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Gewalt als Möglichkeit: Aggression
ОглавлениеDie Gewalt ist eine Möglichkeit des Menschen – eine neben anderen. Die Gewalt ist eine Kraft der menschlichen Unruhe: Das ist ihr evolutionärer Nutzen. Zugleich provoziert Gewalt in ihrer menschlichen Ungeheuerlichkeit, dem Töten von Leben, die Reaktionen der Zähmung, des Erschreckens, also die Sorge um den Frieden in der Gesellschaft. Gewalt fasziniert und ihr Faszinosum besteht in der Fähigkeit zum Ungeheuerlichen des Tötens und Verletzens und der Furcht, die davon ausgeht. Dieses Ungeheuere erhebt jene, die darüber verfügen, in einen anderen Status des Menschseins. In ihr gründet alle Herrschaft, auch jene symbolische Identifikation mit ihr, wie sie sich im Kollektiv der »Sieger« vollzieht. Der Mensch entdeckt die Möglichkeit, seinesgleichen zu töten, so wie er die Möglichkeit entdeckt, Werkzeuge herzustellen. Mit beidem vollzieht er jenen Schritt aus der Natur, den das Tier nicht zu vollziehen vermag. In dieser Distanz zur Natur, die das Werkzeug weitet, allmählich und immer mehr, erzwingt sich die größte Entdeckung von allen, eben jene der Sterblichkeit. Werkzeughaftigkeit, Tötungsfähigkeit, Sterblichkeitswissen treiben den Menschen aus der bewusstlosen Egozentrik seines Leibes in die Exzentrik der Kultur, die ihn durch Vergesellschaftung mit künstlichen Instinkten, »Normen« zu domestizieren sucht. Die Faszination der Gewalt ist damit bereits ein Bewusstseinsvorgang, so wie das Erschrecken und das Bemühen, Gewalt zu regulieren. Ohne Regeln gibt es kein soziales Dasein. Mit ihnen entsteht ein Gefüge mentaler Sicherheit. Gewalt ist damit ein vor allem kulturelles und geschichtliches Phänomen, ein Wissen von Regeln des Friedens, Regeln der Überleitung vom Krieg zum Frieden, mit der steten Furcht vor dem Regelbruch.
Menschliche Gewalt ist ein kultureller Vorgang. Die Regeln ihrer Begrenzung sind historisch bzw. gesellschaftlich, d.h. sie sind reflexiv, sind Teil eines diskursiven Bewusstseins. Dies unterscheidet die menschliche Gewalt von der tierischen. Im Tierreich bleibt die innerartliche Aggression auf den Schaukampf beschränkt, dessen Ziel nicht die Vernichtung, nicht einmal die erhebliche Verletzung des artgleichen Widerparts ist. Die äußerste Form menschlicher Gewalt, den Krieg, findet man unter Tieren nicht. Vernichtungsgewalt gibt es dort lediglich zwischen Artfremden, und selbst dann handelt es sich nicht um ein kollektives Geschehen, bei dem organisierte Gruppen gegeneinander antreten.1 Die Vernichtungsgewalt bleibt wesentlich Beutegewalt des Raubtiers, das sich fleischliche Nahrung besorgt. Gewalt von Menschen gegen Menschen hingegen ist intentional. Ihr Ziel ist die Schädigung des Gegenüber, körperlich durch Verletzung, psychisch durch Furcht, sozial durch Ausstoßung, Vertreibung. Die körperliche Schädigung bildet dabei stets den Impulskern der Gewalt wie der darauf reagierenden Wahrnehmung. Aggressives Verhalten innerhalb einer Art wird durch die Bildung von Gruppen funktional gebunden. Rangordnungskämpfe errichten ein Gefüge von Autorität, von Regeln und Gehorsam, das die Fortdauer der Gewalt vermeidet und Frieden stiftet. Die Gruppe wird zu einem