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2. Die christlichen Quellen

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Inhaltsverzeichnis

Aber strömen die christlichen Quellen nicht um so reichlicher? Haben wir nicht in den Evangelien die ausführlichsten Beschreibungen über Jesu Lehre und Wirken ?

Freilich, ausführlich sind sie genug. Aber leider, mit der Glaubwürdigkeit hapert es bedenklich. Das Beispiel der Fälschung des Josephus hat uns schon ein Charaktermerkmal der älteren christlichen Geschichtschreibung gezeigt, ihre völlige Gleichgültigkeit gegen die Wahrheit. Nicht auf die Wahrheit, sondern auf die Wirkung kam es ihr an, und sie war dabei durchaus nicht bedenklich in der Wahl ihrer Mittel

Um gerecht zu sein, muß man gestehen, daß sie in ihrer Zeit damit nicht allein steht. Auch die jüdische religiöse Literatur machte es nicht besser, und die „heidnischen mystischen Richtungen in den Jahrhunderten vor und nach Beginn unserer Zeitrechnung machten sich der gleichen Sünde schuldig. Leichtgläubigkeit des Publikums, Sensationssucht sowie der Mangel an Zutrauen zur eigenen Kraft, das Bedürfnis, sich an übermenschliche Autoritäten anzuklammern, Mangel an Wirklichkeitssinn, Eigenschaften, deren Ursachen wir noch kennen lernen, infizierten damals die ganze Literatur um so mehr, je mehr sie vom Boden des Herkömmlichen abwich. Wir werden Belege dafür in der christlichen und jüdischen Literatur noch zahlreich finden. Daß aber auch die dem Christentum freilich innig verwandte mystische Philosophie dazu neigte, zeigen uns zum Beispiel die Neupythagoreer, eine Richtung, die im Jahrhundert vor Beginn unserer Zeitrechnung aufkam, ein Gemisch von Platonismus und Stoizismus, voll Offenbarungsglauben und Wundersucht, das sich als Lehre des alten Philosophen Pythagoras ausgab, der im sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung – oder vor Christo, wie man sagt – lebte und von dem man äußerst wenig wußte. Um so geeigneter war er, ihm alles unterzuschieben, wofür man die Autorität eines großen Namens brauchte.

„Die Neupythagoreer wollten für treue Schüler des alten samischen Philosophen gehalten sein: eben um ihre Lehren als altpythagoreisch darzutun, wurden jene zahllosen Unterschiebungen von Schriften vorgenommen, welche alles Beliebige, mochte es auch noch so jung und mochte sein platonischer oder aristotelischer Ursprung noch so bekannt sein, unbedenklich einem Pythagoras oder einem Archytas in den Mund legten.“

Ganz das gleiche finden wir bei der urchristlichen Literatur, die dann Chaos bildet, an dessen Entwirrung seit mehr als einem Jahrhundert eine Reihe der scharfsinnigsten Geister arbeitet, ohne dabei in der Erreichung gesicherter Resultate allzuweit gekommen zu sein.

Wie heute noch die ma1migfachsten Auffassungen des Ursprungs der urchristlichen Schriften bunt durcheinander wirbeln, sei an einem Beispiel gezeigt, der Offenbarung Johannis, allerdings einer besonders harten Nuß. Über sie schreibt Pfleiderer in seinem Buch über Das Urchristentum, seine Schriften und Lehren:

