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Prolog

Ein kühler Nordostwind blähte die Segel der Fairwind und sorgte für vereinzelte Schaumkronen auf dem endlosen Ozean. Einige Matrosen gingen ihren unbegreiflichen Aufgaben nach, während die Soldaten ihrer Majestät König Karls I. von England in kleinen Gruppen kartenspielend, scherzend und lästernd an Deck herumsaßen.

Johann von Galen stand allein an der Reling und blickte hinaus über das Meer. Es wäre ihm nicht eingefallen, sich unter das grobe Volk zu mischen, mit dem er die Enge des Schiffs zu teilen gezwungen war. Keiner von ihnen, vielleicht mit Ausnahme des Kapitäns Walter Scurrey, war in der Lage, eine gepflegte Konversation zu führen – von Diskussionen über theologische oder philosophische Fragen ganz zu schweigen.

Johann war langweilig. Schon seit einer Woche waren sie jetzt unterwegs, und es gab absolut nichts, womit er seinen wissensdurstigen Geist hätte füttern können. Natürlich hätte er beispielsweise versuchen können, zu verstehen, was die Matrosen taten, warum sie es taten, warum sie etwas überhaupt nur dann taten, wenn sie vom Maat vorher angebrüllt wurden. Doch derartige Betrachtungen waren ihm fremd. Menschen interessierten ihn nicht, er hatte sie noch nie wirklich verstanden.

Was ihn dagegen faszinierte, waren die übrigen Geschöpfe, die Gott in erstaunlicher Vielfalt geschaffen hatte – vom einfachsten Gewürm bis zum mächtigen Wal, vom Seeungeheuer in der Tiefe bis zur Möwe, die scheinbar schwerelos im Sonnenlicht dahin glitt. Besonders die Vögel hatten es ihm angetan. Glichen sie mit ihren gefiederten Flügeln nicht Engeln? Waren sie nicht Gott im Himmel näher als alles andere Getier, sogar als der Mensch? Sie waren nicht grob wie die lästernden Soldaten, sondern so zart und leicht, dass er sich als Kind gefragt hatte, ob sie nicht innen hohl sein mussten. Sie sangen ihre Melodien in einer Schönheit, die selbst der begabteste Musiker nicht übertreffen konnte. Johann war überzeugt, dass sie Gottes liebste Geschöpfe waren. Die Mönche in der Klosterschule, in der er Lesen und Schreiben gelernt und seine philosophische und theologische Grundausbildung erhalten hatte, waren dagegen der Ansicht gewesen, vor Gott seien alle Geschöpfe gleich – mit Ausnahme des Menschen natürlich, den er nach seinem Ebenbild erschaffen und zum Herrscher über die Welt erkoren hatte.

Ob Gott nun Vorlieben hatte oder nicht, er hatte jedenfalls eine erstaunliche Vielfalt von Lebewesen auf die Erde gebracht. Das faszinierte Johann schon seit seiner Kindheit. Als Schüler hatte er versucht, ein vollständiges Verzeichnis sämtlicher auf der Welt existierenden Insektenarten zu erstellen. Stolz hatte er sein Werk dem Prior des Klosters präsentiert. Alle vierzehn Arten hatte er auf ein Blatt Papier gemalt und sorgfältig beschriftet. Der Prior hatte nur geschmunzelt, ihn gelobt und ihn ermuntert, herauszufinden, ob es nicht doch noch irgendwo eine fünfzehnte Insektenart gäbe.

Längst hatte Johann den Versuch aufgegeben, ein vollständiges Verzeichnis von irgendetwas zu erstellen – gerade darin lag ja Gottes Größe, dass seine schöpferische Kraft keine Grenze kannte. Doch die Suche nach Erkenntnis hatte seitdem sein Leben beherrscht.

Besonders ein Rätsel hatte ihn nie losgelassen: Warum waren die Lebewesen nicht bunt gemischt? Wieso gab es in den Wäldern seiner Heimat, dem Bistum Münster, andere Vögel als auf den Azoren, auch wenn sich manche nur geringfügig voneinander unterschieden? Warum waren gerade sich ähnelnde Singvogelarten räumlich getrennt, so verschiedene Vögel wie Sperling und Krähe dagegen auf demselben Gebiet heimisch? Was bezweckte Gott mit diesem Ordnungsprinzip?