sozialen, d.h. mobilen Territorium, das sich zu einem geografischen hin weitet. Beiden ist gemein, dass sie durch »Grenzen« funktionieren, durch Inklusion und Exklusion. Der arteigene »Fremde« wird hier zum Objekt der Gewalt. Gleiches gilt für die sexuelle Rivalität, den Kampf um die Chance zur Fortpflanzung.2 Diese Grundzüge eines Gewaltverhaltens in der Abfolge von Drohen – Kämpfen – Fliehen bzw. Unterwerfen finden sich im Tierreich wie unter Menschen. Die Aggression besitzt daher durchaus »positive« Effekte, sonst wäre sie im Laufe der Evolution längst verschwunden. »Aggression« lässt den in der Natur schwachen Menschen psychisch stark werden, verschafft ihm eine Art emotionaler Blindheit gegenüber Natur-»Gewalten«, die ihn jederzeit überwältigen könnten. Wenn man also Aggression als Potenzial zum »Austasten« von Handlungsräumen auffasst,3 kann man sie als Vorgang des Lernens wirksam werden lassen. Schwächen von Personen, Normen, Institutionen werden durch die aggressive Herausforderung offenkundig. Soziale Konflikte können auf diese Weise zum Erlernen bzw. Anerkennen von Normen führen wie zu einem lernenden Normwandel aufseiten der jeweils dominierenden Institutionen und Personen. Der sozusagen »letzte Schaden« einer möglichen aggressiven Eskalation, d.h. die zerstörerische, massenhafte Freisetzung physischer Gewalt wird so vermieden. Sie bleibt »einlenkende« Drohung. Bleibt sie es nicht, wird die Grenze zum letzten, größten Schaden überschritten, ist das evolutive »Spiel« des Austastens verloren gegangen. Diese austastende, »explorative« Aggression steht in Wechselwirkung zu einem elementaren Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit. Gruppen funktionieren jedoch nur über die Beachtung von Regeln, also über Gehorsam, der durch Riten eingeübt und durch Rangordnungen stabilisiert wird. Ohne stillschweigenden Gehorsam sind soziale Verläufe nicht möglich. Er kanalisiert die Aggression, vermeidet Streit. Obwohl es offenbar eine angeborene Disposition zum Gehorsam als Einfügung in eine Gruppe gibt, muss dieser ständig erneuert werden, rituell, kommunikativ oder als Drohung mit Gewalt.
Der Krieg ist eine Form der menschlichen Freiheit. In ihm verbinden sich die kulturellen Möglichkeiten des Bewusstseins, der Technik und des Tötens mit der Fähigkeit zur Gewalt, die biologisch angelegt ist. Schimpansen etwa, als nächste Verwandte des Menschen, kämpfen innerhalb der Gruppe um Rangordnung und Weibchen und als Gruppe gegen andere Artgenossen um Territorium. Es geht um Verdrängen, nicht um Vernichten. Dabei vergesellschaftet die Gewalt, indem sie durch Kooperation die Gruppe nach außen schließt und Handlungskraft erzeugt, indem sie nach innen Altruismus entstehen lässt, Selbstlosigkeit derer, die ihre Gesundheit, ihr Leben für die Gruppe einsetzen, was im Kontext menschlicher Gesellschaft zum »Opfer« führt, das der Kämpfer mit seinem Tod erbringt und auf das die anderen mit seiner Anerkennung als eines »Helden« antworten. Die soziale Anerkennung stabilisiert die Psyche des Täters. Fehlt sie, droht der psychische Absturz. Bei der Bestimmung dessen, wer »fremd« ist, fallen die beiden Territorialitäten zusammen, eben die soziale des Zugehörigseins und die geografische