„Das uB1lch Daniel war die älteste solcher Apokalypsen und das Muster für die ganze Gattung. Wie man nun den Schlüssel für die Danielschen Visionen in den Zeitereignissen des jüdischen Krieges unter Antiochus Epiphanes gefunden hatte, so schloß man mit Recht, daß auch die johanneische Apokalypse aus den Verhältnissen ihrer Zeit zu erklären sein werde. Da nun die mystische Zahl 666 ins 13. Kapitel, 18. Vers fast gleichzeitig von mehreren Gelehrten (Benary, Hitzig und Reuß) nach dem Zahlenwert der hebräischen Buchstaben auf Kaiser Nero gedeutet worden war, so schloß man aus Vergleichung von Kapitel 13 und 17 auf die Entstehung der Apokalypse bald nach Neros Tod im Jahre 68. Dies blieb lange die herrschende Ansicht, besonders auch in der älteren Tübinger Schule, die, unter der für sie noch feststehenden Voraussetzung von der Abfassung des Buches durch den Apostel Johannes, in den Parteikämpfen zwischen den Judaisten und Paulinern den Schlüssel zur Erklärung des ganzen Buches gefunden zu haben meint, wobei es ohne grobe Willkür im einzelnen nicht abging (besonders bei Volkmar). Ein neuer Anstoß zur gründlichen Erforschung des Problems ging 1882 von einem Schüler Weizsäckers, Daniel Völter, aus, der eine mehrfache Erweiterung und Überarbeitung einer Grundschrift durch verschiedene Verfasser zwischen 66 und 170 (später bis 140) annahm. Wie hiermit aufgebrachte literargeschichtliche Methode erfuhr dann in den nächsten fünfzehn Jahren die mannigfachsten Variationen: Vischer ließ eine jüdische Grundschrift von einem christlichen Redaktor überarbeitet sein; Sabatier und Schön nahmen umgekehrt eine christliche Grundschrift an, in die jüdische Elemente hineingearbeitet worden seien; Weyland unterschied zwei jüdische Quellen aus der Zeit von Nero und Titus und einen christlichen Redaktor unter Trajan; Spitta unterschied eine christliche Grundschrift vom Jahre 60 n. Chr., zwei jüdische Quellen von 63 v. Chr. und 40 n. Chr. und einen christlichen Redaktor unter Trajan; Schmidt: drei jüdische Quellen und zwei christliche Bearbeiter; Völter in einem neuen Werk von 1893 eine Urapokalypse vom Jahre 62 und vier Überarbeitungen unter Titus, Domitian, Trajan und Hadrian. Der Erfolg aller dieser sich gegenseitig immer widerlegenden und überbietenden Hypothesen war aber zuletzt nur der, daß ‚die Nichtbeteiligten den Eindruck gewannen, auf dem Boden der neutestamentlichen Forschung sei nichts und sei man vor nichts sicher‘. (Jülicher)“

Pfleiderer glaubt demgegenüber allerdings, daß „die eifrigen Forschungen der letzten zwei Jahrzehnte“ ein „gesichertes Resultat“ ergeben, aber er wagt doch nicht, dies mit Bestimmtheit zu behaupten, sondern meint, es „scheine“ ihm so. Zu einigermaßen sicheren Ergebnissen in der urchristlichen Literatur kam man fast nur in negativer Beziehung, in der Erkenntnis dessen, was sicher gefälscht ist.

Fest steht, daß von den urchristlichen Schriften nur die wenigsten von den Autoren herrühren, denen sie zugeschrieben werden, daß sie meist in späterer Zeit als der ihrer Datierung entstanden, und daß ihr ursprünglicher Text durch spätere Überarbeitungen und Zusätze vielfach aufs gröblichste entstellt wurde. Fest steht endlich, daß keines der Evangelien oder der sonstigen urchristlichen Schriftstücke von einem Zeitgenossen Jesu herrührt.

Als das älteste Evangelium wird jetzt das sogenannte Markusevangelium angesehen, das jedenfalls nicht vor der Zerstörung Jerusalems entstand, die der Verfasser durch Jesus prophezeit werden läßt, das heißt, die schon vollzogen war, als der Verfasser zu schreiben begann. Es wurde demnach wahrscheinlich nicht früher abgefaßt, als etwa ein halbes Jahrhundert nach der Zeit, in die man Jesu Tod verlegt. Was es verzeichnet, ist also das Produkt einer halbhundertjährigen Legendenbildung.

