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Gewalt als Bindung: Politik

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Die kriegerische Gewalt bleibt nur dann ein Mittel des Politischen, wenn ihr Streben nach Absolutheit gebrochen wird. Wo diese Gewalt absolut wird, reduziert sich das Politische auf Gewalt. Es verschwindet. Die Gewalt regiert vor wie hinter den »Mauern« der Stadt. Politik wird dann zu einer Fortsetzung des Krieges, mit dem Bürgerkrieg als Bindeglied, der von einer offen geübten militärischen Gewalt in die halb verborgene, routinierte Gewalt der Polizei, Geheimpolizei, der Lager überwechselt. Der Bürgerkrieg dauert an, er wechselt nur seine Gewaltform. Mit der Revolution kommt das Pathos in die Katastrophe. Die Ideologie zeigt den Feind als absolute Größe, die lediglich durch Gewalt beseitigt werden kann.

Eliminatorische Gewalt herrscht dann da, wo »die anderen« in die vollständige Fremdheit abgestürzt sind und es keine Gemeinschaft mehr gibt. Diese Gewalt bezeichnet nicht mehr nur Sklaven oder Heloten, sie meint deren Verschwinden, durch Liquidierung, zumindest Vertreibung.24 Diese Gewalt liegt jenseits des Politischen, aber auch des Kriegerischen, und sie reicht Jahrtausende zurück. Der Pflug, der über das geführt werden soll, was einst Karthago war, verweist auf eine dem Eliminatorischen eigene Radikalität, die mit den Menschen auch ihre Geschichte, die Erinnerung an sie, zum Verschwinden bringen will. Damit tritt neben – und gegen – das Kriegerische und das Politische das Totalitäre als Bewusstseins- und Handlungshaltung, die zwar im Totalitarismus des 20. Jahrhunderts epochal geworden ist, sich jedoch in aller Geschichte wiederfindet. Sie ist eng mit dem Religiösen verbunden, doch besitzt sie keine Transzendenz. Wo das Theologische auf Gott wartet und als Transzendenz sich auf den Einzelnen richtet, rettet oder vernichtet das Totalitäre im Kollektiven. Der historische Bogen von Joachim von Fiore im 12. Jahrhundert bis Lenin vollzog dieses Verschwinden nach, mit dem Umschlag hin zur millenarischen Gewalt in den gescheiterten Anläufen des 16. und 17. Jahrhunderts, die in die jakobinische Revolution der Menschheitsbefreiung durch den Menschen fortführten. Im Zustand des millenarischen Wahns vermag dann nur noch der Utopie-Bruch vor dem Zwang zur totalitären Gewalt zu bewahren. Die Verwirklichung der Utopie ist die Vollkommenheit der Gewalt. Denn da die Utopie von einer durch Gleichheit stillgestellten Gesellschaft ausgeht und also vom Ende der Geschichte, dies aber unerreichbar bleibt, muss die Gewalt fortdauern. Man erkennt zwar das Versagen der utopischen Voraussage und Gewalt, anerkennt es aber nicht. Es hingegen anzuerkennen bedeutet, mit der Utopie zu brechen, bedeutet, das Politische wieder herzustellen, um der Gewalt Grenzen setzen zu können. Der Weg des Oliver Cromwell etwa im 17. Jahrhundert zog den Bogen von der Zerstörung des Politischen im religiösen Bürgerkrieg zurück zu seiner Rekonstruktion, real im Versuch einer Wiederherstellung der Tradition in Recht, Parlament, Regierungsweise, geistig in der Anerkennung der Unvollendbarkeit aller Geschichte.25