der Abgrenzung des eigenen Nahrungsraums vor dem Zugriff anderer. Eine solche Territorialität gab es bereits in der Frühzeit menschlichen Daseins, der Epoche steinzeitlicher Jäger und Sammler. Die Ausgrenzung des Fremden aus jeglicher Zugehörigkeit findet dort wie bei den sog. Naturvölkern in der bewussten Tötung und im Verspeisen der Leiche ihre Konsequenz. Der tote Fremde ist wie eine erlegte Jagdbeute, wie denn auch der Krieg als eine Art Jagd geführt wird, in der Taktik des Erlegens tierischer Beute.4 Ritualisierungen kriegerischer Gewalt hingegen finden sich vor allem da, wo die sich bekämpfenden Gruppen ineinander Verwandte erkennen, ihre Fremdheit eine teilweise, fallweise bleibt und nicht vollständig wird. Das Ziel des Krieges ist stets die Beute, von der Besetzung eines Raumes, dem Frauen- oder Sklavenraub, dem Fortschleppen von Gütern bis zur Herrschaft über Unterworfene. Der Fremde ist hier die soziale Grenze, an der festgelegt wird, wer »Wir« sind und wer die »anderen«. Die Gruppe gewinnt ihre soziale Identität durch diese abgrenzende Vergewisserung von Gemeinsamkeiten. Sie gewinnt ihre ökonomische Existenz durch ihr physisches Territorium. In beiden Fällen handelt es sich um »Sicherheit«, um Verhaltenssicherheit im sozialen Kontext erwartbarer Gemeinsamkeiten, um Nahrungs- bzw. Daseinssicherheit im geografischen Kontext eines gesicherten Raums. Gewalt erfüllt demnach eine Sicherungs- und eine Beute-Funktion. Gewalt erzeugt Sicherungseffekte und bedroht sie zugleich. Da dem Menschen angeborene Tötungshemmungen fehlen, muss er kulturelle Hemmungsformen entwickeln, um den Vorgang des Krieges zu begrenzen. Er muss den Grundzweck seines Daseins, nämlich diesem Sicherheit zu verschaffen, gegen die stete Möglichkeit der Gewalt geltend machen. Die erste Idee des Friedens ist daher die des Gewaltverzichts in der Gruppe. Der Weg zu seiner zweiten Idee ist lang, zum Frieden zwischen Fremden. Der Tod erhält eine neue Dimension. Gott blickt auf ihn.
Die Entdeckung des Tötens ist das eingreifendste Ereignis in der Geschichte des menschlichen Bewusstseins. Mit ihr beginnt die Geschichte, d.h. mit ihr rückt die Zeit als Vorgang unumkehrbaren Handelns in das Bewusstsein ein, als eine Zeit jenseits der Natur. Gott, das Göttliche, ist Schöpfer allen Lebens und also Herr des Todes. Indem der Mensch tötet, setzt er sich an die Stelle Gottes, entscheidet über ein Leben, das Gott gegeben hat. Nur Gott jedoch darf über das Leben entscheiden, weshalb der Freitod als »Selbstmord« in allen Religionen verboten bleibt. Das frühzeitliche Opfer als Sühne für das Töten, die Einbeziehung der Gottheit in die Bluttat durch das Teilen des getöteten Tieres mit ihr, bis zum Einbeziehen Gottes in das Menschentöten, in den Krieg, vom Befragen des Orakels, der Zeichenschau, dem Beten, Segnen, bis hin zum Krieg um »Gottes Willen«, sollen die Gottheit mit dem Diebstahl des Todes versöhnen. Der Gottheit ist der Tod gestohlen worden. Das Opfer befleckt Gott mit dem vom Menschen vergossenen Blut, zwingt ihn in eine Komplizenschaft. Der Mensch, der die Gottheit um den Alleinbesitz des Tötens gebracht hat, versöhnt sich mit ihr im Blut des Opfers. Blut, die Lebenskraft im Körper, wird unrein, sobald