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Die Perlennadel

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Oh, es begann im Grunde mit diesem und mit jenem — unter anderm begann es auch damit, dass in Birger Vaarda der Grössenwahn fuhr, dass er eines Morgens aufwachte und den Entschluss fasste, bei Hylnes eine Dampfschiffsbrücke zu bauen, ein unerhörter Einfall! Hylnes liegt doch noch keine Wegstunde vom Solbölande entfernt ... Haha — wohnen denn überhaupt Menschen in Hylnes? „Ich habe sie gezählt“, sagt Birger Vaarda, „wir sind nahe an die zweihundert Ansitzer, alles in allem.“ — „Haha!“ lachen sie. „Da hast du die Schafe und die Hühner alle mitgerechnet, du Birger.“ — „Nein — nur die Kinder ... Und nun überlegt es euch doch einmal, wie viele Fuhren ihr machen müsst im Jahr, mit Mehl und Fleisch und allem ... den weiten Weg hin und her zum Solböland; wie viele Stunden ihr euch in einem einzigen Jahr ersparen könnt. Ja, denkt doch einmal darüber nach, ihr guten Leute ...“

Das taten sie, die Leute vom Hylnesstrande; sie nahmen sich die Zeit dazu. An Gedanken und Meinungsäusserungen hat es wahrlich noch niemals gefehlt in dieser Gegend. Von jeher war es so, dass man lange um eine Sache herumging, ehe man sich daran machte, man betrachtete sie genau von allen möglichen Seiten — und man fand dann immer noch etwas mehr zu sagen.

Hingegen dieser Birger Vaarda war ja rein besessen von seiner Idee. Er sagte: „Und wenn ihr mir auch nicht mit einer einzigen Handreichung beistehen wollt, so schreckt mich das nicht. — Dann fange ich allein an“, droht er. „Nur zu, du!“ sagen sie und nicken höhnisch.

Da sollte Birger Vaarda also seinen Willen haben. Er fing allein an. Dabei zeigte sich allerdings, dass Birger Vaarda nicht Hafergrütze in den Knien, sondern, dass dieser Bursche, obschon er noch keine dreissig Sommer zählt, schon Bein in der Nase hat. Und Birgers Nase ist sowohl lang wie dick.

Aber das Schicksal hat auf Birger Vaarda ein scheeles Auge gerichtet. Es wählte ihn aus zu besonderen Taten. Es schaukelte ihn kräftig hin und her. Jetzt erhebt er ihn zum Führer und Häuptling, obschon er nicht von hoher Herkunft ist.

Kann man hier überhaupt von Herkunft reden? Jens, sein Vater, wurde doch nur so an diesen Strand geworfen. Kein Mensch wusste, woher er kam. Jens — er zog heran gleich der Wolke am Himmel. Und nach kurzem gab es irgendeine Sache mit Inga. Und daraus wurde eine Hochzeit und Kindstaufe — fast alles auf einmal. Jens übernahm die Regierung auf dem kleinen Gaard Vaarda. Unnötigerweise und überraschend ward der Knabe Birger in diese Welt hineingesetzt. Man könnte glauben, dass Jens nur zu diesem Zwecke aus dem Unbekannten hervorgetreten sei; denn wenige Wochen, nachdem Birger in die Welt gesetzt war, verschwand Jens daraus. Jens verschwand eigentlich nicht spurlos. Man fand seine irdische Hülle am Strande. Jens war doch Fischer — ein Mann, der sein Leben und seine Zukunft ganz aufs Meer setzte. Da hat ihn also das Meer genommen ...

Im Meer liegt, heute wie ehedem, das Märchen und die bittere Wirklichkeit. Das Meer gibt sowohl Glück wie Tod. Es schafft Männer und vernichtet sie, in göttlicher Laune.

Jens war in seiner Art ein Mann; soviel ist sicher. Er trotzte dem Südsturm. Aber der Sturm war stärker und schlug ihn ...

