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Tappen wir in die Physikalische Falle?
von Alexander Mars
Gex, Frankreich. Ein strahlender Himmel wölbt sich über dem kleinen Ort in der Nähe von Genf. Heiner Krombach, Physiker und Philosoph, blickt nachdenklich auf die Wolkenfetzen, die sich langsam verziehen. Das Wetter ist unbeständig hier in den Alpen, doch die majestätischen Gipfel trotzen seit Jahrmillionen Wind und Regen. Für sie sind die Sorgen der Menschen, die zu ihren Füßen herumwuseln, unbedeutend.
Wenn allerdings Heiner Krombachs Befürchtungen begründet sein sollten, dann könnte selbst die Zeit dieser Felsriesen bald abgelaufen sein. Dann ist das Ende der Welt vielleicht näher, als wir es uns vorstellen können.
„Das ist natürlich alles nur eine Theorie“, betont der Physiker, ein nachdenklicher Mensch, der jahrelang am nahegelegenen Kernforschungszentrum CERN gearbeitet hat, dann aber aus dem Wissenschaftsbetrieb ausgestiegen ist. Seitdem macht er sich Gedanken über die Folgen ungebremsten Forscherdrangs.
Seine Schlussfolgerungen sind beängstigend.
„Da draußen gibt es wahrscheinlich hundert Milliarden Planeten allein in unserer Milchstraße, und hundert Milliarden ähnliche Galaxien“, sagt der hagere, hochgewachsene Mann, der zur Entspannung gern an den Felsmassiven der Umgebung klettert. „Billionen von Welten. Selbst wenn nur ein winziger Bruchteil davon Leben trägt, dann müsste es im Universum von hochentwickelten Zivilisationen nur so wimmeln. Nach Simulationsrechnungen dauert es nur ein paar Millionen Jahre, bis eine Spezies, die über die Technik interstellarer Raumfahrt verfügt, eine ganze Galaxis kolonisiert hat. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis sie auch unser Sonnensystem erreicht. Gemessen am Alter der Milchstraße hätte das eigentlich schon längst passieren müssen. Aber wo sind die Aliens? Warum sehen wir sie nicht?“ Er blickt erneut in den Himmel, als könne dort im nächsten Moment ein Ufo auftauchen.
Krombachs Frage ist nicht neu. Enrico Fermi, einer der Väter der Atombombe, stellte sie einigen befreundeten Physikern bei einem Mittagessen im Jahr 1950. Seitdem ist sie als das „Fermi-Paradoxon“ bekannt. Eine eindeutige Erklärung für dieses Rätsel gibt es nicht, wohl aber etliche Theorien. Die meisten gehen davon aus, dass intelligentes Leben einfach zu selten ist.
Krombach ist anderer Ansicht. „Auf der Erde hat sich Leben entwickelt, kurz, nachdem das überhaupt möglich war. Das lässt vermuten, dass dies auch auf anderen Planeten fast zwangsläufig geschieht, wenn die Bedingungen stimmen. Und die Evolution sorgt dafür, dass dabei irgendwann Intelligenz entsteht.“
Der Physiker ist überzeugt, dass es allein in unserer Galaxis auf Tausenden von Planeten intelligentes Leben gibt oder früher einmal gab. Seine Erklärung, warum wir keiner dieser Spezies bisher begegnet sind, ist allerdings gespenstisch. Vereinfacht gesagt lautet sie: Jede intelligente Spezies entdeckt irgendwann ein physikalisches Prinzip, das zu ihrer eigenen Zerstörung führt. Krombach nennt das die Physikalische Falle.
