Читать книгу Mygnia - Die Entdeckung - Karl Olsberg - Страница 5
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Wie schon oft kam Alex Mars erst gegen 11 Uhr ins Redaktionsbüro der Zeitschrift Abenteuer Universum. Er hatte gestern noch bis spät in die Nacht an einem Artikel gearbeitet.
Die gedrückte Stimmung schlug ihm entgegen wie ein übler Geruch.
Jenny, die rundliche Assistentin am Empfang, begrüßte ihn nicht wie üblich mit einem lahmen Scherz aus dem Internet, sondern nur mit einem müden „Hallo Alex“. Im Großraumbüro herrschte nicht das normale hektische Stimmengewirr. Wenn überhaupt jemand sprach, dann gedämpft. Selbst das Tastaturgeklapper schien verhaltener zu sein als sonst.
„Morgen, Paula“, sagte Alex zu seiner Kollegin, die am gegenüberliegenden Schreibtisch saß.
„Morgen“, gab sie zurück, ohne ihn anzusehen. Sie starrte auf ihren Monitor, benutzte jedoch weder die Tastatur noch die Maus.
Alex runzelte die Stirn. „Was ist denn los? Ist jemand gestorben?“
Paula traten Tränen in die Augen. „Torben … er hat mir gekündigt“, sagte sie. „Mir, Karl, Lupo … und noch fünf anderen.“
„Was? Wieso das denn?“
Sie schüttelte nur den Kopf. „Die Auflage … die Gesellschafter … was weiß ich.“ Sie blickte ihn mit ihren geröteten Augen an. „Was soll ich bloß machen? Mit meinem abgebrochenen Germanistikstudium krieg ich doch nie wieder einen solchen Job!“
„Torben dreht jetzt wohl völlig ab!“ Alex spürte Zorn in sich aufsteigen. „Er kann doch nicht einfach ein Drittel der Redaktion feuern!“ Zwar befand sich die Auflage des Hefts schon seit Jahren im Sinkflug, und auch die Online-Zugriffszahlen waren nicht berauschend. Aber das war nichts Neues! Deswegen setzte man doch nicht auf einmal so viele Menschen an die Luft!
Alex kam nicht auf die Idee, sich darüber zu wundern oder gar zu freuen, dass es ihn nicht erwischt hatte. Er empfand nur Wut über die Ungerechtigkeit der Aktion, die Willkür irgendwelcher Konzern-Erbsenzähler, für die Menschen aus Fleisch und Blut nur Kostenstellen waren. Er stellte seine Laptoptasche auf den Schreibtisch und ging schnurstracks zum Büro des Chefredakteurs. Er klopfte, wartete jedoch keine Antwort ab, sondern riss die Tür auf und trat ein.
Der Anblick seines Chefs ließ ihn innehalten. Der Zorn, der ihn eben noch angetrieben hatte, verrauchte.
Torben Großkopf sah blass aus, beinahe krank. Obwohl er mit 35 nur ein Jahr älter war als Alex, hatte er nur die Hälfte seines ohnehin dünnen Haupthaars behalten. Der Rest hing ihm in Fransen um die Ohren, die heute noch unordentlicher wirkten als sonst. Er hielt seine Brille – im Unterschied zu Alex' eigener, schwarzer Designerbrille ein billiges Kassengestell - in der einen Hand, eine Zigarette in der anderen, und saß derart zusammengesunken in seinem überdimensionalen Chefsessel, dass er einem Leid tun konnte.
Alex kannte Torben schon seit dem Journalistik-Studium. Zwar hatte er sich den unschmeichelhaften Spitznamen „Großkotz“ nicht ganz unverdient eingefangen, denn es wirkte manchmal überheblich, beinahe arrogant, wie er mit englischen Fachwörtern um sich warf, die er in irgendwelchen Konzernmeetings aufgeschnappt hatte. Doch im Grunde war er immer ein fairer und verständnisvoller Chef gewesen. Außerdem verdankte Alex ihm seinen Job.
„Was … was soll das, Torben?“, fragte er mit weit weniger Schärfe als ursprünglich beabsichtigt.
