherheitsbeauftragten bei einem internationalen Konzern mit Hauptsitz in Stockholm. Sicherheitsfragen wurden immer wichtiger, und er konnte damit rechnen, auf Dauer Teil der Führungsgruppe zu werden, auch wenn er zu Beginn dem Leiter der IT zuarbeiten sollte. Hans hatte sein Interesse unmöglich verleugnen können. Eigentlich hatte er es tief im Inneren schon geahnt, aber bei seinem Bewerbungsgespräch hatte sich irgendwie die Erkenntnis herauskristallisiert, dass er bei der Säpo auf der Stelle trat. Er konnte sich nicht mehr weiterentwickeln. Er steckte fest.

„Und was denkst du jetzt darüber?“

Sie schenkte ihm noch mehr Wein ein.

„Ich hänge immer noch am Haken, und das weißt du. Was glaubst du, wie oft sich einem eine solche Chance bietet?“

„Aber wirst du die Firma nicht vermissen? Den Nachrichtendienst?“

„Ich weiß nicht. Na ja, wahrscheinlich schon. Aber darum geht es nicht. Vielleicht brauche ich einfach mal eine neue Herausforderung.“

„Hast du denn schon ein konkretes Angebot?“

„Nein, ich glaube, dass einschließlich meiner Person noch zwei Leute im Rennen sind. In ein paar Wochen weiß ich mehr, aber ich habe das Gefühl, als hätte ich gute Chancen.“

Der Kellner trat an ihren Tisch und fragte, ob sie noch ein Dessert wünschten. In der Pause, die dadurch entstand, wanderten Hans’ Gedanken wieder zu den jüngsten Ereignissen. Natürlich war er an dem neuen Projekt interessiert. Natürlich kam er karrieretechnisch momentan nicht voran. Vermutlich sollte er auf diesen Zug aufspringen. Das war eine unerwartete Begebenheit. Aber genauso unerwartet war ein anderes Ereignis: das Gespräch mit Ido Zakai, dieser Schatten aus der Vergangenheit. Der war entfesselt worden und saß nun bereits in seinem Nacken. Sie bestellten zwei Portionen Tiramisu und zwei Cappuccini. Auf dem Weg nach draußen legte Hans den Arm um Stinas Schultern.

„Entschuldige, dass ich so gedankenversunken bin. Ich bin einfach nur so unsicher, ob ich dabei bin, die richtige Entscheidung zu treffen, aber leider glaube ich, dass mir das niemand abnehmen kann.“

Sie lächelte ihn an, und sie spazierten durch die Dunkelheit nach Hause. Aber selbst während sie sich unterhielten, konnte Hans seine Gedanken nicht loslassen. Er erzählte Stina von seinem Squashtraining, dass er die Zahl seiner Trainerstunden erhöht hatte und dass er sein Vorhaben nicht aufgeben wollte, richtig gut zu werden. Aber immer noch hatte er keine SMS bekommen, und das störte ihn. Konnte er diesem Analytiker wirklich trauen? In diesem Moment vibrierte das Telefon in seiner Tasche. Er zog es heraus und las die eingegangene Nachricht.

Alles da. Aber ist das Datum korrekt? Bis morgen um 9.

Hans bestätigte die Uhrzeit, während eine neue Welle an Fragen durch seinen Kopf schwappte. Was sollte das denn nun wieder heißen? Aber ist das Datum korrekt? Mit großer Willensanstrengung unterdrückte Hans die Gedankenflut und konzentrierte sich auf Stina, ihr gemeinsames Gespräch und das, was von ihrem gemeinsamen Freitagabend noch übrig geblieben war.

Am nächsten Morgen verschwand er unter dem Vorwand, ins Fitnessstudio zu gehen, zur verabredeten Zeit zu seinem Treffen mit dem Analytiker. Hans suchte den Kollegen direkt in dessen Abteilung auf, die neuerdings unter der Bezeichnung Medientechnisches Labor fungierte. Hans schnaubte. Der Raum war bis auf den Analytiker leer, der mit Mütze und Kopfhörern an einem Schreibtisch saß. Als Hans eintrat, blickte er auf und erhob sich von seinem Stuhl.

„Tag, Chef. Bereit, ein bisschen Material zu sichten?“

„Absolut. Was hast du denn für mich?“

„Das erzähle ich dir gleich. Du solltest allerdings wissen, dass auf der Speicherkarte nicht viel schwedisches Material war, deswegen werden wir viel englischen Text haben.“

„Kein Problem.“

Zu Hans’ Verwunderung hatte sein Kollege eine kleine Präsentation vorbereitet, deren Seiten er jetzt auf seinem iPad durchblätterte, während er Hans die Bilder erklärte.

