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Moskau
Оглавление10. Februar 2012
Oberst Petrow überquerte den Roten Platz in Richtung des Maneschnajaplatzes. Er war auf dem Weg zu einem Empfang, bei dem unter anderem Ministerpräsident Putin anwesend sein sollte. Den Morgen über hatte Petrow sich Recherchen zu dem Buch über die Geschichte des KGBs gewidmet, das er zu schreiben beabsichtigte. Seine Oberlippe zierte ein wohlgepflegter Schnurrbart und obwohl er Zivilkleidung trug, einen dunklen Anzug und Krawatte, war seine Haltung durch und durch militärisch. Seit er mit der Arbeit an seinem Buch begonnen hatte, war er von solch unverkennbar freudiger Erregung erfüllt, dass selbst seine Frau Swetlana mit kaum verhohlenem Misstrauen ihre Kommentare abgegeben hatte. Was konnte an der Geschichte des KGBs schon derart aufregend sein? Man musste schon eine Weile suchen, um ein langweiligeres und – ihrer Meinung nach – gefährlicheres Thema zu finden.
Swetlana Petrowa zeichnete sich durch einen ordentlichen Pagenschnitt, eine moderne Brille und maßgeschneiderte Kostüme aus. Sie war eine elegante Frau und durch tägliches Training war ihr Körper gut in Schuss. Sie arbeitete als eine angesehene Herzchirurgin, hatte Artikel in russischen und internationalen Fachmagazinen publiziert und leitete mittlerweile eine Privatklinik im Zentrum Moskaus. Ungerührt bezeichnete sie ihren Mann als altmodisch. Natürlich liebte und respektierte sie ihn, hatte er doch in vielerlei Hinsicht ihr Leben zum Positiven verändert, aber war es nicht langsam an der Zeit, die alten Gewohnheiten fallen zu lassen und nach vorn zu schauen?
Oberst Petrow glaubte, dass sich ihm mit der Arbeit an seinem wichtigen Buch über den KGB eine große Wahrheit auftat: Der Geheimdienst KGB war das Herz Russlands, sein Rückgrat und sein Dreh- und Angelpunkt. Herrscher kamen und gingen, Zaren, Lenin, Stalin, die Kommunisten und dann Jelzin. Aber Geheimdienste hatte es immer gegeben.
In der Vision, die Petrow entwickelte, nahm der KGB immer mehr die Rolle des roten Fadens ein, der sich durch alle historischen Entwicklungen zog, welche das Land durchlitten hatte. Und jetzt wurde es, Gott sei Dank, von dem richtigen Mann geführt. Er selbst, Petrow, war mit der Leitung einer Mission beauftragt worden. Ein General hatte ihn an sein Sterbebett gerufen und ihm offenbart, dass man ihm die Verantwortung für eine wichtige geheime Angelegenheit übertragen wolle. Petrow erkannte darin eine Symbolik, die zu dem Werk passte, an dem er arbeitete – einen greifbaren, wenn auch höchst geheimen Beweis dafür, dass der Dienst größere Bedeutung hatte als jene, denen er diente. Dass er eine größere Reichweite hatte als jede sichtbare und damit vorübergehende Machtstruktur. Hier bestimmte man sich selbst. Wie viel Wladimir Putin davon ahnte, wusste Petrow nicht und durfte auch keine Fragen dazu stellen. So lauteten die Anweisungen.
Petrow hatte das Ganze so verstanden, dass es Stalin persönlich gewesen war, der diese Mission einst ersonnen hatte – einen Gefangenen mit dem Hintergedanken am Leben zu halten, dass er eines Tages von Nutzen sein konnte, um an Informationen zu kommen oder sogar einen Gefangenenaustausch durchführen zu können. Im Grunde war es Kidnapping, ganz einfach. Stalin hatte ein Faible dafür gehabt. Aber irgendetwas war schiefgegangen. Man hatte einmal zu oft gelogen, und der Gefangene war mehr oder weniger nutzlos geworden. Was sollte man jetzt mit ihm machen? So war Stalin verstorben und schließlich auch Lawrenti Beria, der berüchtigte KGB-Chef und Stalins Nemesis. Andere hatten die Macht übernommen, und die Frage war im Niemandsland versumpft, was mit dem Gefangenen geschehen sollte. Der Geheimdienst hatte beschlossen, ihn am Leben zu halten. Man wusste schließlich nicht, ob er irgendwann einmal wieder von Nutzen sein konnte. Außerdem traute sich niemand, ihn hinzurichten, denn wer konnte schon ahnen, was die neuen Machthaber wollten oder in Zukunft wollen würden? Chruschtschow ging dann Stalin und Beria hinterher. Der KGB war im Besitz des Geheimnisses – und Wissen war Macht. Geheime Anweisungen wurden innerhalb einer äußerst kleinen Gruppe erteilt. Die Botschaft war klar und deutlich: Vielleicht konnte man den Gefangenen eines Tages noch als Druckmittel gebrauchen. Als Druckmittel gegen die eigenen Politiker, um sie in Schach zu halten. Das war quasi die Leiche im Keller des Politbüros, aber eben nur quasi, denn eine Leiche gab es nicht – nur einen zwar alternden, aber lebenden Menschen, der in regelmäßigen Abständen, vielleicht alle vier Jahre, unter größter Geheimhaltung verlegt wurde. Neue safe houses in anderen Teilen des Reichs. Die Anweisungen blieben aber immer dieselben. Kein Wort zu niemandem. Maximum security.