Das Politische, d.h. die Ordnung der Gesellschaft zwischen Autorität und Gewalt, zwischen einem Gehorsam aus Gewohnheit und Einsicht und einem Gehorsam aus Furcht zerfällt da, wo nur Gewalt ist. Ihre Absolutheit jedoch erreicht die Herrschaft durch Gewalt da, wo sie den Menschen auf seinen »nackten Leib«, auf das schiere Überleben minimiert hat. Der Gedanke, dass der Mensch mit seinem bloßen Körper nichts ist, dass er erst mit seiner Einkleidung in die Sicherheiten der politischen Gemeinschaft etwas wird und es nur so lange bleibt, wie diese Gemeinschaft besteht, ist grundlegend für das politische Denken wie für die historische Wirklichkeit. Geltung besitzt nur das positive Recht, d.h. eines, das von der »politischen« Herrschaft durchgesetzt wird. Wo es diese Herrschaft nicht mehr gibt, d.h. wo sie nicht länger überlegen gewaltfähig ist, verliert auch das Recht seine Durchsetzungskraft, denn wenn Verstöße nicht länger geahndet werden, zerfällt der Respekt aus Gewohnheit und Anerkennung. Der Mensch wird zusehends »nackt«, auf sein Biologisches reduziert. Erst das Recht schreibt ihm wieder Rechte in seinen Leib, kleidet ihn in Ansprüche, Sicherheiten, Pflichten. Das Recht stellt Öffentlichkeit her, d.h. es fügt seine Normen in den weltanschaulichen Zusammenhang einer Gesellschaft. Damit lässt es die politische Gewalt kommunikationsfähig werden, rechtfertigt sie und begrenzt sie zugleich. Recht reguliert Gewalt. Gewalt ermöglicht das Funktionieren des Rechts. Der totalitäre Zustand hingegen setzt die Nacktheit nicht nur voraus, sondern behält sie bei. Sie ist nicht etwas, das im Recht überwunden werden soll. Vielmehr bleibt sie etwas, auf das jeder reduziert werden kann, zu jeder Zeit. Ein Rechtsstaat wäre dann einer, der keine rechtsfreien Räume zulässt und in dem jede Gewaltausübung eine Rechtsnorm benötigt. Seine allgemeinste Voraussetzung bildet die Freiheit. »Freiheit« ist Besitz des eigenen Leibes im Gefüge der Gemeinschaft. Aus ihr entstehen »Rechte«. Der Barbar bzw. der Heide, der Ketzer, der Sklave, der Leibeigene stehen in den Randzonen der Körpersicherheit oder bereits jenseits davon. Wer seinen Körper nicht besitzt, ist nicht politikfähig. Wer jedoch frei ist, wird »politisch«, selbst wenn ihm die politische Partizipation versagt bleibt. Die Linie von der Rechtssicherheit, als Schutz des Körpers vor willkürlicher Bestrafung, über die soziale Sicherung des Überlebens, als Schutz vor dem Verhungern, zur politischen Sicherung der Arbeitskraft, als Schutz des ökonomischen Körpereigentums, und schließlich zur modernen Wohlfahrtspolitik gehört hierher. Wo Herrschaft keine Sicherheit mehr zu gewährleisten vermag, zerfällt sie. Diese Sicherheit ist zuerst eine der Gewaltlosigkeit, ermöglicht durch die Gewalt des Staates. Doch da sie Sicherheit des Körpers ist, reicht sie grundsätzlich weiter, schließt den sozialen Schutz mit ein. Allerdings ist dieser zweite Kreis des politischen Körperschutzes erst allmählich verwirklicht worden, weil er lange der Solidarität »intimer«, vorpolitischer Kleinverbände, insbesondere der Familie, zugehörte. Politische Gemeinschaften hingegen bemächtigen sich unverzüglich der Gewalt, die etwas unmittelbar Wirkendes ist, weil sie den Körper sofort und eingreifend trifft. Politik und Gewalt gehören dem an, was in der kurzen Zeit geschieht. Solidarität hin gegen ist ein Geschehen der langen Zeit und ihr Körperbezug ist vermittelt. Vor allem aber gilt die Solidarität denen, die tatsächlich schwach sind, gefährdet in ihren Körpern, anders als beim Schutz vor Gewalt. Der Schutz vor Gewalt schützt jene, die meist selbst durchaus gewaltfähig sind. Er ermöglicht gewaltfreie Interaktion dadurch, dass alle Beteiligten auf ihre Gewaltfähigkeit verzichten, die Kommunikation dagegensetzen und die Gewalt an eine Instanz, die Herrschaft abtreten, die für die Gewaltlosigkeit der Interaktion zuständig ist, d.h. diese – wenn notwendig – erzwingt.

Das Wesen einer politischen Ordnung ist die Entfernung der Gewalt aus dem sozialen Handeln. Wo die Furcht vor der gewaltsamen Verletzung, dem gewaltsamen Tod, aber auch dem Raub, geschwunden ist, kommt es zur Expansion dieses Handelns. Ein soziales Grundvertrauen entsteht, über das intime Vertrauen in die eigene Sippe, Familie hinaus. Das Zurückweichen der Gewalt aus den Beziehungen zwischen den Angehörigen einer politischen Ordnung schafft Raum für die Kommunikation. Die politische Ordnung wird in der Kommunikation ebenso tagtäglich bestätigt wie in der Beachtung von Regeln im Verhalten. Beide bilden geradezu eine Einheit, die in der politischen Autorität gipfelt, der man wie selbstverständlich gehorcht. In ihr verbinden sich Tradition des Normverhaltens und Rechtfertigung durch Bezug auf anerkannte Werte zu einem kollektiven Bewusstsein gewaltfreier Gemeinsamkeit. Hierarchien ordnen dabei, indem sie Befehls- und Gehorsamsverhältnisse klarstellen und tagtäglich durchsetzen. Die Tendenz zur Abschließung »nach unten« ist ihnen wesensgemäß. Gleichwohl müssen sie sich immer wieder öffnen, sei es, dass sie personell wachsende administrative Funktionen nicht mehr ausfüllen können, sei es, dass ökonomische Veränderungen neue aufsteigende Gruppierungen hervorgebracht haben. Diese werden zuerst meist »kollaborierend« eingebunden, an den Rändern der Nobilität, vom homo novus in Rom über die Ministerialen des Mittelalters, die Squires Englands, die geadelten Großbürger und Beamten des 18. und 19. Jahrhunderts. Diese aufsteigenden Gruppierungen einzubinden bzw. die Eliten offenzuhalten, ist wesentlich für die Stabilität einer politischen Ordnung wie für ihr dynamisches Potenzial. Wo Eliten verkrusten, droht die Gewalt. Gesellschaften mit politischen Gefügen, die den sozialen Aufstieg ermöglichen, sind offen für soziale Erfindungen, für Innovationen generell. In ihnen regelt die Gesellschaft im friedlichen Gegensatz der Gruppen die Mehrzahl der sozialen Probleme selbst.

