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Zeit

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Am Anfang aller Beschäftigung mit Geschichte steht die Frage nach Ordnung inmitten einer das Bewusstsein bedrohenden Ungewissheit. Die Frage nach einer Ordnung in der Geschichte hat die Menschen umgetrieben, seit sie begannen, sich als Wesen der Zeit zu betrachten, symbolisiert in der mythischen Urgestalt des »Chronos«, der seine Geschöpfe erzeugt und verschlingt zugleich. Der Schrecken der Zeit durchpflügt das ganze menschliche Bewusstsein. Religion ist der Versuch, ein Bollwerk dagegen zu bauen, ein Bollwerk gegen jenen zweifachen Tod, den des Einzelnen wie des Kosmos, im reinigenden Wasser, im reinigenden Feuer. Die soziale Feier des Göttlichen wird zur Herstellung von Sinn durch die Teilhabe an einem Umfassenderen, das der Zeit nicht unterliegt. Die Erlösungskonstruktionen der monotheistischen Religionen versuchten eine Antwort, indem sie der Zeit ein messianisches Ende setzten, d.h. einer überwältigenden Hoffnungslosigkeit die Gewissheit des guten Endes abforderten. Dass dieses Ende dadurch zustande kam, dass das Böse final vernichtet wurde, war folgerichtig, denn die Präsenz des Bösen schuf die Schrecken der Zeit, die mit ihm zu Ende ging. Das Ewige war in die Geschichte gefallen und befreite sich schließlich wieder von ihr. Die Entschiedenheit dieser Befreiung des Menschen von der Zeit, wie sie religiös nur als Befreiung vom Tod aufgefasst werden konnte, vermochte das materialistische Denken nicht mehr zu erreichen. Es übernahm seit dem 18. Jahrhundert das Sinnerbe der Religion und radikalisierte folgerichtig die Gesellschaft als Gehäuse der Erlösung. Die Geburt der Zeit aus dem Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit sollte – wie in mythischen Frühzeiten – dadurch überwunden werden, dass der einzelne Mensch in einem als zeitlos erklärten Kollektiv aufging, das aber nun nicht länger in ein Göttliches fortwies. Die Geschichte überwand sich selbst, eines Gottes bedurfte es nicht länger. Der Materialismus einer menschengemachten Endzeit ist der Versuch, das Paradox der Menschenzeit zu beseitigen, d.h. jene Spannung, die darin besteht, dass das Zeitbewusstsein des Menschen zwar an die Endlichkeit seines körperlichen Daseins gebunden ist, es jedoch zugleich an der riesenhaft gespeicherten Kulturzeit der Gesellschaft teilhat und es überdies fähig bleibt, geistig alle Zeit zu überschreiten, sie zu transzendieren. Aus diesem temporalen Vermögen des Bewusstseins speist sich der menschliche Geist, aus ihm gründet sich der Mensch als ein Wesen der mehrfachen Zeit, in der sich die Vorstellung eines Ewigen zuerst aus der Beobachtung einer in der Natur wirksamen steten Wiederkehr ergab: dem Zyklus der Jahreszeiten, sodann aus der Auflehnung gegen den Tod, als Weigerung hinzunehmen, dass der menschliche Geist ebenso sterblich sei wie der Körper. In all seinen anthropologischen Möglichkeiten versucht der Mensch, der Zeit Widerstand zu leisten: der Erinnerung, der Technik, der Sicherheit, nur in der Gewalt unterliegt er ihr. Erinnerung, Technik, Sprache, Sicherheit sind Bereiche, in denen der Mensch seine Biologie zum Kulturvermögen hin überwindet, während er in der Gewalt seine Biologie allenfalls einzugrenzen vermag. Dem entspricht, dass die Zeit keinem biologischen Sinnesbereich angehört, wie das Sehen, Hören oder Riechen, sondern eine Größe des kulturellen Bewusstseins ist, die durch eine Brechung der Permanenz des Gegenwärtigen entsteht. Die früheste Vorstellung von Zeit bildet sich offenkundig aus der Differenz zwischen dem Wunsch, etwas haben zu wollen, und dem Nicht-Haben im Jetzt. In der Totalität einer Allgegenwart bildet sich am Gegensatz zwischen dem Nicht-Haben und dem Haben-Wollen eine erste Bruchlinie. Zeit entsteht aus der ersten Erfahrung des Nicht-Jetzt, die eine eher räumliche ist: Etwas ist nicht da, wo ich bin, obwohl ich es will. Es ist die Erfahrung einer Immobilität, zunächst im Raum bei einem sehr kleinen Kind, das erst allmählich den Raum als etwas begreifen lernt, buchstäblich, in dem man sich bewegen kann. In ähnlicher Weise erfährt es auch die Zeit als etwas Mobiles, in dem es sich »bewegt«, im Nach-Jetzt als einer Art von Künftigem, das zunächst als Wollen bewusst wird. Erst mit dem Zufügen eines Vor-Jetzt weitet sich das Bewusstsein und eine Kausalität entsteht, in der die zeitliche Erfahrung einer Bewegung im Raum zu einer aufeinander einwirkenden Abfolge in der Zeit selbst verallgemeinert wird. Raum wie Zeit werden dann in einer zweiten Lernphase vom eigenen Ich getrennt und einer objektiven Wirklichkeit zugeordnet.1 Die Zeit des Ich fügt sich in die umfassendere Zeit der Gesellschaft. So wie sich der Mensch als einer von vielen verstehen muss, von dessen Handlungen keineswegs »alles« abhängt, so erfährt er auch die Zeit als etwas, dem er sich mehr fügen muss, als dass er es bestimmen könnte. Zeit ist zu einer Ordnung des Nacheinander geworden, sie ordnet Sinneseindrücke so gut wie Raumbewegungen. Zeitsinn als Fähigkeit, ein Nacheinander zu erkennen, ist zugleich die Voraussetzung für jegliche Kommunikation. Zeichenfolgen, Lautfolgen sind nur als Zeitfolgen zu verstehen, d.h. Sprache ist ein Zeitphänomen. Das Aufsteigen des Todes aus dem Leib in das Bewusstsein gründet dieses als reflexives Tätigsein und erzwingt eine Kultur über die bloße Lebenssicherung hinaus. Der Mensch erlebt die Endlichkeit als Provisorium des Daseins. Er neigt sich zur religiösen Zeit, wenn er es als das Provisorische der Ewigkeit versteht, oder zur historischen Zeit, wenn er die Zeit radikal an das Dasein des Menschen bindet.