Johann hegte die Hoffnung, diesem Rätsel auf die Spur zu kommen. Deshalb hatte er sich erboten, diese Expedition in ferne Gefilde zu begleiten. Seine offizielle Aufgabe war die eines Kartographen und Naturkundlers. Er sollte dem König Bericht erstatten, welche Wunder und Schätze sich auf seinem Besitz, einem abgelegenen Eiland mit dem Namen Barbados, wohl finden ließen. Außerdem hatte er das Land zu vermessen und einen geeigneten Ort für die in Kürze zu errichtende Siedlung zu bestimmen. Denn zwei Schiffe mit Siedlern würden der Fairwind im Abstand von sechs Wochen folgen.

Sein persönliches Ziel allerdings bestand darin, einen Vergleich zwischen den Vögeln seiner Heimat und jenen auf Barbados zu erstellen, um so Ähnlichkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten.

Wenn sie doch bloß schon dort wären! Er konnte es kaum abwarten, die Seltsamkeiten der Inseln des Karibischen Meeres mit eigenen Augen zu sehen, von denen er in den Kneipen Dovers gehört hatte. Allerdings würden sie nach Aussage des Kapitäns noch mehr als eine Woche auf See verbringen.

Ein Schrei riss ihn aus seinen Gedanken. An der gegenüberliegenden Reling deutete ein Matrose aufgeregt auf den Ozean. Einige Soldaten liefen zu ihm. Sie diskutierten lautstark, ohne dass Johann den Grund für die Aufregung verstand. Hatten sie einen Wal entdeckt? Oder gar ein Seeungeheuer?

Mit einer Mischung aus Sorge und Neugierde lief Johann quer über das Deck und starrte angestrengt in die Richtung, in die der Matrose zeigte. Tatsächlich, dort draußen war etwas, nicht viel mehr als ein schwarzer Punkt, der hin und wieder über die Wellenkronen hinaus hüpfte. Wie ein Fisch oder ein Krake sah es nicht aus. Ein Stück Treibholz vielleicht.

Einer der Matrosen eilte in die Kapitänskajüte. Kurz darauf erschien Walter Scurrey, ein Sehrohr in der Hand. Er hielt es vors Auge, dann gab er den knappen Befehl, beizudrehen und Kurs auf das unbekannte Objekt zu nehmen.

Bald erkannte Johann, worum es sich handelte: Es war ein kleines Ruderboot, das führerlos auf den Wellen dahin dümpelte. Wie kam es hierher, hunderte von Seemeilen von der nächsten Küste entfernt?

Neue Aufregung entstand, als sie sich dem Boot näherten. Eine reglose Gestalt lag darin, ein einzelner Matrose offenbar.

Ein Beiboot der Fairwind wurde eilig zu Wasser gelassen. Zwei Seeleute kletterten über eine Strickleiter herab und ruderten hinüber zu dem fremden Boot. Sie riefen etwas, das für Johann wie „He's alive!“, er lebt, klang.

Sie nahmen das Boot in Schlepp. Mit Hilfe einer Hängematte aus dem Unterdeck wurde der unbekannte Mann an Bord gehievt. Er bot einen erbärmlichen Anblick: Ausgemergelt, die Haut von der Sonne verbrannt, die Lippen verkrustet, die Augen zugeschwollen. Ein junger Militärarzt, der mit den anderen Soldaten zur Vorhut für die Besiedlung Barbados' gehörte, beugte sich über ihn, betastete Handgelenke und Hals. Dann hielt er ihm eine Trinkflasche an den Mund.

Etwas wie ein Schauder lief durch den Körper des Mannes. Ein Stöhnen entfuhr ihm. Einige der Matrosen sprachen Dankesgebete, was Johann überraschte – Gottesfurcht schien ihm unter Seefahrern eher die Ausnahme als die Regel zu sein.

Der Schiffbrüchige schlug die Augen auf, oder versuchte es jedenfalls, doch seine Lider öffneten sich nur einen Spalt weit

„Wer seid Ihr?“, fragte der Arzt auf Englisch. „Könnt Ihr mich verstehen?“

Der Gerettete murmelte etwas. „Das klingt wie Spanisch“, sagte der Arzt. „Versteht jemand diese Sprache?“

Die Männer blickten sich betreten an. Falls einer von ihnen des Spanischen mächtig gewesen wäre, hätte er es wohl kaum zugegeben, um sich nicht des Verdachts der Spionage für den Feind auszusetzen.