Vermutlich kann man daher drei Grundformen von Ordnung unterscheiden, und zwar nach der Rolle, welche der Gewalt jeweils zukommt. Die lateinische Dreiheit von »violentia, potestas, auctoritas« bezeichnet dabei die Ordnungspole. Violentia ist die Ausübung oder Androhung von Gewalt, d.h. sie ist eine ebenso physische wie psychische Größe und also ein asoziales Verhältnis zwischen dem, der sie besitzt, und dem, auf den sie gerichtet wird. Violentia als Herrschaft gibt es da, wo sich diese durch Gewalt etabliert hat und sich durch sie fortwährend erhält. Solche Herrschaftsformen folgen zwar auch dem Gesetz der Macht, nämlich die schiere Gewalt zugunsten kommunikativer Mittlungsformen zu vermindern, um eine Erschöpfung der Gewalt durch Abstumpfung zu vermeiden und die ökonomischen Kosten zu vermindern. Das »Volk« verharrt jedoch im Zustand der Ohnmacht, reduziert auf das Leben. Eben das ist im Zustand der Potestas anders. In ihr gibt es eine Gesellschaft als eigenständigen Bereich, weil es die Freiheit gibt, die freie Verfügung über den eigenen Körper. Eine solche Gesellschaft ist eine der Ungleichheit, da der freie Körperbesitz ohne das Konzept des Eigentums nicht möglich ist, freie Arbeit und freies Eigentum aber zu Ungleichheit im Sozialen führen, während in der Gewaltherrschaft allein die Nähe zu den Machthabern über die soziale Stellung entscheidet. Potestas bezeichnet dann die Rechte, die einer Person durch ein Amt zeitweise zustehen. Die Amtsgewalt begründet sich aus der Akzeptanz der Bürger, ihrem Rechtsvertrauen, ihrer Anerkennung der politischen Ordnung, aus der sich das Recht, die Gesetze erst ergeben, und daraus, dass sie ihre Regierung auswechseln können, ohne gewalttätig werden zu müssen. Doch ohne eine »letzte« dominierende Gewaltfähigkeit wird auch die politische Form der Potestas keinen Bestand haben, und auch nicht ohne die Wirksamkeit einer Autorität, die das »Gemeinwohl« vertritt. Auctoritas als Gehorsam aus Anerkennung der Person, und zwar unabhängig von deren sozialer Stellung oder Amtsgewalt und getrennt von jeglicher Gewalt, ist nicht nur das Ideal staatsphilosophischen Denkens gewesen, bei Konfuzius wie Plato. Es hat sich auch in den Stiftern von Religionen verkörpert, bei Zarathustra und Buddha, Jesus, selbst Mohammed, der mit dem Schwert nach Mekka zog. Bei allen zeigt sich eine Idee, die das Partikulare hinter sich lässt und also mehr ist als nur die Faszination einer Person, um die sich Gefolgsleute scharen. Die Problematik der Auctoritas als Ordnungsprinzip besteht darin, dass sie mit der Wahrheit gleichgesetzt wird, Absolutheit behauptet und bald auch deren Anerkennung durch andere fordert. Damit tritt sie aus der Kommunikation heraus, wird Befehl, mit der erblindeten Gefolgschaft der einen, der erzwungenen der anderen. Damit braucht sie zunehmend das, was eigentlich ihr Gegenteil sein sollte, die Gewalt.

Violentia, Potestas, Auctoritas bilden die drei Säulen der Politik, von denen keine allein eine dauerhafte Ordnung der Gesellschaft hervorbringen kann. Dabei erweist sich eine Ordnung umso stabiler, je mehr die Einhaltung der gewaltvermeidenden Normen durch die Anerkennung der herrschaftlichen Institutionen, insbesondere des Rechts, und durch ein »letztes« Vertrauen in die übergreifende Autorität der Res publica, der gemeinsamen Wertbeziehung, gewährleistet wird. Wenn dieses Vertrauen verloren geht, droht den Machthabern »die Laterne«, an der man sie aufknüpft, dem Volk jedoch Schlimmeres, der Terror.

Von der Erinnerung zur Erkenntnis

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