Viele Völkerschaften, vor allem solche mit geringem Technikvermögen, leben in einer Fortdauer der Gegenwart und verfügen über kein gegliedertes Zeitbewusstsein. Die Zeit fordert Distanz zur Sinneswahrnehmung und den sie begleitenden Affekten. Werkzeughandeln erzwingt stets schon Erinnern und eine Vorstellung des Künftigen. In der Alten Gesellschaft als einer vom nahezu ständigen Überlebensdruck geprägten Weise sozialen Daseins blieb eine »neue« Zukunft verpönt, gefürchtet, weil man mit schwacher Technik allenfalls das Bekannte zu bewältigen glaubte. Vergangenheit und Gegenwart verflochten sich, suchten die Zukunft als wiederkehrende »alte« Zeit zu okkupieren, das Neue zu vermeiden. Diese alte Zeit wurde in dreierlei Maßeinheiten gemessen: der Sonne, die mit ihrem Licht, ihrer Wärme die Tages- und Jahreszeiten vorgab, dem Tod, der die Länge des Lebens als Folge der Generationen bestimmte, der Religion, die mit ihren Feiertagen Fixpunkte in den Ablauf der Tage setzte. Zeit war Fatalität. Die Explikation des Futurs als »Innovation« in Gesellschaft wie Technik erfolgt erst sehr spät in der Kulturentwicklung und gehört in die Sondergeschichte des Westens. Dass hier die Zeit mechanisiert worden ist, erzeugt von einer dort erfundenen Zeitmaschine, der Räderuhr, ist folgerichtig. Mit ihr radikalisiert sich das Abstraktionspotenzial der Zeit, werden doch die sinnlichen Zeiterfahrungen zurückgedrängt. Bleibt die Sonnenzeit im Wechsel veränderlicher Phasen von Hell und Dunkel noch variabel, schwankend wie alles Natürliche, so erzeugt der mechanische Ablauf Genauigkeit, Planbarkeit. Die mechanische Zeit wird vom Menschen erzeugt, ist ein Artefakt, das er dem Leben, der Natur entgegenstellt. Naturzeit wird durch Kunstzeit zurückgedrängt, so wie Natur generell von »Kunst«, also Technik, Zivilisation zurückgedrängt wird. Mit dem Starkwerden durch Technik rückt die Zuversicht in die Zukunft ein, verdrängt die Furcht, öffnet sie dem bewussten Herstellen von Neuem. Die Zeit rückt aus dem Leben in die Maschine, das Leben folgt der Maschine. Das Abtun der Vergangenheit als antiquarisch, die nicht mehr als eine die Gegenwart bestimmende Kontinuität aufgefasst wird, ist eine Folge dieser Entdeckung der Zukunft.

