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LukasLukas (Evangelist)
ОглавлениеLukas also hat sich die Geburt im Stall ausgedacht, aber nicht aus der Luft gegriffen. Die Theologen pflegen von »Sondergut« zu sprechen, weil die Szene bis auf die Lokalisierung in Betlehem von sonst niemandem berichtet wird. Aber das besagt nichts über das genauere Vorgehen von Lukas. Dazu muss man zunächst etwas über ihn wissen.
Das wird schwierig und provoziert deshalb Spekulationen. Trotzdem: Es hat schließlich diesen Evangelisten gegeben, der im Text selbst nicht seinen Namen nennt, sich nur in die »vielen« einreiht, die schon Berichte verfasst haben. Dafür wissen wir, dass der »Unbekannte« nicht nur das Evangelium, sondern auch eine Art Fortsetzung geschrieben hat: die Apostelgeschichte, auch wenn diese beiden Teile eigenartigerweise nie zusammen überliefert wurden. Es existiert also von einem einzigen Verfasser ein Doppelwerk, von dem man weiterhin weiß, dass es einen bestimmten Zweck zu erreichen suchte. Der Verfasser hat die beiden Bücher nämlich jemandem gewidmet, den er als »hochverehrten TheophilusTheophilus« anspricht. Falls auch dieser TheophilusTheophilus existierte (und nicht lediglich seiner wörtlichen Bedeutung nach ein »Gottesfreund«, wie es letztlich jeder angenommene Leser sein sollte), könnte er ein vornehmer Mann gewesen sein, der sich für die Christen interessierte, vielleicht erste Kenntnisse vertiefen wollte. Der Unbekannte hätte dann das Evangelium als eine Art private Überzeugungsarbeit geschrieben, als Probe der »Zuverlässigkeit der Lehre«, in der der Adressat bislang schon »unterwiesen« wurde. Ein gefestigter Christ schrieb also nach dieser Vermutung für einen noch nicht Gefestigten.
Aber etwas weiter kommt man doch. In der Apostelgeschichte unseres vorläufig Unbekannten ist von einem Mann namens LukasLukas (Evangelist) die Rede, den PaulusPaulus von Tarsus (Apostel) auf seinen Reisen mitnahm und im Brief an die Kolosser als seinen »geliebten Arzt« bezeichnet. Die alte Kirche war davon überzeugt, dass es sich dabei um den Evangelisten handelte. Zwar hat die spätere Forschung herausgefunden, dass dieser Lukas in den Berichten seiner Apostelgeschichte nicht immer genau mit dem übereinstimmt, was Paulus in seinen Briefen schreibt. Man kann dies aber auch so erklären, dass Lukas nur zeitweise mit PaulusPaulus von Tarsus (Apostel) zusammen war, ihn immer wieder verließ bzw. aus den Augen verlor. Nur wo Lukas in der ersten Person als »ich« berichtet, könnte es sich um gemeinsam Erlebtes handeln, während die »wir«-Berichte auf einen Zuträger zurückgehen. Alles sehr unsicher, aber auch nicht ganz so wichtig. Jedenfalls wusste Lukas, wie wir unseren Unbekannten nun doch mit fast zwei Jahrtausende alter Tradition nennen wollen, einiges über den historischen JesusJesus, wenn schon nicht aus erster Hand, so doch aus sehr guter Quelle. Und er hatte eine klare Vorstellung davon, dass das Christentum es geschafft hatte, überall Verbreitung fand, sogar in Rom als der Endstation der Apostelgeschichte, wo LukasLukas (Evangelist) möglicherweise seine Werke verfasste.
Natürlich fragt man sich, wer dieser Lukas war, zum Beispiel ursprünglich ein Jude, der Christ wurde, oder doch eher ursprünglich ein Heide. Für Letzteres spricht, dass Lukas unter den Evangelisten das stilistisch beste Griechisch schrieb, jedenfalls wenn er frei war wie in der Einleitung, die einige Eleganz zeigt. Im Text selbst lehnt er sich sehr eng an MarkusMarkus (Evangelist) an, als wolle er jede Erfindung abweisen, was dann auf ziemlich schlechtes Griechisch hinausläuft, weil Markus wirklich Jude war, der möglicherweise sogar ursprünglich hebräisch bzw. aramäisch schrieb. Das sieht man an typischen Formeln wie »Es begab sich aber«, auch an der Nebeneinanderstellung von Hauptsätzen statt Unterordnung mit entsprechenden Konjunktionen – was LukasLukas (Evangelist) dann brav nachahmt, als sei mit solchen Plumpheiten die Wahrheit erwiesen.