Auf Markus folgt Lukas, dann der sogenannte Matthäus, endlich als letzter von allen, Johannes, in der Mitte des zweiten Jahrhunderts, mindestens ein Jahrhundert nach Christi Geburt. Je weiter wir von Anfang an weiterschreiten, desto wunderbarer werden die Evangeliengeschichten. Schon Markus erzählt uns Wunder, aber sie sind noch harmlos gegenüber den späteren. So zum Beispiel die Totenerweckungen. Bei Markus wird Jesus zu Jairus’ Tochter gerufen, die in den letzten Zügen liegt. Alle nehmen an, sie sei schon tot, aber Jesus sagt: Sie schläft nur, reicht ihr die Hand, und sie erhebt sich. (Markus, 5. Kapitel)

Bei Lukas kommt dazu der Jüngling von Nain, der erweckt wird. Er ist schon so lange tot, daß er zu Grabe getragen wird, wie ihm Jesus begegnet. Dieser läßt ihn von der Bahre auferstehen. (Lukas, 7. Kapitel)

Johannes endlich genügt das noch nicht. Er führt uns im II. Kapitel die Erweckung des Lazarus vor, der schon vier Tage im Grabe liegt und bereits stinkt. Damit schlägt er den Rekord.

Dabei waren die Evangelisten höchst unwissende Leute, die von vielen Dingen, über die sie schrieben, ganz verkehrte Vorstellungen hatten. So läßt Lukas Joseph mit Maria wegen eines römischen Reichszensns von Nazareth nach Bethlehem reisen, wo Jesus geboren wird. Aber ein solcher Zensus ist unter Augustus gar nicht vorgekommen. Über dies wurde Judäa erst nach dem Datum, das für Christi Geburt angegeben wird, eine römische Provinz. Im Jahre 7 nach Christi Geburt wurde allerdings ein Zensus abgehalten, aber in den Wohnorten. Die Reise nach Bethlehem machte er also nicht notwendig. Wir kommen darauf noch zurück.

Auch das Prozeßverfahren Jesu vor Pontius Pilatus entspricht weder jüdischem noch römischem Recht. Also selbst da, wo die Evangelisten keine Wunder erzählen, berichten sie vielfach Falsches und Unmögliches.

Und was auf diese Weise als „Evangelium“ zusammengebraut wurde, das erlitt dann durch spätere „Redakteure“ und Abschreiber noch mancherlei Veränderungen, zur Erbauung der Gläubigen.

So schließen zum Beispiel die besten Handschriften des Markus das Werk mit dem 8. Vers des 16. Kapitels ab, wo die Frauen den toten Jesus in der Gruft suchen, aber statt seiner einen Jüngling in langem, weißem Kleid finden. Da verließen sie die Gruft,,und fürchteten sich“.

Was in den herkömmlichen Ausgaben noch folgt, ist später hinzugefügt worden. Mit diesem 8. Vers kann aber das Werk unmöglich geschlossen haben. Schon Renan nahm daher an, das Weitere sei im Interesse der guten Sache gestrichen worden, weil es eine Darstellung enthielt, die der späteren Auffassung anstößig erschien.

Andererseits kommt Pfleiderer wie auch andere nach eingehender Untersuchung zu dem Schlusse, „daß das Lukasevangelium noch nichts von der übernatürlichen Erzeugung Jesu erzählt habe, diese Erzählung vielmehr erst später aufgekommen und dann durch Einfügung der Verse 1, 34 ff. und der Worte „wie man glaubte“ in 3, 23 erst nachträglich in den Text eingetragen worden ist“. (Urchristentnm, I, S. 408)

Angesichts alles dessen ist es kein Wunder, daß schon in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts die völlige Unbrauchbarkeit der Evangelien als Quellen zur Geschichte Jesu von manchen Forschern erkannt wurde und Bruno Bauer sogar dahin kommen konnte, die Geschichtlichkeit Jesu völlig zu leugnen. Daß trotzdem die Theologen von den Evangelien nicht lassen können und auch die liberalen unter ihnen alles aufbieten, deren Autorität zu erhalten, ist begreiflich. Was bleibt vom Christentum, wenn die Person Christi aufgegeben wird? Aber um diese zu retten, müssen sie sich gar sonderbar winden und drehen.

