Читать книгу Brüder und Schwestern - Karl König - Страница 15
Einleitung
ОглавлениеDas Thema, das hier behandelt wird, hat immer wieder die Aufmerksamkeit bedeutender Denker und Beobachter der Menschennatur erregt. Denn die Frage, welche Bedeutung die Geburtenfolge für den Charakter und das Verhalten des einzelnen Menschen hat, ist nicht neu. Verschiedenste Versuche wurden gemacht, eine Antwort auf dieses Problem zu finden; bisher aber konnte keine eindeutige Lösung vorgelegt werden.
Das hing wohl vor allem daran, dass man die Antwort auf einer falschen Fährte gesucht hat. Man dachte da an Unterschiede der Intelligenz, der Initiative, des emotionellen Verhaltens und ähnliche individuelle Charakterverschiedenheiten. In diesen Bereichen aber konnten keine nennenswerten Variationen im Rahmen der Geburtenfolge entdeckt werden. Weder Intelligenz noch Charakter sind zwischen erst-, zweit- und drittgeborenen Kindern so verschieden, dass man von deutlichen Divergenzen sprechen könnte.
Niemand aber versuchte es bisher, das soziale Verhalten innerhalb der Geschwisterreihe ins Auge zu fassen. Als ich – vor jetzt sieben Jahren – mich mit diesen Fragen zu befassen begann, sammelte ich zunächst anhand von einfachen Fragebogen die Geburtenfolge von 150 mir gut bekannten Freunden. Dabei erkannte ich bald, dass weder der Habitus noch der Charakter noch die Fähigkeiten des Empfindens und Erkennens sich der Geburtenreihe entsprechend einordnen ließen.
Stellte ich aber die sozialen Möglichkeiten und Kontaktfähigkeit von Erst- und Zweitgeborenen zusammen, dann wurden die Unterschiede deutlich sichtbar. Ja, ein erster Sohn ordnete sich sozial ganz anders ein als ein zweites Kind. Ein Einzelkind ist in dieser Hinsicht wieder verschieden. Und bei weiteren Vergleichen und dem Studium ihres Lebens und ihrer sozialen Einstellung gaben mir meine Freunde den Schlüssel dafür, die Unterschiede ihres Verhaltens in der Geschwisterfolge zu finden.
Nun ging ich ein Stück weiter und las eine große Zahl von Romanen, Novellen und Biographien unter einem völlig neuen Gesichtspunkt: dem der Geburtenfolge. Und bald konnte ich erkennen, dass die lebensnahen Geschichten und die großen Kunstwerke – den Autoren mehr oder weniger bewusst – der von mir erkannten Regel entsprachen. Der grüne Heinrich, Wilhelm Meister, die Buddenbrook-Geschwister, die beiden Brüder in Otto Ludwigs Zwischen Himmel und Erde und viele, viele andere erdachte und erdichtete Gestalten erschienen plötzlich in einem neuen Licht!
Ein Erstgeborener hat andere Voraussetzungen für sein Verhältnis zu den ihn umgebenden Menschen als ein Zweitgeborener. Ein drittes Kind ist wieder verschieden, und ein Vierter wiederholt die sozialen Züge des Ersten, wie ein Fünfter dem Zweiten, ein Sechster dem Dritten in dieser Hinsicht ähnlich sind. Und dann begann sich Figur an Figur zu fügen, um allmählich ein Bild zu enthüllen, das eine erste Antwort auf viele offene Fragen zu geben schien.
In der Begegnung mit neuen Menschen und Kindern studierte ich ihre Geburtenfolge und fand Bestätigung auf Bestätigung für das einmal Erkannte. Ich beschloss, eine größere Arbeit anhand von Hunderten von Beispielen zu schreiben. Bisher aber konnten nur Ansätze dazu gemacht werden, denn immer vielfältiger wurde der Stoff, immer faszinierender und umfassender. Neue Bilder ergaben sich, die bis ins Mythische der Sagen und Märchenwelt hineinführten. Das ewige Lied der «Zwei Brüder» und die große Elegie der «Zwei Schwestern» tauchten auf. Die hundertfältige Geschichte vom «Brüderlein und Schwesterlein», in der die Schwester älter als der Bruder ist. Aber gleich faszinierend ist der Bilderkreis vom älteren Bruder und der jüngeren Schwester; von den sieben Brüdern, den drei Schwestern (wer denkt nicht sofort an die drei Töchter des König Lear!), den sechs Söhnen und der siebenten Tochter! Hier werden Ur-Imaginationen des Menschseins offenbar, die – heute verborgen – dennoch wirksam sind. Langsam beginnt sich der Schleier, der diese geheimnisvollen Zusammenhänge verdeckt, zu heben.