Buchmalerei eines Meisters der Fuldaer Schule: Der Evangelist Lukas, um 840
Auch etwas anderes passt bei Lukas trotz seines großen Interesses an Israel (und der bedauerlichen Trennung als Teil seiner Geschichte) eher nicht zum gebürtigen Juden. LukasLukas (Evangelist) kennt sich zwar in deren heiligen Schriften bestens aus, kopiert förmlich Sprüche der Propheten und Psalmen ein, aber dann fiel Forschern auf, dass ihm das Lokalkolorit von Palästina kaum bekannt war. Als er etwa über die Heilung eines Gelähmten berichtete, fand er bei MarkusMarkus (Evangelist) durchaus das Passende vor, wenn dort davon die Rede ist, dass man den Kranken durch das Dach des Hauses herabließ, weil es offenbar aus Lehm bestand, in dem man leicht eine Öffnung herstellen konnte. Lukas hat vielleicht nicht genau hingesehen oder es sich anders nicht vorstellen können, jedenfalls spricht er von Ziegeln, die man abnahm – Ziegeln, die es im abgelegenen Palästina schlicht nicht gab.
Man muss sich LukasLukas (Evangelist) wohl als einen weltläufigen Intellektuellen vorstellen, einen »Hellenisten«, wie man in der damaligen globalisierten Welt solche Menschen aufgrund der von den Griechen (Hellenen) dominierten Kultur nannte, ob nun ein jüdischer oder ein heidnischer Hellenist. Wie er Christ wurde, wissen wir nicht. Bei MarkusMarkus (Evangelist) und MatthäusMatthäus (Evangelist) sind sich die Experten sicher, dass sie ursprünglich Juden waren, bei Lukas eben nicht. Nur seine profunde Kenntnis des Alten Testaments, das er allerdings auf Griechisch las, spricht für ursprüngliches Judentum. Sagen wir bei dieser Gelegenheit, dass dieses griechische Alte Testament eine Übersetzung war, die einst von 70 jüdischen Gelehrten angefertigt wurde und deshalb auf Griechisch als Hebdomekonta bezeichnet wird. Wir kennen sie heute besser in der lateinischen Bezeichnung als Septuaginta, die von den frühen Christen nicht nur gelesen, sondern auch im christlichen Sinne uminterpretiert wurde – so sehr, dass die Juden selbst irgendwann neue Übersetzungen anfertigten und letztlich wieder zum hebräischen Urtext zurückkehrten. LukasLukas (Evangelist) zitiert jedenfalls stets aus dieser griechisch-hellenistischen Septuaginta, was nicht folgenlos blieb. Also ein guter Bibelkenner, aber auch einer mit erheblicher Voreingenommenheit. Den hebräischen Urtext kannte er wohl nicht.
Womit wir zur Abfassungszeit des Evangeliums kommen, die sich nur einigermaßen genau fixieren lässt. Die Apostelgeschichte, wenn man so will des Evangeliums zweiter Teil, datiert auf die Zeit um 90 n. Chr. In Bezug auf das Evangelium geht eine Vielzahl der Exegeten davon aus, dass LukasLukas (Evangelist) bereits auf die Eroberung von Jerusalem durch die Römer unter Titus und die damit verbundene Zerstörung des Tempels im Jahr 70. n. Chr. zurückblickt. Eine vage Andeutung darauf gibt es etwa bei Lukas mit der Bemerkung: »Jerusalem wird von den Völkern zertreten werden« (Lk 21,24). Damit zeichnet sich wenigstens ein Rahmen ab.
Um zusammenzufassen: Es gab auf jeden Fall einen Lukas, der Evangelium sowie Apostelgeschichte schrieb und dabei der »Wahrheit«, wie er sie verstand, so nahe wie möglich kommen wollte. Wir wissen weiter, worin sein Problem lag. Denn Lukas wendet sich an einen Hochgebildeten, der mit Religionen und Philosophien seiner Zeit vertraut gewesen sein wird. Und dem galt es, Ungeheuerliches zu erzählen: von einem JesusJesus, der Gottes Sohn gewesen sein muss, da er schließlich von den Toten auferstand und in den Himmel aufgenommen wurde. Lukas ist ganz begeistert von dessen Lehren, besonders von einem Zug, den er immer, wenn sich die Gelegenheit bietet, breit ausmalt: Es kann auf dieser Welt nicht darum gehen, irdische Reichtümer anzuhäufen, es geht um mehr und Größeres. Von Lukas’Lukas (Evangelist) Wiedergabe der Bergpredigt als »Feldrede«, in der das erste Gebot des neuen Glaubens nichts anderes als die »Armut« bedeutet, war schon die Rede.