„FADEIN – sagt dir das etwas?“

„Jein. Meinst du vielleicht INTIFADA? Den palästinensischen Guerillakrieg?“

„FADEIN ist die Abkürzung für Facial Deblurring Interference – die Methode, die ich für die Bildanalyse angewendet habe. Im Grunde ist das eine japanische Erfindung, die ihren Ursprung im OKAO hat, was Gesicht auf Japanisch bedeutet.“

Hans ließ das sacken.

„Keine schlechten Bilder, die dein Kumpel da geschossen hat, vor allem unter diesen Umständen, aber ich denke, du hast Verständnis dafür, dass der Identifizierungsprozess lange dauert, trotz der technischen Möglichkeiten heutzutage. Bei der reinen Analyse sprechen wir da von zwei Schritten. Der erste Schritt ist das Deblurring, man könnte auch sagen, die Enttrübung. Einige sagen dazu auch Facial Denoising. Der zweite Schritt ist dann die Suche nach Übereinstimmungen und Merkmalen, die eine Identifizierung ermöglichen.“

Langsam kam er mit seinen technischen Ausführungen in Fahrt.

„Das Problem beim ersten Schritt liegt in der Varianz, die durch die Unschärfe entsteht. Das heißt, dass jedes verschwommene Gesicht zu einer großen Anzahl unterschiedlicher Gesichter werden kann, je nachdem, wie das Deblurring durchgeführt wird. Kannst du mir folgen?“

Hans nickte.

„Die Herausforderung liegt darin, den richtigen Algorithmus für genau dieses Gesicht zu finden, die PSF, also die genaue Point Squad Function. Im Grunde genommen muss man herausfinden, welche Punkte man vergrößert oder hinsichtlich ihrer Frequenz verändert. Da gibt es verschiedene Herangehensweisen, aber die besten Methoden basieren einfach auf Empirie – Algorithmen zu erstellen, die verschwommene Gesichter erkennbar machen. Wenn man das dann mit LPQ kombiniert, mit der Local Phase Quantization, kommt ein statistisch brauchbares Ergebnis heraus. Das Ganze kann man vielleicht mit den heutigen hoch entwickelten Schachcomputern vergleichen. Wenn man den Computer mit vielen Schachpartien füttert, lernt er selbst, richtig gut zu spielen, er sieht, was in früheren Partien funktioniert hat und was nicht, und er lernt, diese Erkenntnisse selbst in neuen Situationen anzuwenden. Aber diese Computer werden immer noch von Schachweltmeistern besiegt, und genauso hat FADEIN nicht für alle Probleme die perfekte Lösung parat. Leider.“

Langsam kam er dem Kern seiner Ausführungen näher.

„Seit gestern habe ich die Aufnahmen durch verschiedene Algorithmen gejagt und die Resultate verglichen. Die Bilder waren verschwommener, als ich gehofft hatte, aber zunächst scheinen wir es mit einer lebenden Person zu tun haben, mit neunundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit mit einem Mann. Das ist gar nicht schlecht für den Anfang …“

„Ist er Schwede?“, fragte Hans.

„Hallo, hallo, immer mit der Ruhe, Chef. Eins nach dem anderen. Zunächst haben wir hier mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Mann. Woher ich das weiß? Weil ich die Algorithmen aktiv verändern musste, um das Bild einer Frau zu bekommen. Die Algorithmen deuten eindeutig auf einen Mann hin.“

„Verstehe. Wie zuverlässig sind diese Algorithmen?“

„Wir haben sie gerade erst gekauft, selbstverständlich in erster Linie aus den USA. Nichts selbst entwickelt, das wäre zu teuer gewesen. Aber wie ich sagte, jeder etablierte Spin basiert auf einer großen Anzahl von aggregierten Gesichtern.“

„Gleich sagst du noch, das wäre das Beste, was wir hier in der Firma haben …“

„Es ist das Beste, was wir hier in der Firma haben“, antwortete der Analytiker lächelnd. „Spaß beiseite, Chef, du kannst schon drauf vertrauen. Die Dinger funktionieren wirklich gut.“

„Also, zurück zum Thema der Identifizierung …“

„Identifizierung, ja. Wir gehen also davon aus, dass unser Phantombild wirklichkeitsgetreu ist und jagen es durch unsere Bilddatenbanken.“

„In einem Kurs, den ich besucht habe, wurde erwähnt, der Mossad hätte Adolf Eichmann nur anhand von zehn Merkmalen am Ohr identifiziert und dass jeder Mensch einzigartige Ohren hat. Stimmt das?“

