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10. Szene

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Südbahnhof. Im fahlen Morgenlicht ein Raum, von dem aus man durch eine große Türöffnung den Hofwartesalon überblickt. Dieser selbst ist ganz mit schwarzen Tüchern drapiert. In der Mitte des Saals, für die draußen Stehenden anfangs noch sichtbar, zwei Sarkophage, deren einer um eine Stufe tiefer steht; rings um die Särge hohe Leuchter mit brennenden Kerzen. Kränze. Gebetstühle. Schwarz livrierte Lakaien sind eben damit beschäftigt, die letzten Kerzen anzuzünden und die zum Empfang der Trauergesellschaft notwendigen Vorbereitungen zu treffen. Im Vorraum und auf dem noch sichtbaren Teil der Treppe drängt sich Publikum, das von Polizeibeamten geordnet wird. Würdenträger, Funktionäre in verschiedenartigen Uniformen erscheinen, bleiben im Vorraum oder verschwinden im Saal, wechseln stumm oder flüsternd Grüße. Ein unablässiges Kommen und Gehen. Eine Abordnung von Gemeinderäten in Frack erscheint. Hofrat Nepalleck tritt mit allen Anzeichen tiefster Niedergeschlagenheit auf und nimmt von zahlreichen Anwesenden Kondolenzen entgegen. Dieser und die folgenden Vorgänge spielen sich im Zwielicht ab. Die Gespräche sind die von Schatten.

Nepalleck: Es ist das Furchtbarste, Durchlaucht ist ganz trübsinnig und durch Unwohlsein verhindert, der höchsten Trauerfeier persönlich beizuwohnen. Auch der Graf Orsini-Rosenberg muß das Bett hüten. Es ist über uns hereingebrochen. Rechts der schönste, der mit Chrysanthemen auf dem Sarg Ihrer seligen Hoheit der durchlauchtigsten Frau Herzogin, ist von Seiner Durchlaucht.

(Ein hochgewachsener Herr, Kleid und Haltung in tiefster Trauer, erscheint, geht auf Nepalleck zu und drückt ihm warm die Hand.)

Angelo Eisner v. Eisenhof: Er war mein Freund. Ich bin ihm nahegestanden. Zum Beispiel bei der Eröffnung der Adriaausstellung. Aber was ist mein Schmerz, verglichen mit dem Ihren, lieber Hofrat! Was muß ein Mann wie Sie in diesen Tagen durchgemacht haben!

Nepalleck: Mir bleibt doch nichts erspart.

(Inzwischen ist das gegenüberliegende Torgeöffnet worden, und man sieht, wie sich der Saal mit der Hofgesellschaft, den höchsten Hof- und Staatsbeamten und der Geistlichkeit füllt, wobei ein Zeremonialbeamter ordnend eingreift und jedem den ihm vorbehaltenen Platz anweist. Bis zum Beginn der heiligen Handlung strömen in den Vorraum immer neue Teilnehmer und Zuschauer, die einzutreten versuchen, Einladungen vorzeigen, zugelassen oder abgewiesen werden. Einige Damen des Hochadels werden von einem diensthabenden Organ aus dem Saal gewiesen. Es erscheinen zehn Herren in Gehröcken, die, ohne sich zu legitimieren, mit Zuvorkommenheit, an dem Spalier der Wartenden vorbei, bis über die Tür des Trauergemachs geleitet werden, die sie während des Folgenden besetzt halten, so daß sie zwar selbst die Vorgänge beobachten können, aber diese den Blicken der Außenstehenden fast ganz entziehen. Die Sarkophage sind seit dem Moment ihres Auftretens nicht mehr sichtbar. Wahrend jeder der zehn ein Notizblatt hervorzieht, treten zwei Funktionäre an die Gruppe heran und stellen sich gegenseitig wie folgt vor.)

Zawadil: Spielvogel.

Spielvogel: Zawadil.