Aber die Sache mit Jungfrauengeburt und Auferstehung strapazierte eben die Glaubwürdigkeit. TheophilusTheophilus wird, philosophisch gebildet, wie er war, aufgeklärt gewesen sein und die damaligen Erzählungen über die griechisch-römischen Götter als alberne, jedenfalls überholte Geschichten betrachtet haben. Ein Zeus als notorischer Schürzenjäger, der stets hinter Menschenfrauen her war, sich in einen Stier verwandelte, um Europa zu entführen, oder in einen Schwan, um Leda zu schwängern: Da bot das Judentum etwas anderes mit einem gnädigen und nur bei Fehlverhalten strafenden Gott, der letztlich Erlösung versprach. Und dann erst dieser christliche Gott, der angeblich noch viel weitergegangen war, mit seinem Tod die Menschen von der ererbten Sünde rettete, ihnen eine neue Vervollkommnung in Aussicht stellte. Wobei man eben an diese Göttlichkeit glauben musste, für die sein Leben so sehr sprach, besonders mit den Ereignissen nach dem Tod, aber eben auch mit der angenommenen Jungfrauengeburt. Immerhin gab es dafür teils Augenzeugen, teils die Vorausdeutungen der jüdischen Propheten und der Psalmen.
Um es auf den Punkt zu bringen: Wer einen offenbar bestens gebildeten Mann von diesem JesusJesus überzeugen wollte, konnte nicht mit Phantastereien aufwarten. Schon hatte überdies der Druck der Außenwelt eingesetzt, hatten die ersten Christenverfolgungen begonnen, u. a. durch Kaiser NeroNero (röm. Kaiser), nach dem Brand von Rom im Jahr 64. Christ zu sein oder zu werden, brachte jedenfalls ein steigendes Risiko mit sich. Gerade hatten die Römer gezeigt, wie sie mit Juden umgingen, die sich ihnen widersetzten, indem der Kaiser ein Heer schickte, das Jerusalem stürmte, möglichst viele Einwohner umbrachte, den Tempel verwüstete und seine Reichtümer mitnahm, um in Rom das Kolosseum zu bauen. Es war sehr fraglich, ob es auf Dauer genügte, sich von diesen Juden abzusetzen und ihnen (und nicht dem Römer Pilatus) die Schuld an der Kreuzigung in die Schuhe zu schieben, ja einen brutalen Antijudaismus zu pflegen, wie er besonders die Evangelien von MatthäusMatthäus (Evangelist) und JohannesJohannes (Evangelist) prägt. Wo aber lag die Garantie, dass die Römer nicht genauso Christen bekämpften, die sich weigerten, den Kaiser als Gott anzuerkennen? Da musste man sich der christlichen Lehre schon sehr sicher sein, sie sehr überzeugend darstellen. Fast könnte man auf die Idee kommen, dass LukasLukas (Evangelist) es PaulusPaulus von Tarsus (Apostel) gleichtun wollte und eine Geschichte lieferte, die von gleichem Wert wie die Auferstehung war: nämlich die Geburt dieses JesusJesus Christus durch eine Jungfrau.
Alles musste jedenfalls stimmig sein. Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wie damalige Leser/Hörer auf die »Geschichten« reagierten. In viel späteren Zeiten setzte eine Art Ranking ein, mit der Einschätzung von hartem Wahrheitskern und mythischer Ausschmückung auf einer gleitenden Skala. Der wirklich harte Kern lag dann bei der Auferstehung. Wer daran nicht glaubte, war kein Christ. Aber schon Luther merkte, dass das Buch JesajaJesaja (Prophet) im Alten Testament aus zwei Teilen bestand, dass es also einen Bearbeitungsprozess gegeben hatte. Im Neuen Testament hielt er den JakobusbriefJakobus (Apostel) für eine »stroherne Epistel« und rückte sie ans Ende seiner Bibelübersetzung wie auf eine Strafbank. Später, in Zeiten aufklärerischer Bibelkritik, traf es gerade das Weihnachtsevangelium. Die ganze Szenerie hatte einfach zu viel Phantastisches, die Krippenseligkeit ebenso wie der Engelschor bei den Hirten, vor allem die Jungfrauengeburt. Sehr schön erzählt, aber eben erzählt – also Mythologie, nicht Wahrheit. Kann man das schon für einen TheophilusTheophilus als Erstleser annehmen? War der mit einer Erfindung zu überzeugen, von der LukasLukas (Evangelist) schließlich ganz genau wusste, dass es eine Erfindung war? Dafür spricht, dass Lukas einiges dafür tut, das Ganze historisch abzustützen: durch die Datierung mit Steuerschätzung und historisch verbürgte Namen wie AugustusAugustus (vorher Gaius Octavius, röm. Kaiser) und QuiriniusQuirinius, Publius Sulpicius (röm. Landpfleger von Syrien) zum Beispiel. Reichte das?