„Das stimmt tatsächlich. Vergiss aber nicht, dass die Agenten des Mossads sechs Monate lang in Argentinien waren und jede Menge perfekte Aufnahmen von Eichmann hatten. Aus allen denkbaren Winkeln. Sie hatten zwar nicht die heutige Technik zur Verfügung, konnten aber auf eine wesentlich bessere Datenbasis zurückgreifen als wir gerade. Also, unser Programm verwendet ein mehrdimensionales Übereinstimmungsverfahren und spuckt im Zweifelsfall eine Liste mit Personen aus, die nicht ausgeschlossen werden können. Wenn ich das Gesicht mit der Datenbank der in Russland verschwundenen, noch nicht tot erklärten Schweden abgleiche, dann lande ich keinen einzigen Treffer. Wenn ich die verschwundenen Schweden unabhängig vom Land durchsuche, bekomme ich immerhin eine kurze Liste.“

„Wie kurz?“

„Vier Namen.“

„Kann ich sie sehen?“

Der Analytiker blätterte ein paar Seiten in seiner Präsentation zurück. Hans las die vier Namen und die dazugehörigen Kurzbeschreibungen. Keine der Personen sagte ihm etwas.

„An die internationalen Systeme habe ich mich noch nicht herangewagt“, ergänzte sein Kollege. „Du hast ja gesagt, dass ich den Ball erst einmal flach halten soll.“

„Vielen Dank für deine Hilfe! Ich komme wieder auf dich zurück, wenn ich irgendwo eine Lücke schließen muss.“

„Kein Problem, ganz coole Geschichte.“

„Kannst du mir die Präsentation schicken?“

„Schau mal in dein E-Mail-Postfach, Chef.“

Sie gaben sich die Hand, und Hans machte sich auf den Weg zu den Aufzügen. Dann fiel ihm aber ein, was er noch hatte fragen wollen, und er drehte sich wieder um.

„Sag mal, das mit dem Datum … Was sollte das bedeuten?“

Der Analytiker schaute ihn fragend an.

„In deiner SMS hast du irgendetwas von einem Verfallsdatum oder so geschrieben.“

„Ja, genau, wie du schon sagst! Vielleicht ist das gar nicht so wichtig, aber bei einem der Algorithmen kam eine ungewöhnliche Beobachtung heraus. Nämlich dass der Mann auf dem Foto extrem alt sein könnte.“

„Was stand da genau?“

„Irgendwas wie: Person in picture may be very old. War auf Englisch. An den genauen Wortlaut kann ich mich nicht mehr erinnern, aber der Hinweis kam erst ziemlich zum Schluss, als ich dabei war, alles abzurunden. Vielleicht hat es der Satz daher in meine SMS geschafft.“

„Okay, verstehe. Danke noch mal! Ach, übrigens, spielst du Squash?“

„Leider nicht. Nicht mein Ding. Aber Schach.“

Der Analytiker lächelte entschuldigend, und Hans verließ das Medientechnische Labor. Auf dem Weg zu seinem Dienstzimmer grübelte er über die neuesten Erkenntnisse. Dann heftete er das verschwommene Bild an seine Pinnwand, die er erst vor Kurzem von allem alten Kram befreit hatte. Ein alter Mann, der aus einem Fenster schaute. Dann machte sich Hans auf den Heimweg.

Der Verkehr umfloss ihn ruhig. Eine Liste mit vier Namen. Ein Mann, der vom Mossad nur der Schwede genannt wurde. Vielleicht. Ein paar verschwommene Bilder. Das war nicht gerade viel. Da gab es einfach noch zu viele Fragezeichen, die geradegerückt werden mussten. Warum zeigte der Mossad ein solches Interesse an dem Fall, dass sie ihn kontaktiert hatten? Wusste Ido mehr, als er ihm erzählen wollte? Widerwillig musste Hans erkennen, dass er selbst wie neu belebt war. Angeheizt. Gerade jetzt, da er beinahe fest entschlossen war, der Säpo den Rücken zu kehren. Gerade jetzt, mitten in seinem Bewerbungsprozess –, und zwar seinem eigenen. Mitten in seinem Prozess der Abnabelung von der Firma. Typisch. Hans schmunzelte. Der Verkehr und die Dunkelheit verdichteten sich um ihn herum. Welchen Schritt sollte er als Nächstes gehen? Er rief den Analytiker noch einmal an.