So erklärte zum Beispiel Harnack in seinen Vorlesungen über das Wesen des Christentums (1900), David Friedrich Strauß habe wohl geglaubt, die Geschichtlichkeit der Evangelien in Nichts aufgelöst zu haben. Aber der historisch-kritischen Arbeit zweier Generationen sei es gelungen, sie in hohem Umfang wieder herzustellen. Allerdings seien die Evangelien nicht Geschichtswerk, sie wurden nicht geschrieben, um zu berichten, wie es geschehen ist, sondern waren Erbauungsschriften. „Dennoch sind sie als Geschichtsquellen nicht unbrauchbar, zumal ihr Zweck kein von außen entlehnter ist, sondern mit den Absichten Jesu zum Teil zusammenfällt.“ (S. 14)

Aber über diese Absichten wissen wir ja nur das, was die Evangelien uns mitteilen! Die ganze Beweisführung Harnacks für die Glaubwürdigkeit der Evangelien als Quellen über die Persönlichkeit Jesu beweist nur, wie unmöglich es ist, etwas Sicheres und Durchschlagendes dafür vorzubringen.

Im weiteren Verlauf seiner Abhandlung sieht Harnack selbst sich genötigt, alles, was die Evangelien über die ersten dreißig Jahre Jesu berichten, als unhistorisch preiszugeben, ebenso von dem späteren alles, was an 1mmöglich oder erfunden nachzuweisen ist. Aber den Rest möchte er doch als geschichtliche Tatsache retten. Er meint, es bleibe uns immer noch „ein anschauliches Bild von Jesu Predigt, dem Ausgang seines Lebens und dein Eindruck, den er auf seine Jünger gemacht hat“. (S. 20)

Woher weiß aber Harnack, daß gerade Jesu Predigt so getreu in den Evangelien wiedergegeben würden. Über die Wiedergabe anderer Predigten jener Zeit urteilen die Theologen skeptischer. So sagt Harnacks Kollege Pfleiderer in seinem Buch über das Urchristentum:

„Über die Geschichtlichkeit dieser und anderer Reden der Apostelgeschichte zu streiten, hat in der Tat keinen Sinn; man bedenke doch nur, was alles vorausgesetzt werden müßte, um die wörtlich genaue oder auch nur ungefähr treue Überlieferung einer solchen Rede zu ermöglichen: sie müßte von einem Ohrenzeugen sofort niedergeschrieben (eigentlich geradezu stenographiert) worden sein, und diese Aufzeichnungen der verschiedenen Reden müßten in den Kreisen der Hörer, die doch meistens Juden oder Heiden waren und zum Gehörten sich größtenteils gleichgültig oder feindlich verhielten, über ein halb Jahrhundert lang aufbewahrt worden, endlich vom Geschichtschreiber aus den verschiedensten Orten her zusammengetragen worden sein! Wer sich alle diese Unmöglichkeiten einmal klargemacht hat, der wird ein für allemal wissen, was er von allen diesen Reden zu halten hat: daß sie in der Apostelgeschichte genau ebenso wie bei allen weltlichen Geschichtschreibern des Altertums freie Kompositionen sind, in welchen der Verfasser seine Helden so sprechen läßt, wie er denkt, daß sie in den jeweiligen Situationen gesprochen haben könnten.“ (S. 500, 501)

