Читать книгу Mygnia - Die Entdeckung - Karl Olsberg - Страница 9
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Gord betrachtete die Clanmitglieder, die sich im Halbkreis um ihn versammelt hatten. Die Wärme ihrer Körper leuchtete hell – besonders der seiner Mutter. Ihr Kopf strahlte wie ein wütender Glühkrabbler. Selbst ihre eleganten, spiralförmig gerollten Hörner sonderten Hitze ab. Nur ihre Augen waren dunkle Flecken, gekühlt von Tränen des Stolzes.
Er wusste, dass auch sein eigenes Gesicht für alle sichtbar glühte, denn sein Kopfherz pochte wild. Auch sein Bauchherz pumpte das Blut schneller als gewöhnlich durch den Körper. Er fühlte sich gesund, stark, bereit.
Die Rasa hob ihren aus Wungknochen geschnitzten Stab, der von Generation zu Generation an die Stammesführerin weitergereicht wurde. Das Gemurmel der Anwesenden verstummte.
„Ich bin bei dir, Gord!“, sagte sie mit klarer Stimme.
„Ich bin bei dir, Rasa!“ Gord hatte ebenso klar antworten wollen, doch die Aufregung schnürte ihm die Kehle zu, so dass seine Worte eher dem Krächzen eines Karkras glichen. Er schluckte.
„Wir sind bei dir, Gord!“, sagten die Clanmitglieder wie aus einem Mund.
„Ich bin bei euch!“ Diesmal klang es kräftiger.
„Der Tag der Bewährung ist für unseren Sohn Gord gekommen“, sagte die Rasa in dem langsamen Singsang, der für förmliche Ansprachen reserviert war. „Er wird hinausgehen, um die Schrecken des Lichts zu überwinden. Er wird die heiligen Beeren suchen, um unserem Clan Kraft und Heilung zu bringen. Und wenn er zurückkommt …“
Sie stockte. Einen Moment war es absolut still in der Haupthöhle. Gord wagte nicht zu atmen. Ein solcher Aussetzer war höchst ungewöhnlich für die Rasa. Man sagte, sie könne mit Hilfe des Geistersteins, den sie um ihren Hals trug, in die Zukunft sehen. Wusste sie bereits, wie sein Abenteuer ausgehen würde? Er verdrängte die Angst, die seine Eingeweide zusammenziehen wollte.
„… und wenn er zurückkommt und hält auch nur eine Beere in der Hand, so ist er nicht mehr Kind, sondern Mann“, setzte sie ihre Ansprache endlich fort. „Und er wird alle Rechte eines Clankriegers haben. Kehrt er jedoch ohne die heiligen Beeren zurück, so sind seine Ehre und sein Lebensrecht verwirkt.“
Gords Mutter stieß bei diesen Worten einen kleinen Seufzer aus, der in der Stille deutlich zu hören war. Die Clanlegenden erzählten von dem Feigling Ka, der es gewagt hatte, ohne Beeren in die Haupthöhle zurückzukehren und so die Clanehre befleckt hatte. Zur Strafe war er bei lebendigem Leib in den Totenspalt geworfen worden.
Gords Kopfherz pochte noch schneller. Er wusste ebenso gut wie seine Mutter, dass die rituelle Suche nach der heiligen Beere gefährlich war. Manche Clansöhne kehrten niemals zurück. Man konnte nur spekulieren, ob sie einer der zahllosen Gefahren des Lichts zum Opfer gefallen waren oder einfach keine Beeren gefunden und sich nicht mehr in die Nähe der Clanhöhlen gewagt hatten. Gords Krabbelfreund Alfas war vor sieben Zyklen aufgebrochen und immer noch nicht wieder da.
Dennoch spürte er mehr Vorfreude als Angst. Er brannte darauf, sich als Krieger zu beweisen. Er war erst dreimal in seinem Leben im Licht gewesen, hatte die seltsame Glut auf der Haut gespürt, die fremdartigen Geräusche und Gerüche wahrgenommen. Immer war er nach kurzer Zeit wieder in den Schutz der Clanhöhlen zurückgekehrt. Nun aber musste er sich den Gefahren auf unbestimmte Zeit aussetzen. Doch wenn er mit den heiligen Laurynxbeeren zurückkam, würde er als Held gefeiert werden. Alle würden ihn bewundern und achten.
Auch Zelja.