Oder ist dies falsch gefragt? War sich Lukas sicher, dass seine Geschichte überzeugen würde, weil es der Sinn von Geschichten ist, die Wahrheit mit Erfindung zu mischen? Und TheophilusTheophilus vielleicht ein Leser/Hörer war, der die Frage nach der historischen Wahrheit der Geburt überhaupt nicht verstanden hätte, weil er gar nicht wusste, wie man sie anders hätte darstellen sollen als mit einer erfundenen Geschichte? Wie hätte man da Augenzeugen beibringen können? Aber geboren worden war dieser JesusJesus Christus. Warum dann nicht diese Geburt so darstellen, dass sie »zeigte«, worauf alles ankam. Natürlich nicht in irgendeiner Unsinnsgeschichte à la Zeus und Co., sondern einer wahrscheinlichen. Die auch noch auf einer Voraussage beruhte, nämlich dem Geburtsort Betlehem. Da konnte man sich doch den Rest leicht ausdenken. Wahrscheinlich war es ohnehin so gewesen, jedenfalls so ähnlich. Wie denn sonst? LukasLukas (Evangelist), der gebildete Jude im 1. Jahrhundert n. Chr., weiß, dass es eine geschichtliche Wahrheit gibt, auf die alles ankommt – und eine Erzählung dieser Wahrheit, die durch Erfundenes gestützt wird.
Was ich noch einmal unterstreichen möchte: Lukas bietet in seinem Evangelium und seiner Apostelgeschichte Grundlagen des christlichen Glaubens. Dazu erzählt er: einerseits historisch Wahres, andererseits mythologisch Wahres. Die Trennlinie, auf die es uns heute oft ankommt, zieht er nicht. Mythologisches und Historisches gehen ineinander über, wie sie (im Alten Testament) schon immer ineinander übergegangen waren. Selbst der für das Judentum so wichtige Auszug aus Ägypten hält historischer Nachprüfung nicht stand, wie der israelische Archäologe Israel FinkelsteinFinkelstein, Israel mit seinen Ausgrabungen belegt hat: Keine einzige Scherbe im Wüstensand ließ sich finden. Die anschließend in der Bibel genannten Städte existierten erst Jahrhunderte später, die Mauer von Jericho musste nicht durch den Klang von Trompeten zerstört werden, weil Jericho überhaupt keine Mauern besaß. Die biblischen Geschichten sind in der Regel überwiegend (aber eben nicht nur, was die Sache so schwierig macht) mythologisch, was für FinkelsteinFinkelstein, Israel ihren Wert in nichts schmälert. Denn diese Geschichten dienten dem Glauben an Jahwe und sein auserwähltes Volk. Die Bibel ist kein Geschichtsbuch, sondern enthält anhand historischer Bezüge eine Anweisung für jüdisches Leben, vor allem für das immer wieder verlorene Vertrauen in diesen Jahwe, der dann stets zur Strafe schritt.
Ob nun LukasLukas (Evangelist) selbst Jude war, ob er den mythologischen Charakter der alttestamentlichen Geschichten durchschaute oder nicht: Er trägt selbst die Wahrheit in Form von Geschichten vor, auch neben schlicht Historischem wie den Reisen von PaulusPaulus von Tarsus (Apostel) mit ihren vielen Widrigkeiten oder dessen Aufenthalt in einer römischen Mietswohnung. Letztlich gibt es für ihn nur ein Ziel: Er will sagen, dass mit diesem JesusJesus der Erlöser erschienen ist, Gottes Sohn, dessen Leben und Taten mittlerweile mit Recht verbreitet werden. Wie aber kann man so viel Unglaubliches glauben? Eben, normalerweise überhaupt nicht. Es muss also nachgeholfen werden. Und helfen können gut erdachte Geschichten, sehr gut erdachte. Die am allerbesten erdachte ist die Weihnachtsgeschichte, Lukas’ Meistererzählung, heute vielleicht diejenige biblische Geschichte im Rahmen des Neuen Testaments, die als einzige noch nicht untergegangen ist. Martin Walser hat sie im für ihn typischen Überschwang einmal als die »schönste, beste Geschichte« bezeichnet, »die je von Menschen ersonnen und formuliert wurde«. Und so viel stimmt ja auch: Viele bekommen bei »Es begab sich aber zu der Zeit …« immer noch eine Gänsehaut.