Beide (zugleich sprechend): Ein trüber Morgen. Schon um 6 Uhr waren wir zur Stelle, um die Anordnungen zu treffen.

Angelo Eisner v. Eisenhof (tritt hinzu und spricht angelegentlich mit einem der zehn, die zu schreiben beginnen. Er deutet auf verschiedene Gestalten, die alle die Hälse recken und den Versuch machen, aus dem Spalier zu treten. Er beruhigt durch Winken jeden einzelnen, indem er, gleichzeitig auf die zehn Männer weisend, die Pantomime des Schreibens macht, so als ob er ihm bedeuten wollte, daß bereits von ihm Notiz genommen sei. Inzwischen ist es dem Hofrat Schwarz-Gelber und dessen Gemahlin gelungen, in unmittelbaren Kontakt mit den Schreibenden zu kommen und einem von diesen auf die Schulter zu tippen.)

Hofrat Schwarz-Gelber und Hofrätin Schwarz-Gelber: Wir haben es uns nicht nehmen lassen wollen, persönlich zu erscheinen.

Angelo Eisner v. Eisenhof (der sich mit einem indignierten Blick abwendet, zu seinem Nachbar Dobner v. Dobenau): Und so etwas will einer heiligen Handlung beiwohnen! Wahrscheinlich das erstemal. Ich muß mich vor meinem Freunde Lobkowitz schämen, der grad herüberschaut. (Er grüßt öfter und winkt.) Aha, er hat mich bemerkt, aber nicht erkannt.

Dobner v. Dobenau (mit starrer Miene und langsam): Als Truchseß hätte ich eigentlich das Recht, hineinzugehen, wo die Spitzen sind.

Conte Lippay: Dadurch, daß es mir als Künstler gelungen ist, den Papst zu malen, hatte ich als Palatinalgraf des Öfteren Gelegenheit, Seine Heiligkeit als deren Kämmerer auf die durch solche Vorfälle nicht zu erschütternde Frömmigkeit des verewigten hohen Herrn aufmerksam zu machen, was Seine Heiligkeit beifällig zur Kenntnis zu nehmen geruhte.

Eisner v. Eisenhof: Ja, Lipschitz, wie kommen denn Sie hieher? Unsere Väter in Pilsen hätten sich auch nicht träumen lassen –

Conte Lippay: Nichts davon, Baron, nichts davon, nemo propheta in sua patria und alle Wege führen nach Rom. Aber haben Sie nicht meine Söhne die Grafen Franz und Erwein gesehn?

Dobner v. Dobenau: Als Truchseß hätte ich eigentlich das Recht –

Cafetier Riedl: In der Adriaausstellung habe ich mit Seiner kaiserlichen Hoheit verkehrt, ihm selbst als Patriot und schlichter Gewerbsmann speziell den Kaffee kredenzt, warum nicht, wenn ich auch anerkannt bin, unsereins ist nicht so hopatatschig, indem auch seine hochherzigen Bestrebungen um den Ausbau unserer Flotte an mir im Geiste Tegetthoffs als Obmann jederzeit einen warmherzigen Förderer um damit auf dem einmal betretenen Wege unerschrocken fortzufahren.

Dr. Charas: Mit mir an der Spitze ist auch die Rettungsgesellschaft erschienen, hat aber noch keinen Anlaß gefunden, in zahlreichen Fällen zu intervenieren.