Sie stand dicht neben der Rasa, ihrer Mutter. Auch ihr Körper glühte vor Aufregung heller als die der meisten Anwesenden. Bedeutete das, dass sie ebenso für ihn empfand wie er für sie? Die Vorstellung, sich mit ihr zu verbinden, erfüllte ihn mit Freude. Das war jedes Risiko wert.
„Bist du bereit, die Gefahren des Lichts auf dich zu nehmen, Gord?“, fragte die Rasa.
Gord betastete das Steinmesser in seinem Gürtel. Er drückte die Sprungbeine durch und streckte seinen Körper so lang, wie er konnte. „Ich bin bereit, Rasa.“
Die Clanführerin trat vor und legte ihre Hand auf seine Stirn. „Die Geister des Clans werden dich begleiten, Gord, Sohn von Meji. Unsere Gebete werden dich begleiten. Möge auch der große Erdwurm immer bei dir sein, so dass du auf seinem Rücken gehen kannst.“
Dann tat sie etwas, das Gord zutiefst erschreckte – etwas Unerhörtes, das, soweit er sich erinnern konnte, noch nie geschehen war. Sie griff an ihren Nacken und nahm das Band ab, an dem der Geisterstein hing - der Melin, der Talisman des Clans. Sie beugte sich leicht vor und legte das heilige Amulett um Gords Hals. Ein aufgeregtes Kollern ging durch die Menge der Versammelten.
Gord spürte das enorme Gewicht des Steins auf seine Brust drücken. Eine seltsame Wärme ging davon aus. Im selben Moment war ihm, als könne er wie aus großer Ferne die Stimmen seiner Ahnen hören.
Seine Kehle war zugeschnürt. Er wusste nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Doch die Rasa tat nie etwas ohne Grund.
„Was immer geschieht, vertraue der Stimme des Melins!“, sagte sie.
Gord wollte fragen, was sie damit meinte, doch die Rasa trat bereits einen Schritt zurück und fuhr mit dem Ritual fort, als sei nichts Außergewöhnliches geschehen: „So folge nun dem Tunnel zum Licht. Kehre deinem Clan den Rücken zu und blicke ihn erst wieder an, wenn du deine Aufgabe erfüllt hast!“
Gord warf einen letzten Blick zu seiner Mutter und zu Zelja, die wie alle anderen beide Arme zum Abschiedsgruß erhoben hatten. Er winkte ihnen kurz zu, dann drehte er sich um und betrat verwirrt den Tunnel.
Der Gang war schmal und stockfinster. Gord orientierte sich mit seinem feinen Gehör, drehte seine Ohrentrichter mal hierhin, mal dorthin, um die Echos seiner Schritte von den Wänden aufzufangen. Während er voranging, überlegte er, was es bedeuten mochte, dass die Rasa ihm den Geisterstein umgehängt hatte. Das war höchst verwirrend – soweit Gord wusste, hatte der Stein die Clanhöhle noch nie verlassen. Falls er verloren ging, würde der Clan die Unterstützung der Geister verlieren. Indem die Rasa ihn Gord umhängte, ging sie ein schreckliches Risiko ein – und bürdete ihm eine enorme Verantwortung auf.
Hatten ihr die Geister besondere Gefahren prophezeit, die auf Gords Weg lagen? Musste er eine besondere Herausforderung bestehen? Der Gedanke erschreckte ihn, und seine Füße wurden ihm schwer. Doch es blieb ihm nichts anderes übrig, als weiterzugehen und sich seiner Aufgabe zu stellen.
Nach einer Weile hörte er ein seltsames Geräusch, wie ein Stöhnen und Seufzen, so als sei der Erdwurm selbst krank. Ein leichter Luftzug strich durch sein Haar, der zunahm, je weiter er ging. Das Geräusch wurde lauter. Bald konnte er auch wieder etwas sehen. Ein schwacher Lichtschein erhellte die Wände des Gangs. Doch es war ein seltsames Licht, nicht angenehm und freundlich wie das Leuchten eines warmen Körpers, sondern kalt und hart und beängstigend.
Das Licht wurde immer heller, bis es ihn so sehr blendete, dass er nichts mehr erkennen konnte. Er setzte die Schutzbrille auf, die aus den geschliffenen Körperschalen zweier Gruts hergestellt worden war. Das Glühen seines eigenen Körpers verschwand, dafür konnte er jetzt das Ende des Ganges sehen, und dahinter die fürchterliche Weite der Lichtwelt.
