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MatthäusMatthäus (Evangelist)
ОглавлениеDabei hat Lukas einiges nicht erzählt, ohne dessen Kenntnis die heutige Weihnachtsfestzeit nicht vorstellbar ist: Weder die Anbetung der Heiligen Drei Könige noch der betlehemitische Kindermord kommen bei ihm vor. Es hat also einen zweiten Geschichtenerfinder im Zusammenhang mit Weihnachten gegeben, einen von LukasLukas (Evangelist) unabhängigen. Dies war der Evangelist Matthäus, nicht zu verwechseln mit dem Apostel Matthäus, der in der frühen Kirche allerdings auch als Verfasser des Evangeliums angesehen und aus diesem Grund immer als der erste Evangelist den anderen vorangestellt wurde – sozusagen als Berichterstatter aus erster Hand. Aber auch dieser Evangelist bezieht sich viel zu stark auf MarkusMarkus (Evangelist), um als selbständig gelten zu können. Natürlich hat man sich auch bei ihm gefragt, ob er zunächst Jude oder Heide war. Weil er nicht nur das Alte Testament sehr gut kennt, sondern auch die jüdischen Traditionen und nicht zuletzt verhältnismäßig schlechtes Griechisch schreibt, hat man ihn mehrheitlich als ursprünglichen Juden angesehen. Dabei ist auch Matthäus ein Befürworter der Völkermission, er könnte in Syrien bzw. der Hauptstadt Antiochia mit ihrer hellenistischen Umgebung gelebt haben. Auf jeden Fall schrieb er ungefähr zur gleichen Zeit wie LukasLukas (Evangelist), also nach 70, dem Jahr der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Römer, was MatthäusMatthäus (Evangelist) ausdrücklich als gerechte Strafe für den »Mord« an JesusJesus ansah – vom ausgeprägten Antijudaismus gerade dieses Evangelisten war schon die Rede.
Theoderich von Prag: Der Evangelist Matthäus, 1360–64
Einen Hinweis auf das Programm, das Matthäus mit seinem Evangelium verbindet, kann man der Überschrift entnehmen, wo die Rede ist vom »Buch des Ursprungs Jesu Christi, des Sohnes DavidsDavid (biblischer König), des Sohnes Abrahams«Abraham (biblischer Stammvater). Darin liegt zunächst einmal eine Imitation des Alten Testaments, wo das 1. Buch Genesis ebenfalls eine »Liste der Geschlechterfolge« von Adam bis Noah bietet. MatthäusMatthäus (Evangelist) aber kommt es auf JesusJesus an, den Erlöser, und er verortet ihn geradezu programmatisch in der Tradition des Judentums mit David als erstem König und Abraham als Ahnherr der Israeliten. Dann folgen in einer Liste die Söhne Abrahams im Einzelnen, auch vier Ehefrauen. Das Ganze endet (nach dreimal vierzehn Generationen) bei Josef, dem »Mann MariasMaria (Mutter von Jesus); von ihr wurde Jesus geboren, der der Christus genannt wird« (Mt 1,16). Klar, dass die Stelle heikel werden musste, als es um die Unterbringung der Jungfrauengeburt ging. Die Lesarten türmen sich förmlich, im 4. Jahrhundert bietet der wichtige (weil älteste) Codex Sinaiticus die Formulierung: »Josef, mit dem verlobt war Maria, die Jungfrau, zeugte Jesus«, worauf nicht folgt: »Sie wird einen Sohn gebären«, sondern: »Sie wird dir einen Sohn gebären«. Das Entscheidende war für MatthäusMatthäus (Evangelist) offenbar, dass Jesus über Josef von DavidDavid (biblischer König) abstammt. Weil dies an der Zeugung durch den Heiligen Geist zu scheitern drohte, ist er der Namengeber von Jesus – das musste genügen. JesusJesus war damit Davidide, worauf alles ankam.