es den Körper verlässt, selbst in der Menstruation. Es wird nur rein im Opfer, etwa wenn beim jüdischen Passahfest im Tempel das Blut der unschuldigsten Tiere fließt, der Lämmer, der Gottheit geopfert. Das Essen von Fleisch vollzieht sich auf lange Zeit im Ritus des Opfers, bei dem man symbolisch mit der Gottheit gemeinsam isst. Das Töten beginnt demnach mit dem Fleischverzehr und es sozialisiert sich in seiner Verteilung. Der Mensch gibt der Gottheit etwas ab und knüpft so das soziale Band mit ihr in neuer Weise. Der Jäger teilt das Fleisch mit den Mitgliedern seiner Gruppe und realisiert damit seine hervorgehobene Rolle in ihr. Zur Jagd bedarf er der »Werkzeug«-Waffe, zum Essen des Feuers, das die Fleischnahrung für den Magen des Pflanzenessers Mensch erschließt. In Jagdgruppen entstehen die ersten festgefügten sozialen Verbände und mit der Trennung der Früchte sammelnden Frauen und jagenden Männer entsteht die erste Arbeitsteilung. Im Streben nach Verbreitung der Nahrungsbasis bildet sich ein Bogen über eine Million Jahre vom Vormenschen, der Tierkadaver aufbricht (3,6 Mio. Jahre) bis zum Jäger, der gezielt Tiere erlegt (2,6 Mio.). Dazwischen liegt das Werkzeug, d.h. der Schritt von unbearbeitetem Stein zum zweckhaft zugerichteten, zum Speer, dann zu Pfeil und Bogen. In Gruppen, in denen das Jagen Männersache war, erwarben erfolgreiche Jäger Vorteile bei der Frauenwahl bzw. der Fortpflanzung. In der Jagd entdeckt der Mensch die Gewalt und verwirklicht sie. Im Krieg überträgt er die Gewalt als Mittel vom Fleisch auf das Land.
Der Tod und das Töten sind die eine gründende Bewusstseinskraft menschlichen Daseins, womöglich seine tiefste. Der Mensch weiß um seine Sterblichkeit und symbolisiert sie. Er weiß zugleich um seine Fähigkeit, den Tod zu geben. Wo die Rückbindung der Gewalt in sie begrenzende Normen scheitert, entsteht ihre Asozialität. In ihr verbindet sich die Lust mit der Gewalt. Die Gewalttätigkeit wird zu einem Geschlechtsakt, nicht nur gezielt als Vergewaltigung, sondern auch vermittelt als Verstümmelung mit einer Lüsternheit der zugefügten Schmerzen, bis hin zum Kannibalismus. Der erste Schritt in die Freiheit ist der in die Gewalt. Er wäre selbstzerstörerisch, wie jede grenzenlose Freiheit, und muss daher symbolisiert, durch soziale Abläufe ritualisiert werden. Im Opfer bietet sich die Möglichkeit, die in einer Gruppe vorhandene potenzielle Gewalt stellvertretend abzuleiten.5 Dass die Opferung an Lebewesen – tierischen oder menschlichen – vollzogen wird, die nicht rachefähig sind, entspricht dem Opferzweck, nämlich die Gesellung durch Ableitung der Gewalt »nach außen« im Inneren zu befrieden.6 Rachefähig ist jemand, der in ein soziales Wir eingebunden ist, den andere als zugehörig betrachten. Ein Angriff auf ihn löst Gewaltreflexe aus, weil er als Angriff »auf uns« aufgefasst wird. Rachefähig ist, wer daher selbst nach seinem Tod gewaltfähig bleibt. So wie die Pflicht zur Rache sich in der Sippe des Getöteten vererbt, so vererbt sich die Schuld in jener des Täters, wobei jeder Täter oder Opfer werden kann, je weiter sich die Spirale gegenseitiger Rache dreht. Allein jene, die als nicht gewaltfähig gelten (Frauen, Kinder, Alte, Kranke) bleiben