Es gibt demnach eine reversible Zeit, an der die Menschen ihre Vorstellung von Ewigkeit ausgebildet haben, und eine irreversible Zeit, aus der die Menschen ihre Vorstellung von Geschichte formten. Diese Vorstellung ist im Christentum prägend geworden, das die Zeit nicht nur mit der Sterblichkeit verband, sondern ihr einen Anfang und ein Ende setzte und einen Drehpunkt, der aus der Zeit des Elends zu jener des Heils führte: Die Vertreibung aus dem Paradies, die Menschwerdung des Göttlichen in Christus, das Jüngste Gericht bildeten Phasen der Geschichte als Phasen der Sterblichkeit, mit dem sterbenden, wiederauferstehenden Gottmenschen als Wendepunkt. Geschichte wurde Eschatologie. Erst wenn die Menschen beginnen, eine derart gerichtete Geschichte als ihre eigene Arbeit für möglich zu halten, mit der Ausformung des utopischen Denkens seit dem 16. Jahrhundert, wird die lineare Zeit profan. Ihre Unwiederholbarkeit ergibt sich nunmehr daraus, dass jedes Ereignis Auswirkungen hervorruft, die folgende Ereignisse derart beeinflussen, dass eine Rückkehr unmöglich wird. Zeit erscheint immer mehr als etwas Artifizielles, vom handelnden Menschen Hergestelltes, eine Vorstellung, die für Europa seit dem 18. Jahrhundert wesentlich geworden ist, sich in anderen Kulturkreisen jedoch nicht findet. Mit den modernen, stetig expandierenden Technologien des Transports von Personen (seit der Eisenbahn) und Informationen (seit dem Telegrafen) kommt es zur zunehmenden Beschleunigung dieser artifiziellen, sozialen Zeit, bis hin zur digitalen Echtzeit als Gleichzeitigkeit der Information jenseits des Raums als Schranke. Zeit wird Geld. Diese quantitative Zeit hat ihren konsequenten Ursprung in den Handel und Gewerbe treibenden Städten Europas, wo es seit dem 14. Jahrhundert immer mehr öffentliche Uhren gibt, und zwar auf den Türmen profaner Bauten, nicht sakraler: Rathäuser statt Kirchen. Zwar verdrängt diese neue mechanische Zeit noch für Jahrhunderte nicht die Maßeinheiten der alten, doch den strukturellen Gegensatz zeigt sie bereits von Anfang an: Es ist der Übergang von einer Erfahrung der »langen« Zeit, die sich durch Wiederkehr »regenerierte«, zu einer »kurzen«, die wie ein industrielles Verbrauchsgut »verbraucht« wird, wie eine unbegrenzt verfügbare Ressource. Diese neue maschinenerzeugte Kunstzeit löst die Zeit vom Ort, so wie sie ihr gleichzeitig jeden metaphysischen Essentialismus austreibt. Die Tatsache, dass Uhrwerke ebenso die Zeit anzeigten wie Automaten und astronomische Tafeln antrieben, setzt den Menschen in eine rationale Beziehung zum Schöpfergott, mit dem Universum als Uhrwerk, der Gottheit als Uhrmacher (im 17. Jahrhundert). Der willkürliche, grenzenlos freie Gott, der eben deshalb den Menschen so furchterregend war und der mit der Menschenzeit spielte, ohne ihr anzugehören, wurde zum Macher in einem Werk, das die Menschen in seiner mechanischen Logik nachvollziehen konnten. Er wurde entbehrlich.

Die Zeit besitzt demnach sowohl eine objektive wie eine mentale Dimension. Die durch die Erddrehung verursachte Zeit von Tag und Nacht, der Jahreszeiten, die biologische Zeit des Wachsens und Vergehens, aber auch die Irreversibilität der Handlungszeit verweisen auf ein Objektives. Die Handlungszeit bildet dabei eine Bindezone hin zur mentalen Zeitdimension. Die körperliche Beschädigung eines Menschen, die Zerstörung einer Stadt sind unumkehrbar, sie können aber vergessen werden, d.h. aus der erinnerten Zeit fallen. Diese mentale Zeit, als Erinnerung, Erzählung, Wahrnehmung besitzt keine feste Ordnung. Furcht, Freude, Anspannung, aber auch Langeweile können einen uhrengemessenen Zeitraum weiten oder verkürzen und so im Bewusstsein Zeitvorstellungen entstehen lassen, die sich völlig voneinander unterscheiden. Die Zeitdehnung realisiert Zeit als Ausdruck für die Intensität der Wahrnehmung, die Zeitraffung hingegen betont das Extensive, das Nebenher. Sie vergisst mehr, als sie erinnert. Solche Erscheinungen der Raffung und Dehnung sind wesentlich für die Arbeit der Erinnerung, bei der die Raffung für die Entlastung sorgt und also Zeit als Größe der Erinnerung überhaupt möglich werden lässt. Die Dehnung hingegen sorgt für die Fähigkeit, mentale Strukturen zu bilden, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Erinnerung gestaltet mentale Zeit als Variable und alle Erzählung folgt ihr. Sie bezeichnet damit zugleich die Freiheit der Bewusstseinsbewegung.