Der Chef des Sicherheitsbureaus Hofrat Stukart: Meine Anwesenheit versteht sich von selbst. Ganz abgesehen von meinem gesellschaftlichen Prestige, mußte schon das rein kriminalistische Interesse meine Aufmerksamkeit auf diesen Fall lenken, dem ich vollkommen unbefangen gegenüberstehe, weil es sich um einen Mordfall handelt, aus dem es niemandem gelingen wird den Vorwurf der Reklamesucht gegen mich abzuleiten. In Wien wäre so etwas unmöglich gewesen. Ich will ja nicht leugnen, daß der geehrte Kollege in Sarajewo bis zu dem Attentat selbst eine ähnliche Taktik eingeschlagen hat, wie sie sich bei uns wiederholt bewährt hat, indem man von den Vorbereitungen zu einem Verbrechen entweder nichts weiß oder es ausreifen läßt, um es späterhin mit umso größerem Erfolge entdecken zu können. Aber der geehrte Kollege in Sarajevo hat eben diesen eigentlichen kriminalistischen Zweck, wenn er ihn selbst angestrebt hätte, bedauerlicherweise verfehlt. Wie anders hätte ich nach vollzogener Tat, weit über meine Dienstpflicht hinaus, mir den Fall angelegen sein lassen, indem unser Sicherheitsbureau fieberhaft gearbeitet und ich persönlich so lange die Fäden in meiner Hand gehalten hätte, bis es mir gelungen wäre, den Täter nach erfolgtem Geständnis unter der Last der Beweise zusammenbrechen zu lassen, was dem geehrten Kollegen in Sarajevo dadurch, daß der Täter auf frischer Tat ergriffen wurde, bedauerlicher Weise nicht geglückt ist. Ich kann mir diese fatale Wendung nur aus Ungeschicklichkeit, vielleicht aus dem Übereifer des Attentäters, der sich der Verhaftung nicht widersetzte, oder aus einem unglücklichen Zufall erklären, der eben in diesem besonders beklagenswerten Falle die Tätigkeit der Polizei vollständig lahmgelegt hat. Da aber das Opfer des Täters an diesem katastrophalen Ausgang unschuldig ist, so wird man es begreiflich finden, daß meine Anwesenheit hier, wenn auch unter andern, bemerkt wird.

Sektionschef Wilhelm Exner: Ich stehe hier als Vertreter technologischer Interessen.

Gouverneur Sieghart von der Bodenkreditanstalt: Ich bin heute Gouverneur. In der sichern Erwartung, daß nunmehr die Staatsgewalt sich in den meiner Weltanschauung angepaßten Bahnen ohne Aufenthalt weiterbewegen wird, kann ich hier meinen Platz behaupten.

Präsident Landsberger von der Anglobank: Sie sagen von mir, ich sei ein Bankmagnat. Trotzdem glaube ich nicht, daß es unter meiner Würde ist, hinter dem Sarge eines wenn auch anderen Idealen zugewandten Mächtigen ein bescheidenes, aber stolzes Plätzchen anzustreben.

Herzberg-Fränkel: Mein Name ist Herzberg-Fränkel. Ich weiß, er hat bei Lebzeiten keine besonderen Sympathien für meinen Typus gehabt, aber der Tod hat etwas Versöhnendes.

Die freisinnigen Gemeinderäte Stein und Hein: Ich weiß zwar nicht, was ich hier zu suchen habe, aber da auch ich da bin, bin ich auch da.

Zwei Konsuln (stellen sich gleichzeitig vor): Stiaßny. Wir haben zwar keine nennenswerte Beziehung zu dem Verewigten gehabt, sind aber dessenungeachtet herbeigeeilt, um unsere Pflicht zu erfüllen.

Drei kaiserliche Räte (treten in einer Reihe auf): Wir sind als Abordnung erschienen, weil wir es den Manen schuldig zu sein glauben, uns in der Hoffnung auf bessere Zeiten nicht von der Überzeugung abbringen zu lassen, daß er das Gute gewollt hat, aber schlecht informiert war.

Sukfüll: Vom Gremium entsendet und berufen, die schmerzlichen Gefühle der Sektion auszusprechen, sehen wir einer ungewissen Zukunft entgegen und sind noch nicht einmal in der Lage, zu ermessen, ob das Ereignis für die geplante Hebung des Fremdenverkehrs hemmend oder fördernd aufzufassen ist. Wie dem immer sei, entbiete ich meinen letzten Gruß.