Vor Kurzem erschien eine Untersuchung, die von der «Workers Educational Association» in London an 7000 Schulkindern durchgeführt wurde. Dabei konnten sehr interessante Tatsachen aufgedeckt werden. Die Verfasserin, die diese Beobachtungen anstellte, schreibt zum Beispiel: «Wir fanden, dass das Ältere von zwei Kindern sowohl als das Ältere von drei und mehr Geschwistern erfolgreicher im Erwerb von Mittelschulplätzen waren, als das Jüngere von zwei und das Jüngste von drei und mehr Kindern.» Und weiter:
«Erstgeborene verbleiben im Großen und Ganzen viel länger in der Schule nach dem Schulentlassungs-Alter als das bei Letztgeborenen der Fall ist. In Mittelschulen stieg das Verhältnis von älteren und ältesten Geschwistern von 34 Prozent für die unter fünfzehn Jahre alten Schüler auf 43 Prozent für die, die sechzehn Jahre und darüber waren, an. Dagegen sank das Verhältnis der Jüngeren und Jüngsten in den gleichen Altersgruppen von 29 auf 20 Prozent.»
An diesen Beispielen zeigt sich zwischen älteren und jüngeren Geschwistern ein deutlicher Unterschied, den man leicht damit erklären könnte, dass die zuerst Geborenen eben klüger sind als die späteren Kinder. Das ist aber nicht der Fall, denn Mary Stewart weist ganz eindeutig darauf hin, «dass sehr eingehende Untersuchungen bei Kindern und Erwachsenen ergeben haben, wie wenig Unterschiede im Intelligenzquotienten zwischen erst- und später geborenen Kindern nachzuweisen sind».1 Und sie fügt dann zwei Beobachtungen hinzu, die von größter Wichtigkeit sind; sie sagt: «In den Staatsschulen scheint es so zu sein, dass spät geborene Kinder weniger Vorteile aus ihren Möglichkeiten und Gegebenheiten ziehen als Erstgeborene.» Und fügt hinzu: «Letztgeborene Kinder sind nicht kraft ihrer Stellung innerhalb der Geburtenfolge weniger intelligent als Erstgeborene. Sie haben aber weniger Selbstvertrauen und Antrieb, um das Beste aus ihren Fähigkeiten herauszuholen.»
In dieser Beschreibung zeigt sich deutlich, dass nicht die Intelligenz, sondern das Verhalten eine ausschlaggebende Rolle zwischen Erst- und Spätgeborenen spielt. Wenn man dazu noch erfährt, dass «Mitgliedschaft in uniformierten Organisationen (Pfadfinder, Kadetten usw.) viel größer bei älteren und ältesten Geschwistern als den später geborenen ist» und dass «die ältesten von zwei Geschwistern weniger oft ins Kino gehen als die jüngsten von drei und mehr Geschwistern», dann beginnen sich Unterschiede zu enthüllen, die bisher noch nicht beachtet worden waren. Die Erstgeborenen sind zielstrebiger, eindeutiger und ausgerichteter in ihrem Verhalten als die späteren Geschwister; die Letzteren nehmen das Leben leichter, während die Ersteren den Erfolg und die Bewährung suchen.
Eine amerikanische Psychologin, Margret Lautis, hat die Geburtenfolge in Familien untersucht, deren Väter oder Mütter erfolgreich das Harvard-College absolviert hatten. Sie fand unter den Kindern dieser amerikanischen Oberschicht einen sehr deutlichen Unterschied zwischen Erst- und Zweitgeborenen, den sie in der folgenden Art beschreibt:
Das älteste Kind ist auf die Erwachsenen hinorientiert. Es ist ernster, empfindlicher (d.h. es ist leichter verletzlich und muss kaum bestraft werden). Es ist gewissenhaft und brav. Es liest gerne und liebt es, Dinge zusammen mit Erwachsenen zu tun. Es ist entweder ein Mutterkind und scheu, ja oft auch furchtsam; oder es ist voll Selbstvertrauen, unabhängig und in sich ruhend […] Im ersten Fall braucht das Kind die Nähe des Erwachsenen und wird von ihm geleitet und geführt. Im anderen Fall imitiert das Kind die Großen und wird zu ihrem Abbild.
