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Ewigkeit

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Der »alte« Mensch erlebt die Endlichkeit als Provisorium der Ewigkeit. Denn wenn sich Kultur als Bewusstseinsgefüge vom Wissen um die Unabwendbarkeit des schließlichen Todes her begründet, dann wird ihr offenkundig der Gedanke seiner Überwindung psychologisch wichtig. Dass Menschen ihre Toten begraben, seit 100.000 Jahren, sie mit Gaben bedenken, verweist auf die Vorstellung einer Zeit, in der die Menschen mit den Göttern leben und der Tod lediglich eine andere Weise ist, es zu tun. Auch die Götter bleiben in der Zeit, die allerdings schier grenzenlos erscheint,2 an der die sterblichen Menschen jedoch teilhaben können, wenn sie bestimmten Riten folgen. Diese Gemeinsamkeit mit den Göttern gilt hier als Kontinuität der Zeit, die durch Riten unentwegt aufrechterhalten werden muss. Gelingt dies nicht, droht die Katastrophe, der Zerfall der Gesellschaft, den man nur als Weltuntergang zu deuten vermag.3 Diese Vorstellung liegt nicht nur dem altägyptischen Weltdenken zugrunde, sie inspiriert das Weltdenken der frühen Ackerbau-Kulturen insgesamt. In dieser Kontinuität, in der sich ein Ruhendes mit einem sich stetig Wiederholenden verbindet, ein Zeitloses mit einer sich zyklisch drehenden Zeit, vergewissert sich eine Ackerbau-Kultur einer Zeit, die nicht bedroht, sondern schützt, in der unabsehbaren Dauer des Ackerbodens, Lebensraums, und dem absehbaren Wandel, von Tag und Nacht, Regen und Sonne, Phasen des Jahres, Phasen des Lebens. Es ist eine Art von kosmologischem Erhaltungssatz, in dem auch der Tod nichts zerstört, nur etwas verwandelt, vorausgesetzt, das Ritual hat ihn geführt. Hierzu gehört, dass die Gräber eine kosmologische Ausrichtung erhalten, in den Anfängen auf das Auf- und Untergehen der Sonne etwa, später auf heilige Orte zu, Jerusalem, Mekka. Der Tote soll teilhaben an dem, was ewig ist, um aus der zerbrochenen Zeit seines gebrochenen Leibes in die Nicht-Zeit des Göttlichen fortgehen zu können. Religion ist die erste Erfahrung von »Sinn«, die der Mensch macht. Der Mensch erfährt sein Leben als Zeit, d.h. als Unvollkommenheit, und er sucht nach Vollkommenheit als Teilhabe am Zeitlosen, Göttlichen. Die riesenhaften Mühen, welche die Menschen auf die Symbolisierung des Todes verwendet haben, in Riten und immer wieder in Bauten, verweist auf den zweifachen Ursprung der Kultur aus dem Bewusstsein der Sterblichkeit bzw. der Zeit und aus dem Begriff der Zeitlosigkeit, Ewigkeit. Doch der Mensch kennt nicht nur die Furcht, nicht mehr zu sein, sondern auch den Wunsch, nicht mehr zu sein, zu vergehen, zu verschwinden in dem, was keine Zeit hat. Jede der großen Religionen ist aus der Transzendenz hervorgegangen, doch um zu bestehen, musste sie Kult werden. In ihm wird das Ewige in der Zeit symbolisiert und im rituellen Mithandeln erfahrbar gemacht.