„Der Astrophysiker Frank Drake hat einmal eine Formel entwickelt, um zu berechnen, wie viele hochentwickelte Zivilisationen es in der Galaxis gibt, mit denen wir in Kontakt treten können. Sie besteht aus sieben Faktoren, von denen wir drei schon recht genau kennen und drei weitere zumindest anhand des Beispiels unserer Erde plausibel abschätzen können. Lediglich der letzte Faktor L ist noch völlig unbekannt: Die durchschnittliche Lebensdauer einer technischen Zivilisation. Und hier liegt das Problem. Wenn L sehr klein ist, dann ist es kein Wunder, dass wir keine Aliens sehen. Denn das bedeutet nichts anderes, als dass sie sich selbst umbringen, bevor sie die Chance haben, Kontakt mit uns aufzunehmen.“
Diese Aussage klingt wie die düstere Vision eines Science-Fiction-Autors. Doch Krombach ist alles andere als ein Fantast. Mit 16 machte er sein Abitur, Notendurchschnitt 1,0, mit 22 Jahren promovierte er in theoretischer Physik, wandte sich dann jedoch der Experimentalphysik zu. Er schrieb einen bahnbrechenden Aufsatz über mögliche Methoden zur Entdeckung des Higgs-Teilchens, der den Aufbau des ATLAS-Experiments am CERN maßgeblich beeinflusste. Mehrere Jahre arbeitete er am Hamburger Forschungszentrum DESY, bevor er nach Genf wechselte. Vor sechs Jahren jedoch war seine steile wissenschaftliche Karriere abrupt zu Ende.
Krombach lächelt, als er davon erzählt: „Das Letzte, das Sie als Physiker tun dürfen, ist einen Vorschlag wie meinen zu machen: die Forschung etwas langsamer angehen zu lassen und erstmal in Ruhe nachzudenken, bevor man den nächsten Schritt hin zu einer großen Entdeckung tut. Das ist ungefähr so, als würde ein Formel 1-Rennfahrer vorschlagen, das nächste Rennen mit angezogener Handbremse zu fahren.“
In der Tat: Die bedeutenden wissenschaftlichen Institute der Welt befinden sich in einem harten Wettbewerb um Ruhm, Talente und Forschungsgelder. Selbst am Large Hadron Collider des CERN, der zurzeit größten Beschleunigungsanlage der Welt, gibt es getrennte Teams, die darum wetteifern, als Erste eine bahnbrechende Entdeckung zu machen. So bezeichnen sich die Wissenschaftler an den beiden großen Detektoren des LHC, ATLAS und CMS, gegenseitig als „Konkurrenten“ und achten darauf, dass ihre Erkenntnisse und Experimentaldaten nicht in die Hände des anderen Teams gelangen. Dieser Wettbewerb wird allgemein als produktiv und kreativitätsfördernd angesehen und deshalb gezielt gefördert.
Doch Krombach warnt, dass sich mitten in einem Wettrennen niemand die Zeit nimmt, über die Folgen seines Tuns nachzudenken. So versuchte er mehrmals, konkurrierende Forscherteams mit der Leitung des CERN an einen Tisch zu bringen und „Denkpausen“ zu vereinbaren. Seine Vorschläge stießen auf Unverständnis und wurden als Panikmache abqualifiziert. Sein Ruf als Wissenschaftler litt. Als er seine Befürchtungen in einem wissenschaftlichen Aufsatz darlegte, wollte keines der angesehenen Magazine ihn drucken. Krombach veröffentlichte den Text daraufhin als Gastbeitrag in einem wissenschaftskritischen Blog, was ihm den Vorwurf der Nestbeschmutzung eintrug. Er überwarf sich endgültig mit dem Direktor des CERN und kündigte seine Stellung.
Geldprobleme hat Krombach nicht: Sein Vater war Gründer einer Bäckereikette, die er für einen zweistelligen Millionenbetrag verkaufte, kurz bevor er an Krebs starb. Von seinem Erbe kaufte sich der Physiker ein bescheidenes Häuschen nahe seiner ehemaligen Wirkungsstätte, „weil mir die Gegend hier einfach gefällt.“ Seitdem schreibt er Bücher und Aufsätze, in denen er versucht, seine kritische Sichtweise mit wissenschaftlicher Logik zu begründen – bisher jedoch ohne große Resonanz in der Öffentlichkeit.
Worauf genau gründet sich seine Sorge? Krombach holt aus: „Betrachten Sie die Geschichte der Menschheit, dann fallen drei Dinge auf: Erstens ist sie geprägt von gewaltsamen Auseinandersetzungen, zweitens nimmt mit dem technischen Fortschritt auch die Wirkung der eingesetzten Waffen zu und drittens hat die Menschheit noch nie eine fortgeschrittene Waffentechnologie nicht irgendwann auch benutzt.“ Er nennt als Beispiele die Giftgasangriffe des ersten Weltkriegs, die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki und die missglückten Terrorangriffe mit Anthrax-Sporen in den USA.