Zeit ist damit in ihrer Bewusstseinsdimension gekennzeichnet. In den Akzentuierungen von Dehnung und Raffung speichert sie das Gedächtnis ab, artikuliert es sie als Erzählung. Ohne erzählende, dehnend-raffende Verarbeitung kann Wissen über die Vergangenheit nicht vermittelt werden. Es ist nun allerdings nicht so, dass die Vergangenheit keinen Bestand jenseits der bewussten Erinnerung bzw. der sprachlichen Reproduktion besitzen würde. Die Schichtung der Zeit, wie sie etwa Fernand Braudel herausgearbeitet hat (1949), führt zu unterschiedlichen Zeit-Geschwindigkeiten, von der nahezu unbeweglichen Zeit der Geografie eines Lebensraums, in dem Menschen über Jahrtausende an bestimmten Stellen Flüsse und Gebirge überqueren, Schiffsrouten benutzen, Ackerbau treiben oder als Nomaden leben, zu jener nur langsam sich ändernden Zeit der sozialen und ökonomischen Strukturen der Herrschaft, Religion, der Landwirtschaft, von Handel und Gewerbe, bis zu den nunmehr rascheren, bewegten Abläufen des politischen Geschehens, der Kriege, territorialen Veränderungen, Machtkämpfe. Hier trägt sich die Geschichte gewissermaßen »von unten« her, von der langen Dauer dessen, was das Leben, Überleben erst möglich macht, den Vorgaben der Natur in Klima und Geografie. Die Alte Gesellschaft reflektiert diesen Bezug, durch ihre Ablehnung des Neuen, durch ihre Herleitung von Legitimität aus dem, was durch seinen langen Bestand heraus Geltung erzeugt. Die Zeitrevolution der Moderne, deren Dynamik die Industrialisierung ist, bricht allerdings diese Rückbeziehung auf. Die Legitimität des Alten zerfällt vor der Legitimität des Neuen, die »Innovation« wird vom Schrecken zum Pathos. Die Technisierung zerstört die Dauer in ihren Institutionen, in Politik, Wirtschaft, Religion, bis zur Geografie. Der Raum als die große Konstante wird aufgebrochen, durch die steigende Geschwindigkeit in der Übertragung von Informationen, in der Beförderung von Gütern, in der technischen Wucht seiner physischen Veränderung. »Zeit« ist daher eine soziale Erfahrungssituation. Je ungewisser die Zukunft ist, desto bestimmender die Gegenwart. Je bestimmender die Gegenwart, desto geringer die Bereitschaft, vom Gewohnten abzuweichen. Je geringer die Veränderungsbereitschaft, desto knapper die verfügbaren Ressourcen und vice versa. Das gilt für Gesellschaften in ihrer historischen Entwicklung ebenso wie für soziale Gruppen innerhalb der Gesellschaft. Mit dem Wechsel zu einer industriellen Ökonomie wachsender Überschüsse entsteht auch eine Ökonomie der Zeit. Zeit wird Geld und mehr als das: Sie wird zu einem Investitionsgut. Wissen wird über Lernen zu einer Zukunftsinvestition, der Einzelne zu einem, der in sich Zeit investiert um eines späteren Gewinns wegen. In der Gesellschaft einer langen Zeit, einer erblichen Hierarchie, einer Muskelanstrengung der meisten war Zeit kein Investitionsgut gewesen. In der modernen Gesellschaft einer Kurzzeit hingegen wurde derjenige stark oder blieb es, der ein Stück dieser entschwindenden Langzeit festhalten konnte, doch nun nicht mehr als Traditions-, sondern als Zukunftsorientierung. Wer von der Hand in den Mund lebte, materiell wie temporal, vermochte das nicht. Das Trägheitsmoment einer tief »geschichteten« Zeit nimmt allerdings ab, ohne zu verschwinden. Denn die kulturelle Langzeit wirkt weiter, in Sprache, Normen, Verhaltensweisen, kollektiver Psychologie, politischen Verhältnissen bis fort in die Landschaft, die »geworden« ist wie alles andere.

Von der Erinnerung zur Erkenntnis

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