An dieser Stelle lohnt ein vergleichender Rückblick auf LukasLukas (Evangelist), der genau wie MatthäusMatthäus (Evangelist) einen Stammbaum Jesu bietet, aber mit starken Abweichungen (nur zwischen AbrahamAbraham (biblischer Stammvater) und DavidDavid (biblischer König) stimmen die Namen überein, danach kaum noch). Lukas bringt die Liste nicht gleich zu Beginn im Zusammenhang mit der Geburtsgeschichte, sondern trägt sie später nach, ehe JesusJesus nach seiner Taufe in Galiläa zu wirken beginnt. Es handelt sich in diesem Fall nach römischer Tradition um eine aufsteigende Liste der Vorfahren von Josef, die bis zu Adam geführt wird. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass Lukas Josef gewissermaßen aus der Schusslinie nimmt. Von Jesus heißt es: »Er galt als Sohn Josefs« – Punkt. Für Lukas steht eben MariaMaria (Mutter von Jesus) im Mittelpunkt, nicht Josef. Wer gibt Jesus bei Lukas den Namen? Eben nicht wie bei Matthäus Josef, sondern MariaMaria (Mutter von Jesus). Und wo liegt sonst noch ein wichtiger Unterschied? Bei LukasLukas (Evangelist) sieht die Ausweitung bis Adam so aus, als wolle er damit den universalen Aspekt des Auftretens von Jesus unterstreichen. Bei MatthäusMatthäus (Evangelist) hat man demgegenüber den Eindruck, er wolle JesusJesus als Juden darstellen, der aus der jüdischen Geschichte heraus die Wende brachte.
Genau dies bestätigt sich in einem noch viel wichtigeren Punkt. Wir wissen schon, dass die Autoren des Neuen Testaments die Beglaubigung ihrer Erzählung auf die Verbindung mit dem Alten stützen. Niemand geht dabei so systematisch und vor allem so offen vor wie MatthäusMatthäus (Evangelist). LukasLukas (Evangelist) montiert Alttestamentliches ein wie etwa beim Magnificat. Matthäus nennt dagegen ausdrücklich die Stellen, die sich als Voraussage deuten lassen. In der Geburtsgeschichte sind es insgesamt fünf solcher Erfüllungszitate, alle in entscheidendem Zusammenhang. Und alle besagen: Diese Geschichte, die im Folgenden erzählt wird, wurzelt in einer anderen, höchst bedeutsamen, nämlich in der Geschichte des jüdischen Volkes, wie sie dessen Heilige Schriften fixiert haben. Dieser JesusJesus ist genau der Messias, der angekündigt war, Punkt für Punkt seines Auftretens lässt sich mit den Aussagen des Alten Testaments abgleichen.
Nehmen wir zunächst Betlehem, den Geburtsort, den auch LukasLukas (Evangelist) nennt, aber mit der Volkszählung in Verbindung bringt. Was sagt MatthäusMatthäus (Evangelist)? Er zitiert den Propheten MichaMicha (Prophet) bzw. lässt sogar ganz Unabhängige, nämlich die jüdischen Experten des HerodesHerodes (röm. Klientelkönig), bei dessen Suche nach dem Kind aus Micha zitieren: »Du, Betlehem im Gebiet von Juda, bist keineswegs die unbedeutendste unter den führenden Städten von Juda; denn aus dir wird ein Fürst hervorgehen, der Hirt meines Volkes Israel« (Mt 2,6). Das Zitat stimmt ungefähr, bei Micha heißt es genau: »Aber du, Betlehem-Efrata, bist zwar klein unter den Sippen Judas, aus dir wird mir einer hervorgehen, der über Israel herrschen soll […] Er wird auftreten und ihr Hirt sein in der Kraft des Herrn, in der Hoheit des Namens des Herrn, seines Gottes« (Mi 5,1–3). Nur muss man auch den Kontext berücksichtigen. MichaMicha (Prophet), ein Zeitgenosse des bedeutenderen Propheten JesajaJesaja (Prophet), versucht, seinen Stammesgenossen Mut zu machen angesichts der anrückenden Assyrer. Angekündigt ist also ein Heerführer, der zusammen mit seinen Leuten Assur »mit dem Schwert weiden« und damit das eigene Land retten werde. Zwar ist auch von »Frieden« die Rede, aber einem Frieden durch das Schwert.