Sehr richtig! Aber warum soll alles das auf einmal für die Reden Jesu nicht gelten, die ja für die Verfasser der Evangelien noch weiter zurücklagen als die Reden der Apostelgeschichte? Warum sollen die Reden Jesu in den Evangelien etwas anderes sein als Reden, von denen die Verfasser der Berichte wünschten, daß Jesu sie gehalten hätte? In der Tat finden wir in den überlieferten Reden mannigfache Widersprüche, zum Beispiel rebellische und unterwürfige Reden, die sich nur dadurch erklären lassen, daß unter den Christen verschiedene Richtungen bestanden, von denen jede sich Reden Christi, die sie überlieferte, nach ihren Bedürfnissen zurechtkomponierte. Wie ungeniert auch die Evangelisten in solchen Dingen verfuhren, dafür nur ein Beispiel. Man vergleiche die Bergpredigt bei Lukas und bei dem späteren Matthäus. Bei jenem ist sie noch eine Verherrlichung der Besitzlosen, eine Verdammung der Reichen. Das war vielen Christen zu des Matthäus Zeit schon unbequem geworden. Frischweg macht daher das Matthäusevangelium aus den Besitzlosen, die selig werden, Arme im Geiste, und die Verdammung der Reichen ließ es ganz weg.

So wurde mit Reden manipuliert, die schon niedergeschrieben waren, und da will man uns weismachen, die Reden, die Jesus angeblich ein halbes Jahrhundert vor ihrer Niederschrift gehalten habe, seien in den Evangelien getreulich wiedergegeben! Den Wortlaut einer Rede, die nicht sofort niedergeschrieben wurde, durch bloße mündliche Überlieferung fünfzig Jahre lang getreu zu bewahren, ist von vornherein unmöglich. Wer trotzdem durch bloßes Hörensagen überlieferte Reden nach einem solchen Zeitraum noch im Wortlaut niederschreibt, bezeugt schon durch diese Tatsache allein, daß er sich berechtigt fühlt, niederzuschreiben, was ihm paßt, oder daß er leichtgläubig genug ist, alles für bare Münze zu halten, was ihm erzählt wird. Andererseits kann man bei manchen Äußerungen Jesu nachweisen, daß sie nicht von ihm herrühren, sondern schon vor ihm im Schwange waren.

Als spezifisches Produkt Jesu wird zum Beispiel das „Vaterunser“ betrachtet. Aber Pfleiderer weist darauf hin, daß ein aramäisches, in hohes Alter hinaufreichendes Gebet Kaddisch mit den Worten schloß:

„Erhöht und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die er nach seinem Willen erschaffen hat. Er errichte sein Reich bei euren Lebzeiten und bei Lebzeiten des ganzen Hauses Israel.“

Man sieht, der Anfang des christlichen Vaterunser ist eine Nachahmung.

Wenn es aber mit den Reden Jesu nichts ist, mit seiner Jugendgeschichte nichts, mit seinen Wundern erst recht nichts, was bleibt dann von den Evangelien noch übrig?

Nach Harnack bliebe noch der Eindruck, den Jesus auf seine Jünger machte, und seine Leidensgeschichte. Aber die Evangelien sind nicht von Jüngern Christi verfaßt, sie spiegeln nicht den Eindruck, den die Persönlichkeit, sondern jenen, den die Erzählung von der Persönlichkeit Christi auf die Glieder der Christengemeinde hervorrief. Über die historische Wahrheit dieser Erzählung besagt selbst der stärkste Eindruck nichts. Auch die Erzählung von einer fingierten Person kann den tiefsten Eindruck in der Gesellschaft hervorrufen, wenn die historischen Bedingungen dafür gegeben sind. Welchen Eindruck machte nicht Goethes Werther, und doch wußte alle Welt, daß man es da nur mit einem Roman zu tun habe. Trotzdem erweckte er zahlreiche Jünger und Nachfolger.