Birinski und Glücksmann: Als Vertreter der Kunst hat uns die Kunst entsendet, um an der Bahre des großen Toten das Gelöbnis idealen Strebens zu erneuern, während als Vertreter der Industrie jedenfalls andere gekommen sind.

Der Buchhändler Hugo Heller: Durch meine weitverzweigten kulturellen Verbindungen wäre es mir offenbar ein Leichtes gewesen, den erlauchten Verstorbenen dauernd an mich zu fesseln, wenn nicht wie gesagt der Tod dazwischen gekommen wär.

(Während dieser Rede ist eine Dame in tiefster Trauer eingetreten. Alles weicht zurück.)

Hofrätin Schwarz-Gelber (wie vom Blitz getroffen, gibt ihrem Gatten einen Stoß und spricht): Was hab ich dir gesagt! Die is überall, wo sie nicht hineingehört. Ob man einmal unter sich sein könnte!

Flora Dub: Wie ruhig sie daliegen! Wenn sie leben möchte, möchte sie sich erinnern, wie ich einmal Blumen geworfen hab auf ihr. Er war zwar kein besonderer Freund von Blumenkorsos. Aber ich bin gekommen, damit sie sehen sollen, ich trag ihnen nichts nach.

Der Nörgler (im Vordergrund): Du großer Gott der Großen und der Kleinen! Du prüfst die Großen, weil es Kleine gibt. Du prüftest einmal Kleine durch den Großen. Und riefst ihn weg. So hat er diese Prüfung als Prüfer und Geprüfter schlecht bestanden. War dies die Absicht, als Du Tod und Leben zu seligem Unterschied erfunden hast? Stürzt in die Bresche der Unendlichkeit der irdische Feind, ein tollgewordener Haufe? Und ist das Leid nicht göttlicher Besitz, daß die es tragen, die gemordet haben? Ist selbstvergossnes Blut nur ein Rubin, ein falscher Diamant die echte Träne, ein Putz, den sich die Judasfratze borgt? Dann ist die Zeit zu Ende und nichts bleibt als Deine Prüfung. Laß es sie entgelten, in Stadt und Staat die Mißgebornen fühlen, daß es vollbracht ist! Nimm ihr eigenes Blut und traure über sie mit Gottes Träne!

(Während dieser Worte hat die heilige Handlung in höchster Feierlichkeit ihren Anfang genommen. Man sieht, wie der gesamte im Trauersaal versammelte Hofstaat zum Gebete kniet, vorne schluchzend die drei Kinder der Ermordeten. Zeitweise wird die Stimme des Priesters hörbar. Nun spielt die Orgel. Einer der zehn, die allmählich ganz in das Trauergemach gelangt sind, wendet sich plötzlich mit lauter Stimme an seinen Nachbarn.)

Der Redakteur: Wo is Szomory? Wir brauchen die Stimmung!

(Die Orgel setzt ab. Es tritt eine Pause stummen Gebetes ein, nur vom Schluchzen der drei Kinder unterbrochen.)

Der Redakteur (zu seinem Nachbarn): Schreiben Sie, wie sie beten!

Die Leser der folgenden Szene waren der Meinung, ich hätte die Sätze, die ich dem Hans Müller in den Mund lege [Akt I Szene 25], erfunden. Als ob man so etwas erfinden könnte und als ob mein Anteil an diesen Gestaltungen darüber hinausginge, daß ich zu allem, was es gab, am rechten Ort und zur rechten Zeit die Anführungszeichen gesetzt habe. Es ist die tragische Bestimmung meiner Figuren, das sprechen zu müssen, was sie selbst geschrieben haben und so auf eine Nachwelt zu kommen, die sie sich ganz anders vorgestellt haben. Mein Verdienst besteht nicht darin, irgendetwas erfunden zu haben, sondern darin, daß man glaubt, ich müsse es erfunden haben, weil man nicht glaubt, daß man es erlebt haben könne.

Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit

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