Das zweite Kind hingegen ist nicht so bemüht um die Anerkennung der Erwachsenen. In dieser Hinsicht ist es kräftiger als die Erstgeborenen. Entweder ist es gelassen, bequem, freundlich, fröhlich und leicht lenkbar – trotzdem es keine besonderen Anstrengungen macht, den anderen zu gefallen. Andererseits kann es aber auch trotzig, rebellisch und unabhängig sein, fähig, eine große Zahl von Strafen zu ertragen und zu akzeptieren. Was diese beiden Typen Zweitgeborener gemeinsam haben, ist ihre relative Unberührtheit von aller Art von Strafen und ihre relative Unabhängigkeit von der Welt der Erwachsenen.2
Diese Beschreibung des Unterschiedes zwischen Erst- und Zweitgeborenen wirft ein deutliches Licht auf die Art ihres Verhaltens. Nicht die Intelligenz, nicht die geistigen Fähigkeiten oder der Umfang und die Vielfalt der Gefühle sind verschieden, sondern die Beziehung zur Umwelt der Großen wird hier primär hervorgehoben und charakterisiert. Im sozialen Kontakt zeigen sich die Differenzen, die dann sekundär auf den Charakter in seiner Ausbildung und Entfaltung einwirken.
Allerdings sind die Verhaltensweisen nicht immer so eindeutig und einfach, wie sie hier beschrieben werden; denn die Geschwisterreihe als Ganzes muss immer mit in Betracht gezogen werden, und erst wenn das geschieht, enthüllen sich die markanten, aber vielfältigen Züge der Erst-, Zweit- und Drittgeborenen. Brüder und Schwestern ergänzen einander und bilden zusammen eine höhere Einheit. Erst das Gesamt einer Familie ergibt eine Ganzheit, in welcher der Einzelne die ihm zustehende Aufgabe zu erfüllen hat. Grundlegend aber ist der Unterschied zwischen denen, die an erster, zweiter oder dritter Stelle der Geburtenreihe stehen. Dort entfalten sich die Hauptthemen, die das soziale Verhalten bestimmen. Der Viert-, Fünft- und Sechstgeborene wiederholt die drei ersten Geschwister, und die folgenden Kinder sind thematische Variationen der drei Grundmelodien.
Fällt ein Kind durch Tod oder schwere und chronische Erkrankung aus, dann rückt die gesamte Geschwisterreihe nach und die Änderung der Plätze führt meistens zu erhöhten seelischen Spannungen in den einzelnen Persönlichkeiten. Stirbt zum Beispiel der älteste Bruder, dann tritt der Zweitgeborene an seine Stelle und kommt nun in schwere innere Konflikte, weil er seelisch etwas in seinem sozialen Verhalten umstellen muss, was bisher seiner innersten Anlage entsprochen hat.
Der ermordete amerikanische Präsident Kennedy war ein zweites Kind. Sein hochbegabter älterer Bruder, der sich darauf vorbereitete, Präsident zu werden, kam im Krieg bei einem Fliegereinsatz um. Der zweite Bruder musste nachrücken; er war eigentlich ein Künstler; ein mutiger, frischer, unabhängiger Mensch, der nun die Schuhe der Erstgeburt anziehen musste. Er tat dies mit völliger Hingabe und erreichte das Ziel, das seinem älteren Bruder versagt war. Eine ähnliche Schicksalsfigur waltete beim vierten und fünften Kind der gleichen Familie. Denn die Schwester Kathleen kam – als verwitwete Herzogin von Devonshire – bei einem Flugzeugunglück um. Nun musste die fünfte, Eunice, an ihre Stelle treten. Sie ist die Frau von Sargent Shriver, dem gegenwärtigen Leiter des amerikanischen Friedens-Korps. Sie aber organisiert die ausgedehnte Hilfe, die heute in USA zurückgebliebenen Kindern und Erwachsenen gegeben wird.
