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VII.
ОглавлениеAbgesehen von Autobiographien erzählen Menschen, die schreiben, ob gewollt oder nicht, immer auch etwas von sich. Sogar Forschungsinteressen, insbesondere mit psychologischem und sozialwissenschaftlichem Hintergrund, haben, schaut man genauer hin, gelegentlich auch einen, wie auch immer gearteten, biographischen Bezug. Freilich lassen sich Menschen nicht in jedem Falle gern zum Studierobjekt für jene machen, die dem Zusammenhang zwischen Biographie und Werk auf die Spur kommen wollen.
Karl König hat das an zahllosen Biographien getan. Aber immer mit einem verstehenden, einfühlenden Gestus und Blick, dem die reine psychologische Beurteilung und die bloße Neugier fremd war. Auch in Brüder und Schwestern heißt es:
Hier aber geht es um Mit-Empfinden, Mit-Erleiden und Mit-Verstehen (König 2013, S. 38).
Diese Haltung lässt sich auch auf ihn selbst, auf das, was er beispielsweise über den Schicksalsweg des einzigen Kindes geschrieben hat, anwenden. Denn wer über Brüder und Schwestern schreibt, muss zwangsläufig auch seine eigene Kindheit und Herkunftsfamilie im Blick haben, kann gar nicht anders, als in seine Überlegungen die Konstellation der angeheirateten Partnerin und der mit ihr gegründeten Familie mit ihren vier Kindern einzubeziehen.
Auffallend ist, dass König, dieser ungeheuer viel schreibende Mensch, in seinem schmalen autobiographischen Fragment, das 1940 endet, nur wenige Zeilen über sich und seine Kindheit berichtete:
Am Anfang dieses Jahrhunderts wurde ich in Wien geboren. Meine Eltern waren Juden; der Vater stammte aus dem Burgenland, die Mutter kam aus dem tschechischen Mähren. Ich wuchs als einziges Kind in relativer Einsamkeit auf. Der Besuch der Volks- und Mittelschule ging nicht ganz reibungslos vor sich, da ich in manchen Dingen recht eigenwillig war (König 2008 a, S. 106 f.).
Seine berufstätigen Eltern betrieben ein Schuhgeschäft, liebten «Karli» und umsorgten ihn. Das Einzelkind hatte von Geburt an einen leicht deformierten Fuß, war aber mit überaus wachen Sinnen und starker Empfindungsfähigkeit begabt und schaute die Welt aus recht altklugen Augen an. Und er hatte etwas Besonderes an sich (Lindenberg 1991, S. 19):
Als einmal ein Professor der Psychologie an dem Schuhgeschäft vorbeiging, wo der zweijährige Lockenkopf in seinem Kinderwagen vor der Tür saß, geriet dieser in solches Staunen, dass er den Laden betrat und fragte, wem das Kind da draußen gehöre. Der stolzen Mutter verkündete er sodann: Das wird einmal ein berühmter Mann werden! Ich habe während meiner gesamten wissenschaftlichen Laufbahn noch nie eine so auffällige Kopfform wie die des Kindes dort gesehen.
Karl König war, was er über Einzelkinder schreibt, ein «Kind der Schwelle». Jene leben in einer Art «splendid isolation», sind nicht viel mit anderen Kindern zusammen, haben nicht viele Möglichkeiten, ihr soziales Kontaktverhalten zu entwickeln. Sehr viel später erst bat er seine Mutter, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Einmal heißt es da:1
Mit großer Sorge habe sie zusehen müssen, wie ihr Sohn immer mehr in sich gekehrt und verschlossen wurde. Migränen hielten ihn oft tagelang im Bett, die Abende verbrachte er außerhalb des Hauses, bei seinem Freund, dessentwegen er die Schule gewechselt hatte. ‹Es lag so eine Traurigkeit in ihm, als wenn er den ganzen Weltschmerz allein tragen müsste. Wir hatten Angst, die Türe zu öffnen, ob wir ihn heil vorfinden werden (Müller-Wiedemann 2016, S. 26).
Der heranwachsende Knabe hatte die Statur des Vaters und ein überproportional großer Lockenkopf ruhte auf einem relativ kleinen, schmächtigen Leib. Die Deformität der Füße machte es notwendig, ein Leben lang orthopädisches Schuhwerk zu tragen. Der Frühreife, der seinen Altersgenossen weit voraus ist, liest und liest und bis zum Lebensende hat er ein besonderes Verhältnis zu Büchern gepflegt. So ein besonderes Kind, band vor allem den Beistand der Mutter, der sich bald in Verehrung und Bewunderung wandelte, die ein ganzes Leben anhielt. Adolf König, der Vater, zog sich, zumal sich sein Sohn früh schon von den Wurzeln des jüdischen Glaubens entfernte, ins Pfeife rauchende Schweigen und die Resignation zurück.
Wenn auch Königs Autobiographie nur ein Fragment geblieben ist, seinen Tagebüchern vertraute er bereits als Jugendlicher viel an. Bis zu seinem Lebensende behielt er diese Übung bei, schilderte darin nicht nur äußere Tatsachen, sondern auch innere Stimmungen und Seelenzustände, Reflexionen über die «Rätsel meiner Existenz». Es finden sich Notizen wie «Das Leid der Welt ist in mir» und «Zu Leid, Arbeit und Schaffen bin ich erkoren. Ich bin ein Mensch». Vieles davon ist bislang noch unveröffentlicht. Erfreulich ist, dass sich das, unter anderem im Rahmen der Werkausgabe, zu ändern beginnt und die Quellen für eine objektive König-Forschung zugänglich gemacht werden.