„Hallo Alex. Setz dich.“
Er folgte der Aufforderung. „Was zum Kuckuck ist hier eigentlich los?“
„Ich hatte gestern Abend ein Meeting mit dem Kaufmännischen Leiter. Es ist leider so, dass wir massiv Kosten sparen müssen. Du kennst ja die Zahlen. Gegenüber Vorjahr ist die Auflage um 21 Prozent gesunken. Wir sind nur noch knapp über 50.000 verkauften Exemplaren. Vom Rückgang der Anzeigenumsätze mal ganz zu schweigen.“
„Damit sind wir immer noch Marktführer. Und dass sich der gesamte Zeitschriftenmarkt negativ entwickelt, dafür können wir doch nichts.“
„Nein, dafür kann keiner was. Aber das bedeutet nun mal, dass man Kosten reduzieren muss. Schließlich sind wir ein Wirtschaftsunternehmen und kein Wohltätigkeitsverein, wie der Verleger immer sagt.“
„Der soll erstmal seinen Ferrari verkaufen, bevor er hier Stellen streicht!“, protestierte Alex, obwohl er wusste, dass solche Klassenkampfparolen sinnlos waren.
„Immerhin, die Redaktion wird nicht dichtgemacht“, sagte Torben. „Wir haben noch mal sechs Monate Zeit bekommen, um wieder auf eine verkaufte Auflage von über 100.000 zu kommen.“
Alex brauchte einen Moment, bis er seine Sprache wiederfand. „100.000? Eine Auflagenverdoppelung in einem halben Jahr? Wie soll das denn gehen? Und was bitte meinst du mit ‚nicht dichtgemacht‛?“
„Du hast das schon genau richtig verstanden. Die aktuellen Stellenstreichungen sind nur der Anfang. Wenn wir die Auflage nicht steigern, wird das Magazin eingestellt.“
„Das … das können die doch nicht …“, setzte Alex an, dabei wusste er genauso gut wie Torben, dass die das sehr wohl konnten.
„Und … warum ausgerechnet Paula? Und Lupo, ist der nicht so eine Art Shooting star in der Redaktion?“
„Ist mit dem Betriebsrat abgestimmt. Sozialauswahl, du weißt schon - Betriebszugehörigkeit, Familienstand, Alter, all das. Wenn's nach mir gegangen wäre, hätte ich lieber Lupo behalten anstatt zum Beispiel Krause, aber der hat halt Kinder.“
Da war sie wieder, Torbens arrogante Ader. Doch Alex brachte nicht die Energie auf, um wütend zu werden. „Wenn es hilft, dann … dann gehe ich und du behältst dafür Paula. Die hat doch null Chancen, wieder einen Job als Redakteurin zu bekommen.“
„Hier geht es nicht bloß um Paulas Job oder deinen, Alex. Es geht ums Überleben dieses gottverdammten Magazins! Du bist nun mal der beste Redakteur, den ich habe. Wie soll ich ohne dich auf über 100.000 verkaufte Hefte kommen?“
„Genauso wie mit mir: gar nicht. Das ist schlicht nicht machbar.“
„Du findest also, wir sollten gleich aufgeben und den anderen auch noch kündigen?“
„Ich finde, wir sollten uns das nicht einfach so gefallen lassen!“
„Und was willst du tun? Streiken? Das dauert ein halbes Jahr, dann ist endgültig Feierabend.“
„Hast du eine bessere Idee?“
Torben beugte sich vor. Ein wenig der Energie, die er immer ausgestrahlt hatte, kehrte in sein Gesicht zurück. „Wir müssen das Konzept ändern! Wir müssen mehr über die Dinge schreiben, die die Leute wirklich interessieren. Dann haben wir vielleicht eine Chance!“
„Was meinst du damit?“
„Ich glaube, wir müssen das Wort ‚Abenteuer‛ in unserem Namen wieder mehr in den Vordergrund rücken. Dafür brauchen wir bloß den Begriff ‚Wissenschaft‛ etwas weiter zu fassen als bisher.“
„Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.“
„Also gut, dann werde ich konkreter: Parapsychologie, Astrologie, Religion, Leben nach dem Tod. Themen, die etwas mit dem Universum zu tun haben und die die Menschen eben interessieren. Besonders ältere Menschen, die überhaupt noch gedruckte Hefte kaufen.“
Alex starrte seinen alten Freund eine gefühlte Minute lang mit offenem Mund an. „Du … du willst über den Einfluss von Jupiter auf das Liebesleben schreiben? Das ist doch hoffentlich nicht dein Ernst, oder?“
Torben hob abwehrend die Hände. „Nein nein, so natürlich nicht. Es geht immer noch um eine wissenschaftliche Betrachtungsweise. Nur eben nicht mehr so einseitig. Wir haben uns zum Beispiel überhaupt nicht mit den Argumenten der Astrologen beschäftigt. Wir haben nicht mal einen von denen interviewt.“
„Wozu denn auch? Deren so genannte Argumente sind doch bloß Augenwischerei für leichtgläubige Laien!“
„Siehst du, das meine ich mit einseitig.“
Alex gefiel die Richtung, die dieses Gespräch nahm, immer weniger. „Die Wahrheit ist nun mal einseitig: Entweder etwas ist richtig oder es ist falsch.“
„Das magst du so sehen, aber die meisten Menschen da draußen denken anders.“
Alex stand auf. „Ich glaube, ich habe genug gehört. Wenn das hier ein pseudowissenschaftlich-esoterisches Käseblatt werden soll, bin ich draußen. Frag Paula, ob sie da mitmacht – ich definitiv nicht!“ Er wandte sich um.
