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ОглавлениеSeit Königs Arbeiten zu Brüder und Schwestern sind über fünfzig Jahre vergangen. Versucht man heute das Stichwort Geschwisterbeziehung zu «googeln», so ergibt das an die zigtausend Treffer. Ob das Interesse an dieser Thematik mit der sinkenden Geburtenquote in Deutschland und in den reicheren Industrienationen mit dem Trend zum einzigen Kind zu tun hat, bleibt dahingestellt. Die Fragestellungen sind jedenfalls eng verbunden mit der psychologischen und soziologischen Familien- und Lebensweltforschung. In der Praxis spielen sie in der Pädagogik, der Erwachsenenbildung, der Psychotherapie und in der Biographiearbeit eine nicht ganz unbedeutende Rolle.
Jeder weiß, dass sich in den letzten Jahrzehnten die Verhältnisse für Kinder und Familien grundlegend geändert haben. Die Kinder werden immer weniger, werden dafür aber mit immer mehr verschiedenen Erwachsenen und professionellen Organisationen – Tagespflegestellen, Kinderkrippen, Kindergärten, Horten, Schulen – konfrontiert. Die Verhältnisse sind komplexer und komplizierter geworden: Kindheit wird nicht nur unter dem Aspekt der Geschwisterposition betrachtet, sondern im Zusammenhang mit lebensweltlichen Gesichtspunkten, sozialen, ökologischen, materiellen und individuellen Ressourcen. Königs Forschungsinteresse lag, wie weiter oben schon angedeutet, im sozialen Verhalten innerhalb der Geschwisterreihe und vor allem in der damit verbundenen «Kontaktfähigkeit». Die moderne Entwicklungspsychologie hat sich mittlerweile fast zwangsläufig auf ganz verschiedene Fragestellungen und Themen ausgeweitet. Ein Blick in Hartmut Kastens Geschwister – Vorbilder, Rivalen, Vertraute gibt den Stand der neueren Diskussion wieder. Erwähnenswert ist, dass es Abschied zu nehmen gilt von dem, was uns frühere Forschungen an Befunden über Einzelkinder hinterlassen haben:
Einzelkinder unterscheiden sich gar nicht oder nur noch sehr unwesentlich von Nichteinzelkindern, wenn sie nicht in gestörten familiären Verhältnissen mit Eltern, die beide berufstätig sind, sondern in materiell und ökonomisch gesicherten, harmonischen Verhältnissen aufwachsen (Kasten 2003, S. 45).
Alle Autoren – einschließlich König und Toman – weisen auf die relative Gültigkeit ihrer Ergebnisse hin. Nicht jedes Detail oder konkrete Beispiel gilt für den Einzelfall. Das haben wissenschaftliche Untersuchungen an sich: Es sind Abstraktionen, Verallgemeinerungen der Wirklichkeit, die zwar eine empirische Basis haben, aber zunächst nichts Verbindliches und Definitives über den Einzelfall, den einzelnen Menschen aussagen. Theorien können allerdings helfen, individuelle menschliche Situationen und menschliches Verhalten besser zu verstehen. Denn wer würde behaupten, dass es keinen Unterschied mache, ob man als erstes, zweites oder drittes Kind zur Welt kommt? Keine Schrift, kein Okular eignet sich dazu aus meiner Sicht immer noch besser als Brüder und Schwestern.