Der Gefangene wurde älter, zeigte aber keine Anzeichen eines nahenden Todes. Beinahe keine Anzeichen. Einmal hatte Petrow in einer Notsituation gegen die Anweisungen verstoßen. Der Gefangene war erkrankt, und Petrow hatte nicht gewusst, was zu tun war. Alles hatte nach einer Art Herzproblem ausgesehen. Der Gedanke, dass der Gefangene sterben könnte, während die Verantwortung allein bei ihm lag, hatte Petrow nicht behagt und so hatte er sich dazu durchgerungen, Swetlana miteinzubeziehen. Schließlich war sie Kardiologin und darüber hinaus eine der besten im Land. Er bläute ihr ein, wie geheim die ganze Sache war, wie riskant es wäre, den Gefangenen in ein richtiges Krankenhaus zu verlegen und dass sie den Vorfall direkt im Anschluss wieder vergessen musste.
„Versprochen, Wjatscheslaw“, hatte Swetlana auf dem Weg im Auto gesagt. „Hoch und heilig.“
Sie hatte den Gefangenen gründlich untersucht, seinen mageren Oberkörper abgetastet und das Herz abgehört. Zum Schluss hatte sie ihm ein paar Blutproben entnommen. Damals hatte er nicht weiter darüber nachgedacht. Das war eine ganz gewöhnliche Untersuchung gewesen. Erst später hatte er begonnen, sich Sorgen zu machen. Aber in dieser Nacht waren sie in der Dunkelheit heimgefahren, und Swetlana hatte ihm versichert, dass der Gefangene überleben und sich erholen würde und dass sie kein Sterbenswörtchen über die Angelegenheit verlieren würde.
Später am selben Tag dachte Petrow über das Treffen mit dem Ministerpräsidenten nach. Der Empfang war gut abgelaufen. Petrow hatte Wladimir Putin die Hand schütteln können. Jetzt saß er wieder an seinem richtigen Arbeitsplatz, einem schäbigen Korridor in der Lubjanka, dem alten, verrufenen Gefängnisgebäude mitten in Moskau. Ungeduldig stand Petrow von seinem Stuhl auf und betrat den Kontrollraum. Die Mitarbeiter hier waren unterschiedlich gut qualifiziert, hatte er widerwillig feststellen müssen. Sein Favorit war Medwedew oder auch der Bär – ein junger, ordentlicher und fähiger Offizier, der für ihn und die Mission durchs Feuer gehen würde. Experte im Nahkampf und im Gebrauch von Handfeuerwaffen.
Viele der älteren Offiziere verachtete Petrow hingegen. Was taten sie schon wirklich hinter ihren Computerbildschirmen? Einige handelten mit Aktien, der eine surfte auf Pornoseiten, der nächste schaute sich Fotos der Enkelkinder an und plante den nächsten Sommerurlaub. Oder er bezahlte private Rechnungen. Petrow nickte dem Bären zu und signalisierte ihm damit, dass es an der Zeit für ein bisschen Frischluft und eine Zigarette war. Sie gingen über die Treppen nach oben und studierten vom Balkon aus die Häuser und Kirchen Moskaus. Und die Wolkenkratzer.