„Jetzt warte doch mal!“, rief Torben. „So hab ich das doch nicht gemeint! Herrgott, Alex, glaubst du, mir macht das alles Spaß? Bitte, setz dich wieder! Außerdem muss ich noch was mit dir besprechen.“
Alex drehte sich zu ihm um. „Was denn?“
„Es geht um einen Artikel, den du schreiben sollst. Über das Hochfahren des LHC am CERN.“
Der Large Hadron Collider am europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf war der größte und leistungsfähigste Teilchenbeschleuniger der Welt. Nach einer fast zweijährigen Umbaupause, in der die Leistung der Anlage verbessert worden war, sollte er in wenigen Tagen wieder in Betrieb genommen werden, um nach einer kurzen Testphase Atomkerne mit annähernd Lichtgeschwindigkeit aufeinander prallen zu lassen. Eigentlich ein eher unspektakuläres Thema.
„Was soll ich tun? Darüber schreiben, ob es da spukt?“
„Ich möchte, dass du hinfährst und dir ein unabhängiges Bild machst. Die Meinung der Wissenschaftler einholst, aber auch die der Gegner.“
„Was denn für Gegner?“
„Es gibt immer noch Widerstand dagegen, dass die Anlage wieder angefahren wird. Für Donnerstag ist eine große Protestaktion angekündigt.“
„Ich dachte, das Thema wäre längst durch.“ Bevor der LHC im März 2010 in Betrieb genommen worden war, hatte es in der Öffentlichkeit umfangreiche Diskussionen gegeben. Einige so genannte Wissenschaftler hatten Befürchtungen geäußert, bei den geplanten Experimenten könnten schwarze Löcher entstehen, die die Welt vernichten würden. Alle Beteuerungen der CERN-Physiker, das sei völlig ausgeschlossen, halfen nur wenig. Erst als die Anlage in Betrieb ging und ohne Zwischenfälle lief, verstummte der Protest.
„Ist es nicht. Immerhin ist der LHC bisher bloß mit der Hälfte seiner Maximalenergie von 14 Teraelektronenvolt gelaufen. Die Einwände der Gegner sind im Prinzip immer noch dieselben.“
„Aber das ist doch Unfug! Täglich treffen Teilchen mit weit höherer Energie auf unsere Atmosphäre!“
„Mag sein. Trotzdem möchte ich, dass du vorurteilsfrei und ausgewogen über die Sache berichtest. Lass die Gegner zu Wort kommen, nimm sie genauso ernst wie die Befürworter.“
„Du meinst, ich soll hysterische Laien und paranoide Spinner auf eine Stufe mit renommierten Wissenschaftlern stellen?“
„Du weißt, was ich meine. Außerdem wurden Leute wie Darwin oder Kopernikus von ihren Zeitgenossen ebenfalls als Spinner angesehen. Am Ende haben sie recht behalten.“
Alex seufzte. „Na schön, ich rede mit denen. Aber wenn du glaubst, dass wir damit die Auflage auf über 100.000 kriegen, liegst du genauso daneben wie die Gegner des LHC mit ihren schwarzen Löchern.“
Torben zuckte mit den Schultern. „Wir werden ja sehen.“