Die zweite Vorausdeutung – sie geht der gerade behandelten im Text voran – betrifft die wichtige Jungfrauengeburt. MatthäusMatthäus (Evangelist) fällt ja anders als LukasLukas (Evangelist) wirklich mit der Tür ins Haus, beginnt die »Geburtserzählung« mit der eingetretenen Schwangerschaft. Weil Matthäus aber nun einmal Josef im Visier hat, berücksichtigt er die Gedanken, die sich dieser Josef machen müsste, der genau weiß, dass er mit MariaMaria (Mutter von Jesus) nicht geschlafen hat, aber es plötzlich mit einer Schwangeren zu tun bekommt. Es erscheint ihm im Traum ein Engel und informiert ihn über die himmlischen Umstände, so dass Josef MariaMaria (Mutter von Jesus) »zu sich nehmen« kann, ohne sie weiter zu »erkennen«. Will sagen: Josef muss die Schwangere nicht verstoßen, schläft aber auch nicht mit ihr – vorläufig, denn bei Matthäus hat JesusJesus später Brüder (Mt 12,46 f.) bzw. Brüder und Schwestern (Mt 13,55 f.), die nicht vom Heiligen Geist stammen. Hier jedoch geht es um JesusJesus, den der Heilige Geist gezeugt hat. Und so beruft sich Matthäus auf »den Propheten«, wobei jeder wusste, dass JesajaJesaja (Prophet) gemeint war: »Siehe: Die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären und sie werden ihm den Namen Immanuel geben, das heißt übersetzt: Gott mit uns« (Mt 1,23).
Zugrunde liegt die JesajaJesaja (Prophet)stelle (Jes 7,14), die MatthäusMatthäus (Evangelist) nach der Septuaginta zitiert, die tatsächlich an dieser Stelle das griechische Wort parthenos verwendet, das sowohl ›junge Frau‹ als auch ›Jungfrau‹ bedeuten kann. Im hebräischen Text steht dagegen das eindeutige almah für ›junge Frau‹, nicht das ebenfalls eindeutige betulah für ›Jungfrau‹. Das Wort almah wird zum Beispiel im Hohen Lied, einem der bekanntesten Texte des Alten Testaments, verwendet und bezeichnet dort Königinnen und Konkubinen, die ganz sicher keine Jungfrauen waren. Man kann so gesehen von einer Ungenauigkeit der Übersetzung oder schärfer von einem Übersetzungsfehler sprechen. Übrigens enthalten die jüdischen Neuübersetzungen des Alten Testaments ins Griechische nach dem von ihnen empfundenen Skandal der fortschreitenden »Christianisierung« der Septuaginta an dieser Stelle das Wort neanis, das eindeutig ›junge Frau‹ bedeutet. Noch Luther hat dagegen die ›Jungfrau‹ zäh verteidigt. Das Gespräch mit Rabbinern über die JesajaJesaja (Prophet)voraussage brach er gekränkt ab, als die Rabbiner seiner Verteidigung der Jungfrau nicht folgen wollten – nach einer Anekdote wollte er den Juden 100 Gulden zahlen, falls bei Jesaja wirklich nur eine »junge Frau« gemeint sei.
Aber die Sache ist letztlich noch dramatischer. Das Zitat bezieht sich wie beim Zitat von MichaMicha (Prophet) auf die äußerst kritische Bedrohung Israels durch die Assyrer, wobei der Prophet JesajaJesaja (Prophet) seinem König AhasAhas (biblischer König des Südreichs) Mut machen wollte, auf Jahwe zu vertrauen und auf jeden aktiven Widerstand zu verzichten, um keinen Anlass zu einer Racheaktion zu bieten. Jahwe selbst wendet sich an Ahas, dass er sich ein tröstendes Zeichen erbitten solle. Als der sich unentschlossen zeigt, nennt Jahwe selbst dieses Zeichen: Eine junge Frau – das Judentum kennt keine Jungfrauengeburt – werde den Retter Immanuel gebären, und er beschreibt weitere Zeichen, an denen er zu erkennen ist, zum Beispiel dass er Butter und Honig essen werde.