Johann trat vor. „Ich habe einst eine Forschungsreise nach Katalanien unternommen und dabei einige Brocken der Sprache aufgeschnappt“, sagte er. In Wahrheit hatte er fast drei Jahre am Hofe König Philips des IV. verbracht, der Kunst und Philosophie förderte und im Vergleich zu Karl von England wesentlich weltgewandter und belesener war. Er hütete sich jedoch, das zu erwähnen.

Der Gerettete stieß ein Krächzen aus, das kaum wie Worte klang.

„Was hat er gesagt?“, wollte der Kapitän wissen.

„Er hat dem Herrn für seine Rettung gedankt, glaube ich“, sagte Johann, der kaum etwas von dem Gestammel verstanden hatte.

„Fragt ihn, wie er heißt.“

Johann wiederholte die Frage auf Spanisch.

„Pedro Manchez, Herr“, antwortete der Mann etwas deutlicher. „Wasser bitte, Herr.“

Johann übersetzte es.

„Also gut, gebt ihm noch ein paar Schlucke. Aber dann will ich wissen, von welchem Schiff er stammt und wieso er allein hier draußen auf diesem Ruderboot war.“

Johann hielt dem Spanier die Flasche an den Mund. Dieser trank gierig, würgte die Flüssigkeit jedoch kurz darauf, von Krämpfen geschüttelt, wieder heraus.

„Beeilt euch mit der Befragung, Sir Galen“, mahnte der Kapitän. „Ich will wissen, ob es hier in der Nähe eine spanische Flotte gibt, bevor er sein Leben aushaucht.“

Johann gab dem durstigen Mann noch etwas Wasser und ermahnte ihn, es langsam zu trinken. Diesmal behielt er es bei sich, doch war er immer noch geschwächt, so dass sich die Befragung mühsam gestaltete.

Er sei Matrose an Bord der Santa Cruz de Cordoba gewesen, eines Versorgungsschiffs der Spanischen Marine, konnte Johann aus ihm herausbringen. Sie hätten bei klarem Wetter südwestlichen Kurs mit Ziel Kuba gehalten, als plötzlich um das Schiff herum ein seltsames Blitzen und Leuchten erschienen sei. Auf einmal sei dort, wo zuvor nur Meer war, eine Felsenküste aufgetaucht. Man habe noch versucht, beizudrehen, doch das Schiff sei von den Wellen an eine Klippe gedrückt worden und zerschellt. Er allein habe sich in das Beiboot retten können. So unvermittelt, wie es begonnen habe, sei das Leuchten wieder verschwunden, und er habe sich allein auf dem leeren Meer wiedergefunden, ohne jede Spur von dem Schiff und der Küste.

„Der Mann redet wirr“, stellte der Kapitän fest. „Im Umkreis von tausend Seemeilen gibt es hier nichts.“

„Was war das für ein Land?“, fragte Johann auf Spanisch.

Der Schiffbrüchige röchelte etwas. Seine Augenlider begannen zu flattern.

„Redet, Mann! Was für eine Küste soll das gewesen sein, an der Euer Schiff zerschellt ist?“

Der Spanier sagte etwas, das wie „Mygnia“ klang. Dann verließen ihn die Kräfte und er verlor das Bewusstsein.

„Mygnia? Von einem solchen Land habe ich nie gehört“, bemerkte der Kapitän. „Er muss im Fieber fantasiert haben.“

Johann nickte. Doch auch wenn der Mann völlig entkräftet war, so hatte er klar gewirkt.

„Wir setzen die Befragung fort, wenn er wieder zu Bewusstsein kommt“, ordnete der Kapitän an.

Dazu kam es jedoch nicht. Pedro Manchez starb noch in derselben Nacht an Entkräftung.

Kapitän Walter Scurrey befahl eine Seebestattung. Er notierte die Begebenheit im Logbuch der Fairwind zusammen mit der Position, an der man den Schiffbrüchigen aufgenommen hatte: 31 Grad 12 Minuten nördlicher Breite, 40 Grad 36 Minuten westlicher Länge, am 12. Mai im Jahre des Herrn 1627.

Was der Spanier mit seinem rätselhaften letzten Wort gemeint hatte, ob es überhaupt die Bezeichnung des unbekannten Landes gewesen war oder vielleicht nur der Name seiner Geliebten, sollte Johann von Galen nie erfahren.

Mygnia - Die Entdeckung

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