Birger wuchs heran und es zog auch ihn aufs Meer. Noch ehe er konfirmiert war, tat er mit beim Winterfischfang, verdiente und sparte und legte Geld auf Geld. Es floss neben dem Vaterblut auch das Blut seiner Mutter in ihm, gutes, dickes Bauernblut.

Und dann, auf dem Winterfischfang, in einer schwarzen Nacht, brauste eine mächtige Woge über Deck, fasste Birger Vaarda, hob ihn hoch und schleuderte ihn gegen das Gangspill. Und da lag er mit eingedrückten Rippen. Das Meer hätte ihn töten können, mit einem einzigen Prankenhieb. Doch das sollte nicht geschehen. Das Meer zeichnete ihn nur. Birger kam bald wieder auf die Beine. Allerdings sollte er nicht wieder der frühere Birger werden; seine Kraft war gebrochen ... In einer Art Auflehnung wollte er nun die Landungsbrücke bauen.

Birger setzte von jeher eine unheimliche Fahrt in alles, was er unternahm. Nun, da er diesen Brückenbau einmal auf sich genommen, ging er ihn sogleich an mit gesenkter Stirn. Trotzdem wurde es ein klägliches Beginnen. Das Meer blieb Birger Vaarda weiterhin feindlich gesinnt. Es spülte die Balken und Gerüste, die er darein stellte, sogleich wieder fort. Auf diese Weise konnte es also nicht gehen. „Und das kannst du dir doch wohl selber denken“, sagten die Nachbarn. „Bist du nicht länger bei Verstande, du Mensch? Spar dein gutes Geld!“

Doch Birger war klar genug in seinem Verstande; er wusste, was er wollte. Weiterhin trotzte er dem Meer. Er liess einen Taucher kommen und sparte sein Geld nicht. Der Taucher schuf nun die solide Unterlage; langsam fügte er Stein an Stein. Oh, es war ja ein wirklicher Taucher mit Kupferhelm auf dem Kopfe und Bleisohlen an den Schuhen — wenn er sich ins Wasser hinabsinken liess, stiegen Blasen hoch. Es war das reine Abenteuer auf Hylnes. „Dort wirft Birger Vaarda sein gutes Geld ins Meer“, sagten die Nachbarn. „Er ist total verrückt.“

Es wurde wahrlich manches Wort geredet in dieser Angelegenheit. Sogar der Krämer Friesak schwieg nicht und sagte: „Das wird niemals angehn.“ Der Krämer hatte dabei natürlich einen unbehaglichen Hintergedanken. Aber Birger Vaarda liess sich durch keine Worte einschüchtern, er liess seinen Taucher unbeirrt in die Meerestiefe hinabgleiten. Da musste mit der Zeit die Landungsbrücke erstehen. Sie wuchs langsam und sicher aus der Tiefe herauf. Das Meer wütete nicht übel dagegen; aber es wusste sich für dieses eine Mal an den grossen Steinen die Zähne ausbeissen ...

Zu dieser Zeit kehrte also Dagfinn Enge ins Frühlingstal zurück. Die Leute vergassen darob Birger Vaardas frevlerische Landungsbrücke und wandten sich gierig der letzten Neuigkeit zu. Es wurde am ganzen Strande bekannt, dass der Sohn Dagfinn, nachdem er Wasserfall, Berg und Himmel gründlich betrachtet, seinen feinen Rock auszog, mit seinen gelben Schuhen in den Dachstuhl kletterte und kräftig mithalf, den verfluchten Firstbalken zu legen. Und damit war der verlorene Sohn wieder da — im Grunde durfte es wohl gar nicht anders zugehen.

Der Sohn sass mit einem Male wieder am Tisch und erzählte von fernen Ländern und gottlosen Hafenstädten. Die Knechte hörten es und traten einander auf die Füsse. Die Mägde staunten und kicherten, manchmal empörten sie sich laut über die Ausgelassenheit der fremden Weltmädchen. Der Hofbauer lauschte den Reden seines Sohnes und tat keine Frage. Dabei wurde er schläfrig und gähnte.