ausgenommen, was darauf verweist, dass es einen die Gruppe übergreifenden Kodex von Werten gibt, einen die Gewalt »im Allerletzten« begrenzenden »Sinn«. Rache bzw. die Zuversicht, dass für erlittenes Unrecht durch die Gruppe Vergeltung geübt wird, ist eine der elementaren psychischen Momente der Vergesellschaftung. Damit ist die früheste Gründung der sozialen Anerkennung auf die Gewalt bezogen, also darauf, dass das eigene Leben durch die Rachedrohung geschützt wird. »Politik« entsteht dann da, wo die Rache durch das Recht abgelöst wird, die Gewalttat von einer Entscheidungsrede, die allerdings letztlich ohne Gewalt, als Drohung und Durchsetzung, nicht auskommt. Mit dem Recht entstehen Gerechtigkeit und Herrschaft. Gerechtigkeit ist das, was Autorität begründet. Herrschaft ist das, was fähig ist, eine derart überlegene Gewalt auszuüben, dass jede andere vor ihr versagt. »Politik« ist demnach zu allererst das Bestreben, sich in den Besitz der Gewalt zu bringen, um ihr Grenzen zu setzen. Um innerhalb dieser Grenzen leben zu können, darf man nicht blutbefleckt sein. Wer sich mit Blut befleckt hat, kann nicht in die Friedensgemeinschaft des sozialen Lebens zurückkehren, es sei denn, er unterzieht sich einer rituellen Reinigung. Das gilt auch für jene, denen das Töten sozial geboten war, für den Opferer, den Krieger. Nirgends ist die Absolutheit der Gewalt, ihre bodenlose Leere so eindringlich ins Bewusstsein gehoben worden wie in der griechischen Tragödie, in der alles menschliche Handeln die Zerstörung nur vorantreibt. Die Gewalt ist hier wie eine Hölle, die in immer tiefere Finsternis führt. Die Riten der Reinigung sind zerfallen und die Gewalt drängt in den Friedensraum des sozialen Lebens. Die Tragödie reflektiert das wie ein gebrochener Spiegel.7 Der Zerfall der Riten setzt die Gewalt in den Zustand mentaler Schuldlosigkeit zurück. Riten, Normen, Herrschaft setzen Schuld und Sühne, symbolisieren sie vor dem Leben und der Gottheit, symbolisieren sie als Wesen der Gesellschaft.
Zu den elementaren Menschenerfahrungen des Todes und des Tötens tritt die der Gesellung, d.h. der Sicherheit in ihrer dreifachen Entfaltung, als Sicherheit des Lebens, als Sicherheit des Verhaltens, als Sicherheit im Unglück. Im religiösen Mythos und seinen kultischen Zeremonien findet die Gesellung ihren übergreifenden Bezugspunkt, dessen Essenz die Rückgabe der Gewalt an die Gottheit ist.8 Die rituelle Form sucht den Hass auf einen symbolisch »Unreinen« zu beschränken, meist ein Tier. Damit soll das Rasen der Furcht in der Gesellschaft verhindert werden, wenn in einer Katastrophe die befriedenden Mechanismen der Anpassung, der Angst, versagen, vor einer Hungersnot, Seuche, Niederlage. Gelingt die Ritualisierung nicht, kann die anonym gewordene Furcht als gewalttätiger Hass gegen eine Gruppe anderer eliminierend explodieren. Der Versuch des Christentums, die Gewalt auf den göttlichen Leib, auf Christus selbst zu beziehen, die Gottheit sich selbst zum Opfer bringen zu lassen, um so die Gewalt zum Verschwinden zu bringen, wäre dann die äußerste Konsequenz eines Religiösen, in dem die Menschen versuchen, den Raub des Todes, den Besitz des Tötens, an ein ihnen Unzugängliches, Entzogenes zurückzugeben.