Die nächste Vorausdeutung bezieht sich auf die Flucht der Familie nach Ägypten aufgrund der Verfolgung durch HerodesHerodes (röm. Klientelkönig). Josef ist auch hier wieder – nach entsprechender Aufforderung im Traum – der Protagonist, denn er ist es, der in der Nacht aufstand und »mit dem Kind und dessen Mutter« nach Ägypten flieht, ehe er nach dem Tod des Herodes – wieder nach einem Traum und wieder mit der Familie – nach Nazaret zurückkehrt. Da hakt MatthäusMatthäus (Evangelist) ein und zitiert erneut einen Propheten, der das schon vorher wusste: »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen« (Mt 2,15). Der Prophet ist in diesem Fall HoseaHosea (Prophet), der im 8. Jahrhundert im Nordreich wirkte, als sich das jüdische Volk trotz der politischen Bedrohung immer wieder von Jahwe abwandte. Übrigens macht MatthäusMatthäus (Evangelist) in seinem Zitat aus »Söhnen« einen »Sohn«, um damit die Voraussage zu gewinnen.
Fügen wir noch kurz die letzten beiden Voraussagen hinzu. Beim von HerodesHerodes (röm. Klientelkönig) angeordneten Kindermord in Betlehem heißt es: »Ein Geschrei war in Rama zu hören, lautes Weinen und Klagen: RahelRahel (Ehefrau von Jakob) weinte um ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn sie waren nicht mehr« (Mt 2,18). Dies bezieht sich auf den Propheten JeremiasJeremias (Prophet) (Jer 31,15), der in den Zeiten der Babylonischen Gefangenschaft seinem Volk neuen Mut zu machen versucht. Dazu gehört die Erinnerung an die Verschleppung nach Ägypten, als RahelRahel (Ehefrau von Jakob), die Lieblingsfrau von JakobJakob (Stammvater), ihre Kinder beweinte – in Rama nahe Betlehem, wo das Grab der RahelRahel (Ehefrau von Jakob) verehrt wurde. Dabei muss man berücksichtigen, dass es in diesem Fall nicht um Morde ging, vielmehr um Verschleppung, die der Prophet deswegen als Referenz heranzog, um zu betonen, dass diese einst Verschleppten im Triumph zurückkehren sollten. Genau damit wollte er die neuerlich Verschleppten trösten, die von den Assyrern übrigens vor ihrem Abtransport nach Babylon in Rama gefangengehalten worden waren. Über die letzte und schwächste Erfüllungsvoraussage im Zusammenhang mit JesusJesus als »Nazarener«, die sich nirgendwo finden lässt, wurde schon gesprochen.
Um zusammenzufassen: Keine einzige Vorausdeutung erfüllt Kriterien, die man nach moderner historisch-kritischer Methode an eine solche stellen muss. Dafür sind sie zu sehr aus dem Zusammenhang gerissen, entstellt, ja beruhen auf Übersetzungsfehlern. Aber es gibt eben auch eine andere Perspektive. Wenn man nicht so genau hinsieht, erscheinen die Ereignisse des Neuen Testaments aufgrund ihrer Spiegelung im Alten in einem reizvollen Licht, voller Bezüge, die immer nur eines andeuten: dass Gott in dieser Welt handelt. Wer auch noch glaubt, dass dieser Gott seinen Sohn als Erlöser der Welt geschickt hat, kann nicht davon ausgehen, dass sich dieses Ereignis unangekündigt, unkommentiert, einfach nur »historisch« vollzog. Es muss in ein Gewebe von Zeichen gehüllt sein, die sich mit etwas Mühe entdecken lassen. Eine Jungfrau gebiert den Sohn Gottes – wer fragt da nach den genauen Umständen? MatthäusMatthäus (Evangelist) tut es nicht, weil er nicht an Zufälle glaubt, wo es um etwas so Wichtiges geht. Und was ist wichtiger als diese alles ändernde Geburt?
Matthäus versucht, die Glaubwürdigkeit also anders als LukasLukas (Evangelist) zu erzielen. Er vertraut auf die Voraussagen, weil er ohnehin die JesusJesus-geschichte in die Geschichte Israels eingebettet sieht. Im Übrigen arbeitet er nicht mit einer historischen Datierung, der dann eine idyllische Schilderung mit Hirten fern jeder historischen Wirklichkeit folgt, sondern bietet eine durch und durch »historische« Szenerie mit realistischen oder durchaus realistisch wirkenden Akteuren.