„Seit etwa sechzig Jahren sind wir in der Lage, die gesamte menschliche Zivilisation zu zerstören. In dieser Zeit waren wir schon zweimal kurz davor, es tatsächlich zu tun – 1962 während der Kubakrise und ein weiteres Mal aufgrund von Missverständnissen im Zusammenhang mit dem Able-Archer-Manöver im November 1983. Der Kalte Krieg ist vorüber, aber die Gefahr ist nicht gebannt, denn immer noch lagern in den Silos der Amerikaner und Russen genug Atomwaffen, um uns in die Steinzeit zurückzubomben. Zudem streben immer mehr Staaten nach der ultimativen Bombe. Dass es irgendwann zu einem nuklearen Terroranschlag kommt, ist für Experten nur eine Frage der Zeit. Dabei sind Atomwaffen nicht einmal die größte Bedrohung: Inzwischen haben wir die Möglichkeit, künstliche Organismen zu erzeugen, die verheerende globale Epidemien auslösen können. Wenn so etwas in die Hände von Terroristen gelangt, werden die Pestwellen des Mittelalters dagegen so harmlos wirken wie ein Schnupfen.“
Krombach macht nicht den Eindruck eines notorischen Pessimisten oder Nörglers. Er lacht gern und nimmt sich selbst nicht allzu ernst, wenn er über seine Theorien spricht. Dennoch merkt man ihm an, dass ihn seine Folgerungen belasten. „Wir können davon ausgehen, dass uns mit Hilfe von Forschungsanlagen wie dem CERN in den nächsten Jahren weitere bahnbrechende Erkenntnisse gelingen. Wir werden neue Techniken erfinden, die der Menschheit viel Gutes bringen. Wir werden bisher unheilbare Krankheiten heilen, den Lebensstandard vieler Menschen verbessern, unser Wissen über das Universum ausweiten. Aber wir werden auch neue Möglichkeiten finden, uns selbst zu zerstören.“ Er macht eine kurze Pause, kratzt sich am Ohr. „Und wir werden sie einsetzen“, ergänzt er. „Ganz sicher werden wir sie einsetzen.“
Man ist geneigt, ihm zu glauben. Die meisten neuen Technologien lassen sich sowohl für friedliche als auch für militärische Zwecke nutzen, und beides wurde und wird auch getan. Über die Risiken wird oft erst ernsthaft diskutiert, wenn bereits eine Katastrophe passiert ist. An der Kernkraft wird das besonders deutlich.
„Gerade die Suche nach neuen Energiequellen ist es, die mir Sorgen macht“, sagt Krombach. „Sie ist eine der treibenden Kräfte hinter unseren Bemühungen, die Struktur des Universums besser zu verstehen. Unser Hunger nach Energie ist unersättlich. Kontrollierte Kernfusion ist eine Möglichkeit, diesen Energiehunger zu befriedigen, aber wahrscheinlich gibt es noch viel wirkungsvollere Energiequellen, die wir noch nicht entdeckt haben. Wie auch immer diese neuen Methoden der Energieerzeugung aussehen – man wird sie nicht nur nutzen, um Strom zu erzeugen. Sie werden auch besonders effektive Waffen ermöglichen – Waffen, mit denen man vermutlich nicht bloß eine Stadt, sondern vielleicht einen ganzen Planeten zerstören kann.“
Doch wer könnte so verrückt sein, die Erde in die Luft sprengen zu wollen? „Natürlich wäre eine solche Tat purer Wahnsinn“, stimmt Krombach zu. „Aber es gibt genug Wahnsinnige auf der Welt: Amokläufer und Selbstmordattentäter zum Beispiel. Ist es vorstellbar, dass eines Tages jemand so irre, so verzweifelt, so tief verletzt sein könnte, dass er nicht nur sein eigenes Leben, sondern die ganze Welt zerstören will? Ich fürchte, ja. Stellen wir uns bloß einmal vor, Hitler hätte am Ende des zweiten Weltkriegs eine solche Bombe besessen. Hätte er sie gezündet und nicht nur sich selbst und das deutsche Volk, sondern auch seine Feinde in den Abgrund gerissen? Ich vermute, er hätte keine Sekunde gezögert, das zu tun!“
Für Krombach ist es simple Mathematik: Der L-Faktor in der Drake-Formel ist wahrscheinlich so klein, dass sich zwar häufig intelligente Zivilisationen entwickeln, sie aber alle innerhalb relativ kurzer Zeit an den Punkt der Selbstauslöschung gelangen. „Und zwar kurz, nachdem sie die Möglichkeit haben, sich bemerkbar zu machen“, erklärt Krombach. „Denn dafür benötigen sie genau die mächtigen Energiequellen, die ihr Untergang sind. Wie Sternschnuppen leuchten sie kurz am Nachthimmel auf, bevor sie verglühen.“
Das ist es, was seine Theorie der Physikalischen Falle im Kern ausmacht: Jede Zivilisation, die über ausreichend Energie verfügt, um mit anderen Zivilisationen Kontakt aufzunehmen oder sich über fremde Sternensysteme auszubreiten, verfügt auch über genügend Energie, um sich selbst zu zerstören. Und wird es nach Krombachs Befürchtung unweigerlich tun.