Die Gewalt, selbst der Freitod, ist ein soziales Handeln. Die Gewalt ist eine psychisch gegründete Möglichkeit des Menschen, die durch soziale Kontexte gehemmt oder entbunden wird. Gehorsam ist ein Mechanismus der Vereinfachung und der Entlastung. Sein Funktionieren ist kulturübergreifend und kann auch experimentell nachgewiesen werden. Wie der biblische Abraham dem Gebot seines Gottes folgend den Sohn opfern will und erst durch ein anderes Gebot dieses Gottes daran gehindert wird, so zeigte auch das 1961 erstmals in den USA durchgeführte, später in anderen Längern wiederholte Milgram-Experiment den engen Zusammenhang zwischen Hierarchie und Gehorsam.9 Dabei sollten durchschnittliche Personen als »Lehrer« mit sich verstärkenden Elektroschocks »Schüler« bei falschen Antworten bestrafen. Das Vorhandensein der »Schüler« wurde dabei fingiert, was den »Lehrern« jedoch nicht bekannt war. Alle »Lehrer« waren bereit, die ihnen völlig unbekannten »Schüler« für geringfügiges Versagen mit Schlägen bis zu 300 Volt zu bestrafen, wenn es der Versuchsleiter forderte. 65 Prozent gingen sogar bis zu einem Maximum von 450 Volt. Dass sie mit ihren »Bestrafungen« schwerste Verletzungen in Kauf nahmen (ab 220 Volt kann der Tod eintreten), war den Versuchspersonen bekannt, da man ihnen über ein Tonband eine Abfolge von Bitten, Schmerzensschreien bis hin zum Verstummen vorspielte. Wesentliche Verhaltensänderungen ergaben sich dann, wenn die Autorität des Versuchsleiters geschwächt wurde, sei es durch fingierten Widerspruch, sei es durch seine Abwesenheit. Bei einem zehn Jahre später (1971) durchgeführten Experiment, bei dem eine Gruppe »durchschnittlicher, normaler« Personen durch Münzwurf in »Gefangene« und »Wärter« eingeteilt und in ein fingiertes Gefängnis gebracht wurde, zeigten sich ähnliche Verläufe.10 Kollaboration und Zerstörung der Widerstandsfähigkeit der »Gefangenen«, deren Minimierung auf das schiere Überleben, zunehmende Willkür der »Wärter« bis hin zum offenen Sadismus, das Verschwinden jeglicher persönlicher Verantwortlichkeit vor der Entpersonalisierung durch Uniform und Nummerierung kennzeichneten eine Situation, in der die Gewalt strukturell geworden war.
Gewalt erzeugt Herrschaft und Furcht, und zwar umso mehr, je unverhüllter sie sich zeigt. Ihr Ansatzpunkt im Bewusstsein der Gewalthandelnden ist die Anonymisierung des anderen, seine vollständige Fremdheit, die sich im Hass zeigen kann, jedoch in der Gleichgültigkeit erst ihre Absolutheit erreicht. Sie ist es, die am einfachsten Regeln, Befehle befolgt, sich einfügt, um hinterher wieder auszutreten, als sei nichts geschehen. Das »Böse« ist nicht pathologisch, sondern eher ein Handeln im Zustand der Anonymität, in welcher der Einzelne allein durch die totale Macht hemmungslos wird. Der Schock des neuen Häftlings, dass die Ersten, die ihn prügelten und demütigten, nicht die Wärter waren, sondern »privilegierte« Mithäftlinge, und dass das »simple Modell: »wir« hier drinnen und der Feind »dort draußen« nicht funktionierte, verweist auf jenes Gesetz der Gewalt, sich durch hierarchische Teilung zu vermehren. Der Feind war plötzlich überall und die Grenzen zwischen Gewalt und Ausgeliefertsein verliefen kaum überschaubar zwischen den Unterworfenen selbst, zerschlugen die Gemeinsamkeit.11 Die Gewalt wie die mit ihr verbundene Herrschaft ist dort total geworden, wo sie ihr Gegenüber gewaltunfähig gemacht und sie auf ihr physisches Minimum reduziert hat.12 Die Gewalt wird allmächtig und ihre mächtigste Waffe ist nicht der Tod, selbst die Folter nicht, sondern der Hunger, das allmähliche Verhungern, als Reduktion auf jenes Minimum, welches nur noch überleben will. In ihm ist alles tot, bis auf den sich dahinschleppenden Leib. Widerstand, Solidarität, selbst der Wille zum Freitod sind geschwunden.