Aber dennoch und trotzdem war nun der Sohn wieder da. Und es wurde viel lebhafter auf Nyheimen als ehedem. Mit aller Welt Geheimnissen und Unheimlichkeiten war dieser Sohn im Vaterhaus erschienen. Der Knecht Tollak fuhr an den Strand und holte eine Schiffskiste und einen langen Koffer mit gelben Beschlägen — Gott allein weiss, welcher Art Reichtümer dort verborgen lagen.

An den drei ersten Tagen zum Exempel trug Dagfinn drei verschiedene Anzüge. Er trug seidene Schlipse und machte sich über alle Massen fein und weltmännisch. Jeden Augenblick konnte er aus seiner Westentasche eine dicke, schwere Golduhr mit Deckel ziehen. Diese Uhr hing an einer goldenen Kette, und die Kette lief durch ein Knopfloch der Weste über die ganze Brust hinweg. Natürlich trug Dagfinn Enge auch einen Goldring mit Stein am Finger. War dieses denn nicht schon sehr viel und fast mehr als genug? Nein.

An Dagfinns Rockkragen stak eine Nadel mit weisser Perle. „Und was soll das denn sein?“ fragte Tollak, der Knecht. Dagfinn antwortet darauf nicht ohne weiteres. Er antwortet überhaupt nicht, sondern legt nur seine Hand über die Perlennadel. Es konnte demnach keine Kleinigkeit sein.

Oh, wie wurden da die Knechte und Mägde neugierig. „Gewiss ist auch die Nadel von Gold?“ musste Borghild fragen. „Und ganz gewiss hast du sie in einem ungeheuer fernen Lande gekauft?“

Hierauf zog Dagfinn seine Hand noch immer nicht zurück. Ach, er schüttelte nur ein wenig den Kopf und lächelte über die Einfalt der Magd. „Wo denkst du nur hin, du Borghild! Eine solche Perlennadel lässt sich nicht kaufen ...“

Wie? Dann muss Dagfinn sie also wohl geschenkt bekommen haben — vielleicht sogar von einem dieser gottlosen Frauenzimmer, die keinen Funken von Scham mehr im Leibe haben? Aber nein. Dagfinn lächelt weiter. Mit der Liebe hat das nicht das allermindeste zu tun. „Es ist ein Zeichen“, sagt er leise.

„Du grosses Mirakel — was für etwas?“ wundert sich Borghild, die Magd. „Nein, nein — man darf darüber nicht reden“, sagt Dagfinn. „Und zudem würdest du das ja doch niemals verstehen, altes Mädchen.“

Es handelt sich hier also um das schwärzeste Geheimnis und jedenfalls um etwas, was im Frühlingstal niemals aufgeklärt werden kann. „Höchstens so viel darf ich dir vielleicht verraten“, sagt Dagfinn, „dass ich damit durch alle Länder der Erde und ganz bis ans Ende der Welt fahren kann. Und ich werde an allen Orten mächtige Freunde finden. Wenn ich je in Not geraten sollte, so darf ich sie nur anrufen, dann werde ich sogleich Hilfe finden ...“

„Du Herr im blauen Himmelreich!“ schreit die alte Magd. Nun gleitet Dagfinns Hand sachte nieder. Und dort steckt sie, die wunderbare Perlennadel — es ist unfassbar. Es ist das leibhaftige Märchen.

Hierauf wird es still in der Stube. „Morgen wollen wir mit dem Grund von Tuland anfangen“, sagt Haldor Enge in diese Märchenstille hinein. „Ist Dynamit da?“ — „Dynamit, Lunte, Zündhütchen — alles ist da“, erwidert der Knecht Tollak, reisst sich von fernen Weltwundern los und ist mit einem Schritt und mit ganzer Seele beim Erdboden von Nyheimen. „Ich denke, wir sollten zuerst einen tiefen Hauptgraben anlegen. Denn es steht dort oben höllisch schlecht mit dem Gefälle.“ — „Das müssen wir wohl“, bestätigt der Hofbauer.