„Hallo!“

„Hi, hier ist noch einmal Hans.“

„Grüß dich! Und, hast du schon herausgefunden, wer der Typ ist?“

„Noch nicht so wirklich. Kannst du sein Aussehen noch etwas näher beschreiben?“

„Zunächst einmal hat er eine Glatze. Und er ist vermutlich nicht allzu groß.“

„Ist er eher ein heller oder ein dunkler Typ?“

„Dem Computer zufolge weder noch. Aber wenn ich mich recht entsinne, hat der Algorithmus ein prozentual höheres Ergebnis für dunkel errechnet.“

„Sonst noch was?“

„Spontan fällt mir nichts ein.“

„Danke, ich melde mich wieder.“

Wer mochte dieser Mann sein, und wie sollte es jetzt weitergehen? Hans hatte einige seiner Quellen in Moskau kontaktiert, aber abgesehen von den Fotos, die Erik geschossen hatte, war nichts Neues dabei herausgekommen. Leider kannte er niemanden beim KGB … beimFSB, korrigierte er sich selbst. Ob die etwas mit der Geschichte zu tun hatten? Es war ein offenes Geheimnis, dass die Kriminalität in Moskau und im Rest Russlands stark zunahm. Hans’ Intuition sagte ihm, dass der Mossad schon über mehr Puzzleteile verfügte, als Ido ihm sagen wollte. Vielleicht sollte er an dieser Stelle weitersuchen?

Sein Telefon klingelte. Es war Stina, die sich erkundigte, wie es im Fitnessstudio gewesen war, und fragte, ob er auf dem Heimweg Zeit hatte, kurz einzukaufen.

Ein kleiner Mann mit großer Nase? Hans musterte sein eigenes Gesicht im Rückspiegel, als er vorm Supermarkt parkte. Jemand hatte es einmal als nichtssagend bezeichnet, ein Gesicht, das niemandem nach ein oder zwei Treffen im Gedächtnis hängen blieb. Ein perfektes Gesicht, um im Einsatz unerkannt zu bleiben. Aber jetzt war es eher eine Belastung. Er war ein anonymer Beamter, der in einem großen Regierungssystem festsaß. Wie am Vorabend versuchte er, die Gedanken zu verdrängen und sich darauf zu konzentrieren, was akut anlag: den Einkauf fürs Abendessen.

An einem der nächsten Wochentage landeten Hans und Stina wieder bei ihrem Lieblingsitaliener. Es war bequem, sich das mühselige Vorbereiten sparen zu können, sich einfach an den gedeckten Tisch zu setzen und sich keine Gedanken über den Abwasch machen zu müssen. Trotzdem war Hans gereizt.

„Warum will sich dieser Israeli ständig mit mir treffen? Ständig diese Termine!“, murmelte er gerade so laut, dass Stina ihn hören konnte. Eigentlich sprachen sie aus Prinzip nicht über seine Arbeit, aber im Laufe der Jahre hatten sich die Prinzipien etwas gelockert. Als ihnen der Kellner die Vorspeisen vor die Nase stellte, achteten sie allerdings darauf, nichts Falsches zu sagen.

„Bestimmt will er dich auf Herz und Nieren überprüfen, bevor er dich beauftragt.“

Hans schaute seine Frau fragend an. Ihm wurde klar, dass sie ihn missverstanden hatte. Wahrscheinlich glaubte sie, dass der Israeli etwas mit dem Bewerbungsprozess zu tun hatte. Ein corporate guy. Und dennoch hatte sie recht. Der Mossad hatte ihn für einen Auftrag ausgewählt. Aber warum? Komplizierte Probleme waren selten eindimensional – darum nannte man sie ja kompliziert. Riskant. Bestimmt gab es auch bei dieser Mission ein Risiko, das der Mossad selbst nicht zu tragen bereit war. Oder nicht eingehen durften? Was noch? Ging es um Ehre? Der Mossad würde doch sicher nicht auf den Ruhm verzichten wollen, der demjenigen zufiel, der die Mission erfolgreich abschloss?“

„Iss mal was, Hans!“, sagte Stina. „Sonst wird es noch kalt. Du wirst dich doch sicher damit abfinden können, dass man dich auf Herz und Nieren prüft, oder nicht? Hast du das nicht schon genauso gemacht? Vor allem, wenn man bedenkt, dass du nicht viele Erfahrungen auf deren Gebiet hast.“

„Absolut, du hast ja recht. Ich bin nur mit dem Ablauf nicht so ganz vertraut. Das ist alles. Sonst bin ich es immer, der andere Leute unter die Lupe nimmt und aussucht. Nicht andersherum.“

Bald war der erste März, überlegte er. Den ganzen Tag über hatte die Sonne geschienen. War der Frühling schon im Anmarsch? Wohl kaum. Wie das Wetter in Moskau wohl gerade war? Und wie sollte es mit dem Fall jetzt weitergehen? Für den Anfang würde er sich morgen früh vor der Arbeit erst einmal eine Übungsstunde mit seinem Squashtrainer gönnen. Das Klingeln seines Handys riss ihn allerdings wieder aus seinen Gedanken über die nächsten Schritte heraus.

„Hans, is that you? This is Ido again! I hope you are well. Sorry to disturb you at this late hour …“

„Ido, good to hear from you again so soon.“

Der Schwede

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