Moskau wirkt wie eine eigene Galaxie, eine gigantische Stadt, dachte Petrow. Wie viele Einwohner waren es zurzeit noch einmal? Zwölf Millionen? Alles ist so bunt, genau wie die Menschen, die hier wohnen. Die altrussische Architektur und die Kirchen mit den Zwiebeldächern drängten sich dicht an dicht mit riesigen, unverkennbar sozialistischen Betonbauten. Die wiederum konkurrierten mit modernen Wolkenkratzern um den wenigen Platz. Das alles spiegelte die schnellen örtlichen Veränderungen wider, die nie zur Gänze mit der Stadt verschmelzen konnten. Mit neuen Regimes hatten neue Architekturstile Einzug gefunden, ohne Rücksicht auf das bestehende Stadtbild.
„Das ist typisch für Moskau“, stellte er fest und nickte in Richtung Stadt.
„Was genau?“, fragte der Bär.
„Diese ganze Melange hier. Anstatt das große Ganze im Auge zu behalten, wurde einfach neu gebaut, die bisherige Architektur übertrumpft oder sogar zerstört. Die Christ-Erlöser-Kathedrale wurde während der kommunistischen Ära für ein gottverdammtes Freibad abgerissen.“
„So was.“
Die nächsten Minuten qualmten sie schweigend.
„Das Einzige, was hier funktioniert, sind die Verkehrsringe in der Stadt und um sie herum“, fuhr Petrow irgendwann fort. „Die funktionieren wirklich.“
Der Bär nickte gelangweilt.
Mitten in der Stadt lag der Kreml, das Epizentrum der Staatsmacht, das von dreien dieser Verkehrsringe umgeben war. Sie befanden sich gerade im inneren Ring, der eher die Form eines Hufeisens denn eines Rings aufwies, aber trotzdem als erster Ring bezeichnet wurde. Der nächste, der Gartenring, führte um die Stadt und war extrem stark befahren. Der dritte Ring, eine Autobahn, lag etwas außerhalb.
Sie schauten hinaus auf die Moskwa, die die Stadt durchfloss und ihr den Namen gab. Im Süden änderte der Fluss seinen Verlauf, gleich unterhalb des Leninberges und der Universität. Dann sprachen sie ein wenig über die jüngsten Ereignisse und Turbulenzen, bevor sie zurück in den Kontrollraum gingen.
Petrow hatte insgeheim bereits beschlossen, den Bären zu seinem Nachfolger im Rahmen dieser Mission zu ernennen. Er hatte alles darüber in einem Brief festgehalten, für den Fall, dass ihm etwas zustoßen sollte.
Sein Handy klingelte. Es war Swetlana. Sie sprachen kurz über die Pläne für den Abend. Nichts Bemerkenswertes. Petrow ließ abermals den Blick über seine Männer schweifen. Er hoffte, dass seiner Gruppe durch den Fortschritt an seinem Buch eine höhere Stellung innerhalb des Geheimdienstes gewährt würde. Ihm war wohl einerseits bewusst, dass viele Kollegen auf sie herabsahen und niemand wusste, was diese Truppe überhaupt trieb. Und wenn er ehrlich war, dann war die ganze Geschichte ja auch ein wenig diffus. Andererseits waren Unterabteilungen mit nebulösen Aufgaben nichts Ungewöhnliches beim KGB. Ursprünglich war das Kommando einberufen worden, um den Schutz und die heimliche Unterbringung des Gefangenen sicherzustellen. Aber als es rund um die Mission immer heißer wurde, mussten Vorwände erdacht werden, um die Herkunft der Gruppe zu verschleiern. Schließlich wusste niemand mehr wirklich, warum es diese Abteilung gab – abgesehen von demjenigen, der verantwortlich für die Mission war. Mit anderen Worten, Oberst Petrow selbst. Die neueste Erklärung war, dass die Gruppe eine Art internen Kontrollauftrag ausführte. Wir überwachen die, die überwachen. Petrow war nicht ganz zufrieden mit diesem Etikett. Damit sendeten sie falsche Signale und würden möglicherweise andere Mitarbeiter des Geheimdienstes gegen sich aufbringen. Aber bis auf Weiteres fehlte es ihm an Alternativen, und daher konzentrierte er sich lieber auf sein Buch und darauf, sich regelmäßig zu vergewissern, dass angemessen für den Gefangenen gesorgt und alle routinierten Maßnahmen eingehalten wurden.
Swetlana war zu Hause in der Wohnung. Sie hatte die Klinik früh genug verlassen, um die Hauptverkehrszeit zu umgehen. Sie hörte Beyoncé in voller Lautstärke. Warum waren die Amerikaner den Russen in jeglicher Hinsicht eine Nasenspitze voraus? Warum konnte Beyoncé keine Russin sein? Oder Alicia Keys? Würden ihre Kinder jemals nach Russland zurückkehren, nachdem sie so viele Jahre dort drüben verbracht hatten? Mittlerweile war Swetlana sich nicht mehr sicher.