»Zeit«, als Veränderung verstanden, und »Ewigkeit«, verstanden als grenzenlose Dauer, stehen offenkundig an den Anfängen menschheitlicher Kultur, eben dort, wo die Menschen das Bewusstwerden ihrer Sterblichkeit symbolisch zu bewältigen suchen. Das Zeitlose, Ewige kann nicht ohne das Zeitliche, Veränderliche gedacht werden, die Ewigkeit als Bereich der Unsterblichkeit nicht ohne die Zeit als Reich der Sterblichkeit. Die Radikalität der vernichtenden Zeit wird durch die Absolutheit des Dauernden, Vergangenen, dann durch die Absolutheit des Göttlichen, Ewigen beschränkt, entlastet, wobei sich die Götter allmählich aus der Dauer, d.h. aus einer letzten Zeit, die eben nur unabsehbar lange dauert, in die Zeitlosigkeit zurückziehen. Es ist der lange Weg des Monotheismus bis hin zum Freiwerden einer Transzendenz, in welcher der Einzelne das Verschwinden der Zeit erfährt. Religion, in ihrer ersten Form, denkt die Zeit von einer Dauer her, in der Leben und Tod ineinander übergehen. Religion in ihrer zweiten Form, eben der des Monotheismus, denkt die Zeit von ihrem Verschwinden her. Der Mensch, sein Handeln in der Zeit, d.h. seine Geschichte, zerfallen vor der Absolutheit des Göttlichen. Daher ist die Historie auch stets Kritik dieses Absoluten gewesen. Die Historie sucht Gott in den Menschen, d.h. sie stellt ihn in eine Zeit, die jegliches Absolutes auflöst, es auf Zeit-Umstände relativiert. Es ist die Prämisse der Historie, die Vorstellung einer Zeitlosigkeit oder »Ewigkeit« auf Zeitumstände zu beziehen, vor allem auf die soziale Funktion von Religion, nämlich die Ordnung der Gesellschaft zu legitimieren, und zwar von einem Denkbezug her, der sich nicht in pragmatischen Zwecken erschöpft. Die Frage allerdings, warum ein solcher transpragmatischer Denkbezug denn erforderlich sei, es durch die Jahrtausende hindurch tatsächlich gewesen ist, wird damit noch nicht zureichend beantwortet. Die Historie ist daher nicht der Feind der Religion. Sie klärt lediglich ein Stück weit auf, zeigt ihre Institutionen als Bestandteile historischer Strukturen und ermöglicht auf diese Weise zugleich eine theologische Scheidung in das, was als »ewig« gelten soll, und das, was der Zeit gehört und mit ihr vergehen kann, aufgegeben werden darf. Die Frage nach der Religion muss offenkundig tiefer gehen als nur bis zur Geschichte der Religionen, die vieles über deren Entstehen aus sozioökonomischen Zuständen und ihre Zwecke zur Rechtfertigung von Herrschaft aussagt, aber letztlich auf einen anthropologischen Zustand verweist, in dem das Bewusstsein der Sterblichkeit nur dann ertragen werden kann, wenn es die Zeit mit der Zeitlosigkeit zu kontrastieren vermag. Religion ist das Bemühen des Menschen, sich gegen die Zeit zu behaupten und es damit dem Gott gleich zu tun, der als einer verstanden wird, der aller Zeit widersteht. Dennoch bedarf selbst der Einzige Gott der Zeit, insofern er der Menschen bedarf. Es ist, als ob göttliches »Leben« nur als Verzehr von Zeit, Menschenzeit möglich ist, so wie das größte Zeichen der Hingabe an Gott das Geben von Zeit bleibt, Demutszeit, geopfert von Mönchen, heiligen Männern und Frauen. Die Zeit, in ihrer Vergeblichkeit gefasst in den Metaphern vom Sand, vom Wasser, das zwischen den Fingern zerrinnt, ist das Kostbarste, das der Mensch besitzt. Gäbe es die Zeit, die Menschen nicht, das Göttliche bliebe unerkannt. Durch sein Dasein in der Zeit hingegen verbindet es Zeit und Zeitlosigkeit, ermöglicht es das Bewusstsein einer Ordnung, die mehr ist als Opportunität und Nützlichkeit. Ethische Setzungen, die sich aus einer solchen Zeitenthobenheit begründen, besitzen offenkundig eine ganz andere Würde als pragmatische Setzungen, die vom Funktionieren eines bestimmten Zustands her abgeleitet werden. Der Sog des Absoluten, der sich hier immer wieder gebildet hat, treibt allerdings die Religion – wie jede Absolutheit behauptende Weltanschauung – hin zur Gewalt, weil sie den Versuchungen der Herrschaft so wenig widerstehen kann wie der Wut des Fanatikers. Damit allerdings verleugnet Religion ihr gründendes Prinzip, nämlich die Zeitlosigkeit in der Zeitlichkeit lediglich als Ritus fassen zu können. Die Zeit bleibt unabsehbar, doch sie artikuliert sich als Bewusstsein erst durch ihre geistige Negation, eben die Ewigkeit. Von hier aus wird Religion, wird »Transzendenz« als bewegende geistige Kraft der menschlichen Kultur erst verständlich, weit über ihre vergänglichen Formen und Dogmen hinaus. Von hier aus erweist sich Religion als Resistenz gegen die Totalität »der Welt« und das, was in ihr ist: Macht, Besitz, Genuss, Ruhm. Das unaufhebbare Paradox jeder Religion, nämlich von etwas zu reden, das unsagbar bleibt, etwas zu zeigen, das nicht zu zeigen ist, bildet vermutlich den tiefsten Grund geistiger Unruhe über die Jahrtausende hin. Die Einteilung etwa des antiken Tempelbereichs in zwei Bezirke, einen äußeren, mit den Bildwerken der Götter für die Annäherung der Menschen, einen inneren unzugänglichen, als Ort des unfasslich Numinosen, symbolisiert dieses widersprüchliche Wissen. Ähnliches gilt für die sprachliche Annäherung, die sozusagen im äußeren Kreis der »Bilder« noch spricht, im inneren jedoch verstummt, bei Thomas von Aquin so gut wie bei Blaise Pascal. Hier verschwindet die Geschichte, weil sie über das Bewusstsein solcher Menschen keine Macht mehr besitzt.