Überhaupt sind die Schicksale der neun Kennedy-Geschwister ein erstaunliches und sprechendes Beispiel für die in den folgenden Aufsätzen beschriebenen Regeln der Geschwisterreihe.
Beginnt man dafür einen Blick zu entwickeln, dann eröffnen sich ganz neue Seiten für das Verständnis menschlichen Verhaltens. Was hier dargestellt wird, ist ein Anfang und kann deshalb keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit machen. Allerdings wird eine Tür geöffnet, deren Vorhandensein bisher noch kaum bemerkt wurde. Nimmt man sie wahr und versucht man ihren Schlüssel zu erwerben, um sie aufzuschließen, dann führt sie in die drei Säle des ersten, zweiten und dritten Kindes. In diesen drei Räumen findet man die vielgestaltigen Zeichen und Embleme, die den Kindern mit in ihre Wiegen gelegt werden.
Ein Erstgeborener verhält sich anders als ein Zweiter oder gar ein Dritter. Denn der Erste ist durch seine Erstgeburt ein traditionsgebundener Mensch; ob er es will oder nicht – ob es seinem Temperament und seiner Lebensart entspricht oder nicht –, er ist vom Schicksal dazu gezwungen und geführt, ein Wahrer und Bewahrer, ein Mehrer und Behüter zu sein.
Der Zweite aber ist ein In-sich-Ruhender; ein Freier, Ungebundener und Streifender. Die ganze Erde ist sein Eigen; nicht zum Besitz, sondern zur Freude. Nicht zum Ziel, sondern zur seligen Lust.
Der Dritte ist der Seltsame und Fremde. Der Zweite kehrt gerne nach Hause zurück; nicht so der Dritte. Er bleibt ein Eigener, In-sich-Abgeschlossener, nach kaum erreichbaren Zielen Strebender. Die Großen unter ihnen werden Feldherren und Päpste. Johannes XXIII. zum Beispiel war ein neuntes und daher drittes Kind; Feldmarschall Montgomery, der politisierende und eigenwillige Sieger von El Alamein, ist ein Drittgeborener.
Solche Zusammenhänge zu erkennen, wird in den kommenden Jahrzehnten von größter Bedeutung sein. Denn die alten Formen der Familie sind im Umbau begriffen. Die Großfamilien sind in Auflösung, und die Kleinfamilien, die nur mehr aus Eltern und Kindern bestehen, versuchen ihre neuen Gesetzmäßigkeiten zu finden. Dazu aber wird es gehören, die besonderen sozialen Verhaltensweisen innerhalb der Geschwisterreihe zu verstehen, um den Kindern und heranwachsenden Jugendlichen besser gerecht werden zu können, als das bisher noch der Fall ist.
So möchten die hier herausgearbeiteten Regeln sozialen Verhaltens für Eltern und Lehrer, für Sozialarbeiter und Fürsorger, für Ärzte und Seelsorger eine Hilfe sein, den ihnen zu «Führung und Geleit» Anvertrauten mit neuem Verständnis zu begegnen. Nicht psychologische Beurteilung ist hilfreich, sondern menschliches Verstehen und Mitgefühl. Nicht der Test in vielerlei Gestalt begreift den anderen Menschen, sondern das Eingehen auf sein Schicksal und die Art, ob und wie er es zu bewältigen vermag. Denn solche Einsicht allein erweckt Liebe und Mitleid. Die Liebe aber «ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, treibt nicht Mutwillen, blähet sich nicht …» Alles aber, was der psychologische und psychologisierende Test treibt, ist das Gegenteil der Liebe, weil sich dabei ein Mensch zum beurteilenden Richter anderer erhebt. Das macht ihn zum Eiferer, zum Mutwilligen und bläht ihn auf.
Hier aber geht es um Mit-Empfinden, Mit-Erleiden und Mit-Verstehen. Nicht katalogisierende Schematik wird gegeben, sondern der Anblick eines höheren Auftrags, unter dem wir alle stehen und den wir nur erfassen können, wenn wir ihn mit ertragen und erleiden wollen. Denn nicht der Test, nicht das Experiment und nicht die Analyse, sondern der ganze, ungeteilte Mensch «ist das Maß aller Dinge».
Brachenreuthe, am 5. Mai 1964
Dr. Karl König