Sie stellte die Musik leiser und wechselte in Vorbereitung auf den Abend ein paar Worte mit ihrem Mann. Von diesem neuen KGB-Fimmel, den er an den Tag legte, war sie überhaupt nicht begeistert. Das war so unnötig. Es wäre besser, er würde die Dinge auf sich beruhen lassen. Warum sollte man diese ganzen alten Geschichten wieder aufs Tapet bringen? Es mochte durchaus glorreiche Episoden gegeben haben, aber viele andere Dinge blieben besser verborgen im Dunkel der Vergangenheit. Jeder vernünftige Russe wusste da. Sie selbst war darüber hinaus auch noch Jüdin. Wie sich der KGB in der Vergangenheit an ihrem Volk versündigt hatte, war abscheulich.
Sie dachte über ihre eigene Lebensgeschichte nach. In jedem anderen Land der Welt wäre ihr Dasein erstaunlich gewesen, aber hier war sie außergewöhnlich. Ihr Vater war ein hochdekorierter Soldat gewesen, der im Großen Vaterländischen Krieg gegen die Deutschen gekämpft hatte. Als Held von der Front zurückgekehrt, war er dennoch plötzlich in Verdacht geraten. Trotz all seiner Verdienste war er immer noch ein Jude. Ein möglicher Verschwörer. Nicht vertrauenswürdig. Er wurde in den Gulag geschickt und überlebte allen Widrigkeiten zum Trotz, blieb aber ein gezeichneter Mann. Zusammen mit ihrer Mutter waren sie durch verschiedene kleine, in Vergessenheit geratene Städte gereist. Und dann diese ständige Erinnerung während ihrer Schulzeit, die manchmal in regelrechtes Mobbing ausartete. Jüdin. Judenbalg.
Die Eltern starben, und Swetlana war gezwungen, schnell erwachsen zu werden. Das brachte sie zum Entschluss, ihren Namen zu ändern, von Judith zu Swetlana, was eher nach einer Russin klang. Dann lernte sie Petrow kennen. Gott weiß, wohin es sie verschlagen hätte, wäre sie ihm nicht ins Auge gesprungen. Er war ein vielversprechender junger Offizier in der Roten Armee gewesen. Es gab keinen Zweifel daran, dass sie ihm vieles verdankte. Allerdings ließ sich auf Schuldgefühlen und damit verbundener Dankbarkeit keine gute Ehe aufbauen, das war ihnen beiden bewusst. Das war ihrer beider persönlicher Hintergrund, die Karte der Vergangenheit, durch die sie sich von Beginn an tagtäglich hindurchnavigieren mussten. Dass Petrow sich jetzt dazu entschieden hatte, ein Loblied auf den KGB zu singen, irritierte Swetlana in vielerlei Hinsicht.
Was geschehen war, war geschehen, und die Vergangenheit ließ sich demzufolge nicht rückgängig machen. Am schlimmsten fand Swetlana die Vorstellung, dass das Buch Konsequenzen hinsichtlich ihrer Auslandsreisen nach sich ziehen könnte. Wollte Petrow wirklich, dass sie auf irgendwelchen Listen mit Menschen landeten, die in enger Verbindung zum Kreml standen? Insiderlisten? Sie hatte gelesen, dass die Sanktionen in Zukunft schärfer ausfallen sollten. Und war es möglich, dass es auch die Kinder traf und sie die USA wieder verlassen mussten? Obwohl sie mitten im Studium steckten? Welche Risiken brachte diese Veröffentlichung mit sich?
Swetlana hatte versucht, mit ihrem Mann über ihre Sorgen zu sprechen, aber er hatte ihr nicht zuhören wollen. Und dann war da noch sein neuer alberner Schnauzbart. Sie wusste, dass er oft über den Agenten Farewell nachdachte. Oder Wetrow, wie er mit richtigem Namen hieß, Wladimir Wetrow, der ebenfalls KGB-Offizier gewesen war. Petrow hatte ihn ein einziges Mal getroffen – diesen in den Augen des Westens großartigsten Spion aller Zeiten, den Mann, der hinter dem Fall der Sowjetunion steckte. Swetlana wusste darüber Bescheid – Petrow verachtete Wetrow zutiefst. Er hielt ihn für einen Verräter, ungefähr wie Litwinenko, den der KGB auf spektakuläre Weise in London hatte umbringen lassen. Wetrow hatte über Jahre hinweg die CIA mit vertraulichen Informationen gefüttert, vor allem in Hinblick auf Technologien, aber auch bezüglich russischer Spione im Westen.