Religion ist in ihren Formen etwas Historisches, doch ohne die geistige Überwindung der Zeit in ihrem Kern, dem Tod, wäre sie sinn-los. In ihren historischen Formen also ist sie der nicht endende Versuch, die »Blindheit« der menschlichen Existenz zu enträtseln, und daher mit den anderen Formen solcher Enträtselung auf sehr lange Zeit eng verbunden, der bildenden Kunst, der Musik, dem Theater, auch der Sprache, vor allem seitdem Religion als Offenbarung durch einen sprechenden Gott für einen bestimmten, als Person gemeinten »Mittler« gedeutet wird: Gott ist hier Sprache geworden, was nicht nur dem menschlichen Wunder der Sprache ein göttlich Magisches verleiht, sondern zugleich Gott in die dialogische Sprachsituation der Menschen einbezieht. Der personale Gott spricht zu personengewordenen Menschen, die ihn ihrerseits anreden. Die Sprache ersetzt das Blutopfer. Dass das im Kontext des Übergangs von der Laut- zur Schriftsprache geschieht, d.h. einer Objektivierung der Sprache, des Denkens, des Geistigen, lässt diese Erfassung des Göttlichen als eines Sprachlichen erklärbar werden, das in einer »heiligen« Schrift fixiert wird. Dass alle menschlichen Gemeinschaften Formen des Religiösen ausgebildet haben, verweist auf dessen elementare Rolle im Kulturprozess. Gott zieht die Angst in sich hinein, der Menschen, die Angst haben und sie im Glauben an ihn verlieren können, immer wieder, doch nie völlig, weil sie im sterblich-verletzlichen Leben bleiben, aber auch, weil der Gott, der die Angst in sich aufgenommen hat, diese Angst nun selber verkörpert. So wie die Lebensangst durch den Glauben und dessen Zeigen im Kult auf Gott übertragen werden kann, so kann die Angst vor diesem Gott durch Treue im Kult bewältigt, in Hoffnung, Zuversicht verwandelt werden. Ein Gott, der nicht Angst macht, kann auch die Ängste nicht auf sich nehmen, bis hin zur letzten Furcht, der vor dem Tod. Ein solcher Gott besitzt auch keine Bedeutung mehr für die Gesellschaft, weil er ihre Normen nicht länger als Gebote und Verbote jenseits eines »Gesellschaftsvertrags«, jenseits des positiven Gesetzesrechts zu begründen vermag. Wo das Religiöse zum bloß Moralischen wird, hört es auf, religiös zu sein. Jesus Christus wird zu einem »Suppenküchen-Charakter« (Thomas Carlyle). Hatte die moderne Ideologie noch das Heilsversprechen als Essenz der Religion von Gott auf eine Geschichte übertragen, in der durch den Tod Gottes die Allmacht des Menschen ausgerufen worden war, so reduziert der postideologische Wohlfahrtsstaat den Menschen auf ein nacktes Leben diesseits der Seele, dessen materieller Erhalt bis zum Äußersten einer Intensivmedizin garantiert werden soll: Die Immanenz ist zum Absolutum geworden und der Tod zum Versagen der Technologie.

Religion ist die Frage nach der Ewigkeit inmitten der Zeit. Sie realisiert das Symbolische der menschlichen Existenz, nicht als Einzige, wohl aber als Erste. Dieses Symbolische äußert sich bereits dadurch, dass der Mensch unentwegt Zeichen hervorbringt, als Gesten, Bilder, Sprache, Mathematik, Technik usw., dass sein soziales Dasein ebenso zeichenhaft ist wie materiell. Der Mensch ist einer, der das, was er tut, als Zeichen zu begreifen imstande ist und sich selbst am Ende als zeichenhaft versteht und fragt, was sein Leben denn »bezeichnen« soll. Fragt man also nach den Ursprüngen der Religion, so könnte man sie in einem Dreifachen zusammenfassen: Da ist zum einen – und wohl elementar – das Grundgefühl der Schwäche vor dem Unvorhersehbaren, als Abhängigkeit von der Natur im Zustand der Agrargesellschaft, als Unabwendbarkeit des Schicksals, dem alle Klugheit, alle Vorsicht nicht wehren kann. Religion ist hier der Versuch, das Unfassbare in eine soziale Beziehung einzubinden, durch die Verehrung, das Opfer, das Wort. Wenn nun die tiefste, unaufhebbare Schwäche des Menschen jedoch in seiner Sterblichkeit besteht, dann mündet deren Verweigerung in die Einforderung der Ewigkeit. Der Totenkult wäre dann eine Weise, die Unsterblichkeit zu denken; die Absolutheit des Einen Gottes mit der in ihm verkörperten Erlösungshoffnung die andere. Diese Absolutheit schließlich führt fort zur Transzendenz als Summe des Überschreitens der Schwäche, der Sterblichkeit, der Zeit, als Bewusstsein einer Ganzheit, die »im Letzten« nicht zu haben ist, in einem »Vorletzten« jedoch symbolisch fassbar wird, als Kunst, Philosophie, Literatur, Musik, als Religion.

Leben ist nur lebenswert, wenn man Hoffnung hat. Sterben muss jeder für sich allein. Aus dieser Polarität und ihrer symbolischen Bewältigung entsteht Religion – als Ereignis im Bewusstsein – und alles, was daraus folgt.

Von der Erinnerung zur Erkenntnis

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