Im Judentum haben gerade in den Jahrhunderten unmittelbar vor und nach Jesus erfundene Persönlichkeiten die größte Wirkung geübt, wenn die ihnen zugeschriebenen Taten und Lehren starken Bedürfnissen im jüdischen Volke entsprachen. Das bezeugt zum Beispiel die Figur des Propheten Daniel, von dem das Buch Daniels berichtet, er habe unter Nebukadnezar, Darius und Cyrus, also im sechsten Jahrhundert vor Christi, gelebt, die größten Wunder gewirkt und Prophezeiungen von sich gegeben, die sich später in überraschender Weise erfüllten und die mit der Weissagung endeten, es würden große Bedrängnisse über das Judentum kommen, aus denen es durch einen Heiland gerettet und zu neuem Glanze erhoben werde. Dieser Daniel hat nie gelebt, das von ihm handelnde Buch wurde erst um das Jahr 165, zur Zeit der makkabäischen Empörung, geschrieben, kein Wunder, daß alle Prophezeiungen, die der Prophet angeblich im sechsten Jahrhundert äußerte, bis zu diesem Jahre auffallend stimmten, was dem frommen Leser die Überzeugung beibrachte, auch die Schlußprophezeiung eines so untrüglichen Propheten müsse unfehlbar in Erfüllung gehen. Das Ganze ist eine kecke Erfindung und doch übte es die größte Wirkung; der Messiasglaube, der Glaube an einen kommenden Erlöser, zog aus ihm seine stärkste Nahrung, es wurde vorbildlich für alle kommenden Prophezeiungen eines Messias. Das Buch Daniels zeigt aber auch, wie unbedenklich man damals in frommen Kreisen schwindelte, wenn es galt, eine Wirkung zu erzielen. Die Wirkung, die die Figur Jesu erzielte, beweist also für ihre historische Echtheit gar nichts.

So bleibt von dem, was Harnack selbst aus den Evangelien als historischen Kern noch zu retten glaubt, nichts übrig, als die Leidensgeschichte Christi. Indes ist die ebenfalls vom Anfang bis zum Ende, bis zur Auferstehung und Himmelfahrt, so mit Wundern versetzt, daß es auch da fast unmöglich ist, einen historischen Kern mit Bestimmtheit herauszuschälen. Wir werden die Glaubwürdigkeit dieser Leidensgeschichte übrigens noch näher kennen lernen. Nicht besser steht es mit der anderen urchristlichen Literatur. Alles, was anscheinend von Zeitgenossen Jesu, etwa von Aposteln herrührt, ist als Fälschung wenigstens in dem Sinne erkannt, daß es ein Produkt späterer Zeit ist.

Auch von den Briefen, die dem Apostel Paulus zugeschrieben werden, gibt es keinen, dessen Echtheit völlig unbestritten wäre; eine Anzahl sind von der historischen Kritik als unecht allgemein anerkannt. Die frechste unter diesen Fälschungen ist wohl die des zweiten Briefes an die Thessalonicher. In diesem nachgemachten Brief warnt der Verfasser, der sich hinter dem Namen Pauli birgt: „Laßt euch nicht so leicht den Kopf verrücken oder verwirren, weder durch einen Geist, noch durch ein Wort, noch durch einen (gefälschten) Brief unter unserem Namen.“ (2, 2) Und zum Schlusse fügt der Fälscher hinzu: „Hier mein, des Paulus, eigenhändiger Gruß, das Zeichen in jedem Brief. So schreibe ich.“ Gerade diese Worte wurden zum Verräter des Fälschers.

Eine Reihe anderer Briefe Pauli bilden vielleicht die ältesten Literaturerzeugnisse des Christentums. Von Jesus erzählen sie aber so gut wie nichts, außer der Tatsache, daß er gekreuzigt wurde und wieder auferstand.

Was von der Auferstehung zu halten, brauchen wir unseren Lesern nicht auseinanderzusetzen. Als gesichertes Resultat der christlichen Literatur über Jesus bleibt also kaum etwas übrig.

Der Ursprung des Christentums (Eine historische Untersuchung in 4 Bänden)

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