Die Erfahrungen der frühen und späteren Kindheit prägen den Verhaltensstil des erwachsenen Menschen. Dies trifft auch auf Karl König zu. Anke Weihs’ Beitrag «Leben mit Karl König» fasst das, was ansonsten punktuell in den verschiedenen Erinnerungen auftaucht, anschaulich zusammen. Sie, die zum engsten Kreis der Gründerinnen und Gründer gehörte, der Gruppe, die sich bereits in Wien um König scharte, erlebt seine Stärken und Schwächen unmittelbar. Ihr Bild beschreibt den ganzen König, einen Menschen, der streng, anspruchsvoll und oft ungeduldig war, der sehr zornig werden konnte, der pedantisch Ordnung hielt und sie auch von anderen erwartete, der konkrete Vorstellungen hatte, wie eine Arbeit erledigt werden sollte, der den «roten Teppich» liebte, dem es schwerfiel zu verzeihen, der kein Erbarmen kannte, «wenn menschliche Beziehungen in Unordnung gerieten oder Motive verwechselt wurden» (Weihs 2008, S. 162). Aber angesichts der Größe und Energie dieses kleinwüchsigen Mannes relativiert sich all das (ebd., S. 172 f.):
Als persönlicher Ratgeber in der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners war Dr. König geduldig, verständnisvoll, aufmunternd, solange sein Gesprächspartner sich ernsthaft bemühte. Er konnte aber beinahe erbarmungslos werden, wenn er den Eindruck bekam, man spiele nur oder wäre der Falschheit verfallen. Sein Zorn hatte die gleiche eigenartige Wirkung, wie seine anderen Charakterzüge: Man fand zu sich selbst zurück, er half einem, das innere Gleichgewicht wiederherzustellen … Ich habe den Eindruck, dass er in diesem Leben eine Portion ‹Göttlichen Zorns› zugeteilt bekommen hatte, um ihn für die Verwandlung anderer Menschen zur Verfügung stellen zu können.
Und freilich, nicht alle haben diesen absoluten und gebieterischen König ausgehalten. Aber, das zählt letztlich, er hat unerschöpflich mit sich gerungen, um «den Löwen in ein Lamm zu verwandeln» (ebd., S. 174).
Auch in der breit angelegten Biographie von Hans Müller-Wiedemann erfährt man merkwürdig wenig und nur andeutungsweise etwas über die familiäre Situation von Karl und Tilla König, die als Mathilde Maßberg als viertes von sieben Kindern zur Welt kam. Der Verbindung, 1929 geschlossen, entstammen vier Kinder. Man kann als Leser nur ahnen, welche Dramatik sich beispielsweise hinter diesem Satz des Biographen verbirgt:
Zunehmend musste Tilla König neben dem immer sich Wandelnden und Voranschreitenden die Liebe des Verzichts üben, aber nie durch all die vielen Prüfungen hindurch ist die Beziehung zu ‹Markus›, wie sie Karl König nannte, abgerissen. Die regelmäßigen Besuche in Botton und die bis zu seinem Tode geführte Korrespondenz mit Tilla legen Zeugnis ab von dem Seelenort, den, im Hintergrund stehend, Tilla für ‹Markus› immer bereithielt, wenn er ihn brauchte (Müller-Wiedemann 2016, S. 404).
Tilla Maßberg, die König bereits in Arlesheim kennenlernte, lud ihn 1928 zu einem Besuch ins schlesische Eulengebirge ein, wo sie mit ihrer Schwester Maria ein kleines heilpädagogisches Institut gegründet hatte. Dort, in Gnadenfrei, einer Siedlung der Herrnhuter Brüdergemeine, die vom Graf Zinzendorf ins Leben gerufen wurde, schildert König in seinem autobiographischen Fragment eine Situation, die sich tief in meine Seele eingrub und schicksalsbestimmend für mich wurde. Es war ein Unbekanntes, das mich hier ergriff und Saiten zum Schwingen brachte, deren Melodien in meinem Inneren bisher nicht erklungen waren. […] Da lag der große Platz mit den beiden mächtigen Wohngebäuden – dem Brüder- und Schwesterhaus. Dort stand die Kirche; sie war innen ganz hell gehalten, vornehm und still. Ich war zutiefst bewegt von der einfach-feierlichen Atmosphäre, die in diesem Raum waltete. […] Hinter dem Ort lag der Gottesacker … jedes Grab war mit einem Stein bedeckt; keiner war größer als der andere. Im Tode sind alle gleich! Auch hier waltete Ernst und Würde, ohne Pomp und Putz. ‹Ja›, dachte ich, ‹so müsste Leben und Sterben von einer Menschengemeinschaft geführt werden.› Die freudige Erschütterung, einem bedeutsamen Ereignis begegnet zu sein, durchdrang mich vollends. Selten hatte mich vorher ein Ort und seine Atmosphäre so unmittelbar ergriffen (König 2008a, S. 122 f.).
Merkwürdig, so denkt sich der zugewandte Leser unwillkürlich, dass er all das ganz und gar nicht mit seiner Liebe zu Tilla Maßberg in Verbindung bringt, die er ein Jahr später heiratet.
Letztlich, so empfindet man, beschreibt König in diesem Abschnitt das, was er, der Heimatlose, ein Leben lang unter großen Mühen sowohl für sich als auch für andere suchte und schließlich auch geschaffen hat: die Entwicklung einer «wahren Gemeinschaft». Sie gehört zu den Grundpfeilern von Camphill. Ein Ort, eine Heimat, eine Gemeinschaft von Menschen, die sich in einem anderen, höheren Sinne als Brüder und Schwestern begreifen. Oder, wie es König in dem Vortrag «Staunen, Mitleid und Gewissen – die neuen Kleider Christi» ausdrückte:
Ich bin ein Mensch nur wenn ich unter Menschen bin. Allein bin ich ein Nichts, kann ich kein Mensch sein (König 2009, S. 97).