Es gibt zwei Universen der Gewalt: das Lager und den Krieg. Und es gibt zwei Typen der Gewalttäter: den Wärter und den Soldaten. Daher gibt es auch zwei Arten von Gewaltzuständen: die der Gewalt gegen Gewaltunfähige und jene der Gewalt zwischen Gewaltfähigen. Die einzige Furcht, welche der »Wärter« kennt, ist die der Gewalt der Unterworfenen oder ihrer Panik. Die Angst des Soldaten ist eine andere. Da für ihn die Gewalt ein wechselseitiges Verhältnis ist, tritt ihm der andere als Subjekt gegenüber. Die auch diesem eigene Verletzungs- und Tötungsmacht konstituiert seine menschliche Gleichheit und legitimiert das eigene Schädigungsverhalten. Das eigene Bedrohtsein wie die daraus hervorgehende Moral drängt auf Regeln, welche der Unabsehbarkeit des Gewalthandelns ein Minimum an Vorhersehbarkeit, »Zukunft« abzwingt. Das mit Angst infizierte Bewusstsein soll beruhigt werden, was nur teilweise gelingt. Dass Soldaten massenhaft traumatisiert werden, weiß man spätestens seit dem Ersten Weltkrieg, wogegen der allein über Gewalt verfügende Täter von traumatischen Schäden frei zu bleiben scheint. Diese lineare Gewalttätigkeit unterscheidet sich damit grundlegend von jener wechselseitigen, wie sie für den Soldaten kennzeichnend ist. Lineare Gewalt ist in ihrem Kern eliminatorisch. Sie nutzt ihre »Objekte« oder vernichtet sie. Sie kennt keine Moral, keine Regeln, weil sie von der Prämisse der Wehrlosigkeit ausgeht. Ihre Grenzen sind rein pragmatisch. Die kriegerische als wechselseitige Gewalt hingegen gründet in der Prämisse der Tötungsgewalt des anderen. Würde er eliminieren, pauschal vernichten, überschritte der Soldat Grenzen, von denen seine »Ehre« abhängt und eine letzte Chance des Überlebens. Der »Wärter«, wie jeder, der ihm als Typus gleicht, weiß davon nichts. Man kann diese beiden Grundtypen noch um drei Gestalten ergänzen, die dazwischen einzuordnen wären: den Schläger, den Terroristen, den Partisanen. Gemeinsam ist ihnen eine sozial, z.T. auch physisch zerbrochene Umgebung. Die Normen üben keine psychische Kontrollmacht mehr über eine Tätergruppe aus, ins besondere weil die sie letztlich erzwingende Drohgewalt der Herrschaft fehlt, weil sie nicht mehr ängstigt oder weil eine neue Herrschaft zur Gewalt gegen jene ermuntert, die sie als Feinde freigegeben hat. Keine massenhafte Gewalt, von der revolutionären bis zur genozidalen, wäre ohne den Schläger möglich gewesen, dem es um den Lustgenuss der Gewalttätigkeit, erst dann um ihren Beutegenuss geht. Typologisch steht er dem Wärter nahe, von dem ihn jedoch die Organisation trennt. Mit dem Terroristen verbindet ihn das Situationsbezogene des Handelns, von ihm getrennt ist er durch das Verdeckte des Terrors, die ideologische Begründung. Der Partisan hingegen steht dem Soldaten am nächsten, in der Wechselseitigkeit des Todesrisikos, der hohen Disziplin und Organisation, scheidet sich jedoch von ihm weniger durch das ideologische Moment, das auch der Soldat kennt, sondern gleichfalls durch die situationsbezogene Willkür, die keine übergreifende Regelungsnorm für Gewalt (etwa als Kriegsrecht) akzeptiert.