Aber ist das wirklich das einzig denkbare Zukunftsszenario?
Der Physiker lächelt. „Nein. Es wäre möglich, dass es da draußen Zivilisationen gibt, die gelernt haben, ihre Aggressivität und ihren Expansionsdrang zu bändigen. Die mit sich selbst und ihrer Umwelt in Einklang leben.“ Er unterteilt intelligente Spezies in zwei Kategorien: die aggressiven, expansiven Typ-A-Zivilisationen und die bedächtigen, auf Harmonie mit sich selbst und der Natur bedachten vom Typ-B. Von Letzteren würden wir nicht viel mitbekommen, denn sie würden sich per Definition nicht ausbreiten, kaum Energie abstrahlen und wären damit für uns so gut wie unsichtbar. Jeder kann laut Krombach selbst einschätzen, in welche Kategorie die Menschheit heute fällt.
Es gibt also noch Hoffnung für unsere Zukunft. „Aber nur, wenn wir vieles ganz, ganz anders machen als heute“, argumentiert der Physiker.
Seine Empfehlungen sind ziemlich konkret: „Wir erforschen die falschen Dinge. Statt nach unerschöpflichen Energiequellen zu suchen, sollten wir erst einmal herausfinden, wie wir selbst besser miteinander umgehen können. Bevor wir neue Waffen erfinden, müssen wir lernen, Aggressivität und Expansionsdrang zu überwinden. Solange unser Handeln von Egoismus und Gier bestimmt wird, solange es Unterdrücker, Diktatoren und Terroristen auf dieser Welt gibt, ist es verdammt gefährlich, Technologien zu entwickeln, die neue Waffen ermöglichen. Denn diese Waffen werden garantiert in die falschen Hände fallen. Und was einmal entdeckt wurde, kann nicht mehr ungeschehen gemacht werden.“
Krombach plädiert für eine übergreifende Forschungsinitiative der klügsten Menschen der Welt, ausgestattet mit nahezu unbegrenzten Mitteln und einem hehren Ziel: Den Wahnsinn des Krieges und Terrors ein für alle Mal zu beenden. „Bevor uns das nicht gelungen ist, müssen wir das wissenschaftliche Wettrennen um neue Energiequellen stoppen“, mahnt er. „Sonst werden wir ebenso im Feuer unserer eigenen Arroganz und Gier verbrennen wie vermutlich schon viele Zivilisationen vor uns.“
Die Frage, warum er dann nicht aktiv an den Protesten gegen das Wiederanfahren des LHC teilgenommen habe, beantwortet Krombach so: „Diese Proteste werden nicht ernst genommen, denn die Argumente der LHC-Gegner sind sachlich nicht haltbar. Nicht die Teilchenkollisionen in der Beschleunigeranlage werden die Welt zerstören, sondern möglicherweise die Erkenntnisse, die wir dabei gewinnen.“
Wie kann ein Mann, der eine solch düstere und doch so kluge Weltsicht hat, noch ruhig schlafen?
Krombach lächelt. „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, sagt er. „Und außerdem ist das alles ja bloß eine Theorie.“