Die Amerikaner hatten sich diese Informationen und Namen auf listige Weise zunutze gemacht. So hatten sie etwa russische Spione nicht direkt verhaftet, sondern sie Informationen mit verfälschten Daten stehlen lassen. Das nannte sich double cross. Der bekannteste Vorfall ereignete sich im Zusammenhang mit einer Ölpipeline in Sibirien, die in die Luft flog, als die Sowjets versuchten, die Fehlinformationen anzuwenden. Die Explosion soll vom Weltraum aus zu sehen gewesen sein. Allgemein führte diese Erfahrung zu einer Beschleunigung des Star-Wars-Programms und des Wettrüstens, da die Amerikaner nun verstanden hatten, wie schwach die Russen wirklich waren und über wie wenig eigenentwickelte Technologie sie verfügten. Wie sehr sie sich darauf verließen, abkupfern zu können.
Leider war aber auch Wetrow schwach und irgendwann konnte er nicht mehr mit dem Druck umgehen. Er schaffte den Absprung nicht rechtzeitig, sondern explodierte irgendwann. Buchstäblich wie eine Bombe. In Moskau, auf offener Szene. Er brachte einen anderen KGB-Offizier mit einem Eispickel um, schaffte es beinahe, auch seine Geliebte zu ermorden, und landete im Gefängnis. Und dort fing er an zu reden, wodurch seine Tarnung schließlich aufflog.
Ja, Petrow verachtete Wetrow, aber manchmal glaubte Swetlana, bei ihrem Mann auch eine gewisse Sympathie für den gescheiterten Spion erkennen zu können. Eine komplizierte, auf Desillusion beruhende Sympathie. Und genau an dieser Stelle ging der verkrampfte Enthusiasmus zur Neige, und es brauchte einen anderen Antrieb, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Swetlana wusste, dass auch in Petrow Zweifel schwelten, gut verborgen hinter der militärischen Attitüde, dem bemühten Schnäuzer und dem überambitionierten Schreiben.
Zu alledem gab es da noch diesen Gefangenen oder wie auch immer man ihn bezeichnen wollte. Von dem sie gar nichts wissen sollte. War die Verantwortung für diesen Gefangenen, der jetzt wieder zurück nach Moskau gebracht worden war, eine Ehre für Petrow oder doch eher eine Belastung? Swetlana war sich sicher, dass er eine Belastung darstellte, und nichts würde sich bessern, wenn sie nicht selbst in dieser Hinsicht aktiv würde, ein wenig herumschnüffelte, Fakten in Erfahrung brachte. Sie fing an, die Sachen ihres Mannes zu durchwühlen, erst vorsichtig, dann immer unermüdlicher. Sie konnte einfach nicht darauf vertrauen, dass sich alles von allein zum Besten wendete. Ganz im Gegenteil. Ein Fehltritt reichte vollkommen aus, das hatte sie inzwischen verstanden. Aber es würde noch ein paar Stunden dauern, bis Petrow zurück nach Hause kam.
Nachdem sie seine Unterlagen gründlich durchsucht hatte, stieß sie tief unten in einer Schublade auf einen braunen Umschlag, der an einen gewissen Hauptmann Medwedew adressiert war. In dem Kuvert befand sich ein weiterer kleiner weißer Umschlag. Swetlana öffnete ihn und fing an zu lesen. Ein paar Minuten später richtete sie sich wie im Fieber auf. Mit ausgeklügelter Genauigkeit jagte sie den Brief durch ihren privaten Kopierer und legte das Blatt dann wieder genau dorthin zurück, wo sie es gefunden hatte. Jetzt hatte sie alles, was sie für den nächsten Schritt brauchte, wenn sie ihn denn wagen wollte. Sie sorgte dafür, dass alles wieder ordentlich verschlossen war, bevor sie gleichermaßen entschieden wie wütend den Raum verließ. Diese Dreckskerle hatten das Leben ihrer Eltern und beinahe auch ihr eigenes zerstört. Im Hintergrund sang Alicia Keys This girl is on fire,und auch Swetlana Petrowa hatte das Gefühl, on fire zu sein. Aber dieses Feuer musste sie dringend löschen. So schnell wie möglich. Bevor es in ihre Wohnung eindrang, in ihr Leben, und alles unwiederbringlich zerstörte.