Langsam ging er auf die Öffnung zu. Er wusste, was ihn dort draußen erwartete, und doch erschien ihm die grelle Welt bedrohlicher als je zuvor. Diesmal würde er nicht bloß eine kurze Zeit dort herumtollen, behütet von Wächtern, die nach Gefahren Ausschau hielten. Diesmal war er auf sich allein gestellt.
Endlich erreichte er den Ausgang, der an einem flachen Hang lag, und trat hinaus. Unwillkürlich duckte er sich. Der kalte, schneidende Wind zerrte an seinen empfindlichen Tasthaaren.
Ein Schatten tauchte zu seiner Rechten auf. Gord zuckte zusammen. Er versuchte, das Messer aus seinem Gürtel zu zerren, doch es glitt ihm aus der Hand und fiel zu Boden. Als er sich danach bückte, hörte er ein kollerndes Geräusch – das Lachen des Jägers Jarl.
Erleichtert richtete er sich wieder auf.
„Wenn du auf diese Weise versuchst, dich gegen einen Pasir zu verteidigen, bist du tot, ehe du weißt, was geschehen ist“, sagte der Jäger, aber sein Ton war gutmütig.
Verlegen steckte Gord das Messer wieder in den Gürtel. Am liebsten wäre er sofort wieder umgekehrt und hätte der Rasa gesagt, dass er sich geirrt hatte, dass er noch nicht so weit war. Doch das war natürlich unmöglich. Den Gang, den er eben erst verlassen hatte, noch einmal zu betreten, wäre sein Todesurteil.
Jarls Blick fiel auf den Melin. „Du trägst den Geisterstein!“, stellte er fest. In seiner Stimme hörte Gord Respekt und Verwunderung.
„Ja“, erwiderte Gord. „Die Rasa hat ihn mir anvertraut. Warum, weiß ich nicht.“
„Die Rasa tut, was die Geister ihr befehlen“, sagte Jarl ernst. Dann rieb er wohlwollend Gords Arm. „Du bist ein guter Junge, Gord. Was immer die Geister mit dir vorhaben, du wirst es schaffen. Glaub nicht alle Schauermärchen, die man dir erzählt hat. Hier oben ist es nicht so schlimm, wie manche Jäger behaupten. Die machen sich bloß wichtig. Wenn du vorsichtig bist und den Himmel im Auge behältst, wird dir nichts passieren.“
„Danke, Jarl“, sagte Gord.
„Vergiss nicht, du bist nicht allein. Die Geister unserer Ahnen werden dich beschützen. Möge der Erdwurm dich auf seinem Rücken tragen!“
„Und dich, Jäger.“
Gord hüpfte vorsichtig den Hang hinab. Vor ihm lag ein langgestrecktes Tal, in dessen Mitte sich ein kleiner Fluss wand. Er konnte ihn von hier aus nicht sehen, aber er hatte sich die Karte der Gegend genau eingeprägt, die die Jäger seit Generationen verwendeten.
Leider waren dort nicht die Stellen eingezeichnet, an denen Laurynxbeeren wuchsen.
Gord wusste alles über die Beeren, was es zu wissen gab. Sie waren klein, blau und rochen säuerlich. Sie wuchsen auf feuchtem, lehmigen Boden, oft im Schatten großer Trichterpflanzen. Wenn man sie unzubereitet aß, starb man innerhalb weniger Minuten. Doch die Rasa kannte die Geheimnisse, um aus ihrem Saft wundersame Medizin zuzubereiten, die Wunden heilen, Schmerzen lindern oder den Geisterschlaf einleiten konnte. Wenn ein Jungjäger wie Gord von seiner Ersten Jagd viele Beeren mitbrachte, wurde dies manchmal mit Kaz-Asag gefeiert, einem scharfen Getränk, das in der Kehle brannte und die Sinne benebelte, einen aber auch auf seltsame Weise stark machte. Das wusste er allerdings nur aus Erzählungen, denn Kaz-Asag war den Jägern und Frauen vorbehalten.
Vielleicht würde er ja genug Beeren finden, dass die Rasa bei seiner Rückkehr Kaz-Asag braute.
Ermutigt von dieser angenehmen Vorstellung setzte er seinen Weg fort. Immer wieder hielt er inne, lauschte, witterte, erspürte die sanften Vibrationen des Bodens und suchte vor allem den grellen Himmel nach Schatten ab. Denn das Schlimmste, was ihm hier draußen widerfahren konnte, kam von oben.