Aber der Knecht Sigurd mit seinen zwanzig Sommern ist noch lange nicht fertig mit den Geheimnissen der Fremde. „Was müsstest du nun tun, wenn du in Not geraten solltest, du Dagfinn?“ — „Wie? Was ich tun müsste? — Habe ich euch denn nicht bereits erklärt, dass es bei Todesstrafe verboten ist, auch nur ein einziges Wort darüber zu verlauten ... Und hiermit frage ich dich, Sigurd: Hast du, Knabe, vielleicht in deinem Leben jemals vernommen, was Mafia ist?“ — „Was?“ — „Oder die schwarze Hand, zum Exempel?“ — „Du allmächtiger Gott!“ schreien die Mägde. — „Und wenn einer etwas sagt“, fährt Dagfinn Enge leise und düster fort, „ja, wenn er kaum so viel, wie mit dem Auge zwinkert, dann ist er auch schon hin und geliefert ... Die schwarze Hand erwischt ihn überall und erwürgt ihn. Und sie macht ihm mit dem Messer ein Kreuz auf die Stirn. — In Chikago kannst du es jederzeit erleben, dass sie am hellichten Tage auf offener Strasse niedergeknallt werden ...“

„Herr im Himmel!“ kreischen die Mägde. „Das muss ich aber sagen ...“, stammelt der Knecht Sigurd. „Gibt es denn in jenem Lande weder Polizei noch Obrigkeit?“ Worauf Dagfinn Enge nur überwältigend lacht. Dagfinn wurde in der Ferne doch so wissend und makellos grossartig. Ja, es gibt ungeheuere Sachen in der fremden Welt.

Im obersten Frühlingstal wird ob dem ein Hofbauer abermals müde und übelgelaunt; sein Gähnen schallt durch die Stube. Gleich geht er in die Kammer.

Da liegt er nun wieder in seinem Bett und grübelt ein wenig nach und denkt an den Sohn. Nein, nein — Haldor Enge ist noch immer nicht ganz zufrieden ... Immerhin, wenn auch nicht alle von Dagfinns Geschichten nach des Vaters Geschmack sind, so ist doch der verlorene Sohn wieder da. Und einiges ist besser geworden, als es früher war ... Kinder, die kein Heim und kein Vaterhaus mehr haben, kommen doch so leicht auf Abwege ... Aber was nun Nyheimen anbetrifft, so ist es ein schönes Vaterhaus ...

Und wenn man mit dem Boden von Tuland beginnen will, so muss man zuerst einen grossen Stein sprengen, denn sonst kann das Grundwasser niemals abfliessen. Ja — und jetzt fragt es sich also, ob die Steinbohrer geschärft sind ... „Mafia“, murmelt der Hofbauer. „Warte ein wenig! Ei, dieses Wort hat man wohl schon irgendwo gelesen ...“ Denn Nyheimen liegt sozusagen immer noch in der Welt. — Dann mag nicht alles erlogen sein, was der Sohn Dagfinn erzählt. Einiges Mag sogar stimmen. Nein, nein — man darf nicht zu hart richten ... Aber ganz gewiss wird der Hofbauer eine Stunde früher aufstehen müssen, weil die Steinbohrer nicht geschärft sind. „Und wenn es dann nur Kohlen in der Schmiede gibt“, murmelt Haldor.

Ein Haldor Enge hat wahrlich vielerlei Gedanken und Sorgen, wenn er auch gewöhnlich so tut, als sei der Gang der Dinge fein geregelt. Trotz Gedanken und Sorgen kann der Hofbauer nun leichter einschlafen als sonst. Er muss sogar lächeln und mit seinem breiten Kinn zucken, wenn er an eine gewisse Perlennadel denkt.

*

Haldor im Frühlingstal

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