Читать книгу Flucht aus der Würfelwelt - Karl Olsberg - Страница 10
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Die Sonne ist längst untergegangen, und es ist kühl geworden. Amelie zittert leicht – ob vor Kälte, Aufregung oder Furcht könnte sie nicht sagen. Sie steht an dem hohen Zaun, der die Klinik umgibt, und beobachtet das Gelände. Alles ist ruhig. Die meisten Fenster sind noch erleuchtet.
Sie haben ihn unter Drogen gesetzt! Sie halten ihn gegen seinen Willen hier gefangen! Du musst ihn hier rausholen, Amelie!
Kann sie den Worten des Mannes im Bademantel trauen? Wenn es stimmt, was Dr. Johannsen gesagt hat, dann ist er ein verrückter Schriftsteller, der sich für allmächtig hält. Wahrscheinlich hat er nur Unsinn geredet. Aber er kannte Amelies Namen, und das bedeutet, er muss mit Marko gesprochen haben. Sie muss herausfinden, was mit ihm los ist! Vielleicht kann sie ihn von außen durch ein Fenster sehen. Es würde ihr genügen, zu wissen, dass es ihm gutgeht.
Amelie war nicht zuhause und hat ihre Mutter nicht angerufen. Wozu auch? Sie hätte ohnehin nur eine Menge Ärger bekommen und ganz sicher nicht die Erlaubnis, das zu tun, was sie vorhat. Also ist sie einfach nach zwei Stationen wieder aus dem Bus ausgestiegen und so lange durch die Villengegend gewandert, bis es endlich dunkel wurde. Nun muss sie irgendwie über diesen Zaun klettern. Er ist mindestens zwei Meter hoch und oben mit mehreren Bahnen Stacheldraht gesichert, fast wie bei einem Gefängnis. In der Nähe steht außerhalb des Klinikgeländes ein alter Kastanienbaum, dessen Äste über den Zaun ragen. Wenn es ihr gelingt, auf den Baum zu klettern, könnte sie von einem der unteren Äste in den Garten springen. Allerdings hätte sie dann keinen Rückweg.
Die andere Seite der Straße, die an dem Klinikgelände vorbeiführt, ist von Einfamilienhäusern mit gepflegten Vorgärten gesäumt. In einem davon entdeckt Amelie einen kleinen, grün gestrichenen Schuppen. Vielleicht findet sie darin ein Seil, das sie borgen kann? Die Gelegenheit scheint günstig: Die abgelegene Straße ist leer, und auch hinter den Fenstern ist niemand zu sehen. Amelie springt über einen niedrigen Gartenzaun und huscht in den Schatten zu dem Schuppen. Er ist mit einem Vorhängeschloss gesichert. Mist!
Neben dem Haus steht eine Trommel mit einem aufgerollten Gartenschlauch. Das müsste funktionieren. Sie löst das Ende des Schlauchs von dem Wasserhahn, an den es angeschlossen ist. Die Trommel ist ziemlich schwer. So schnell sie kann, schleppt sie den Schlauch durch den Vorgarten.
Plötzlich bellt ein Hund im Inneren des Hauses. Im selben Moment kommt ein Auto die Straße entlang. Mitten im Vorgarten, die Schlauchrolle in beiden Händen, wird Amelie vom Scheinwerferkegel des Wagens erfasst. Doch das Auto fährt vorbei, und niemand stürmt wütend aus dem Haus, um sie des Diebstahls zu bezichtigen.
Erleichtert huscht sie mit dem Schlauch zu der Kastanie. Schon als kleines Kind ist sie immer gern auf Bäume geklettert und hat eine gute Körperbeherrschung. Sie zieht Schuhe und Strümpfe aus, so dass ihre Zehen besseren Halt an der Rinde finden. Dann rollt sie den Schlauch ab, wobei die Trommel ziemlich laut quietscht. Schließlich klemmt sie das Schlauchende zwischen die Zähne und krallt ihre Finger in die Unebenheiten des Stammes. Stück für Stück zieht sie sich an dem Baum empor. Jedes Mal, wenn ein Auto vorbeifährt, erstarrt sie, doch keiner der Fahrer scheint sie zu bemerken.
In gut drei Metern Höhe erreicht Amelie einen Ast, der über den Zaun hinausragt und dick genug scheint, um sie zu tragen. Sie zieht den Schlauch hinauf, soweit es geht, und klettert den Ast entlang, bis sie über dem Klinikgelände ist. Dort wickelt sie den Schlauch ein paar Mal um den Ast, sichert ihn mit einem Knoten und lässt das Ende in den Garten fallen. Es reicht fast bis zum Boden. Rasch hangelt sie sich daran herab.
Im Schatten eines Busches kauernd lauscht sie in die Dunkelheit. Wenn jemand zufällig aus dem Fenster sieht, wird ihm bestimmt der knallgelbe Schlauch auffallen, der vom Baum herabhängt wie eine tote Schlange. Doch es rührt sich nichts. Schließlich fasst sie Mut und schleicht sich zum Klinikgebäude, wobei sie jede Deckung ausnutzt. Das Gras unter ihren nackten Füßen ist kalt und feucht.
Das erste Fenster, das sie erreicht, ist dunkel, doch im zweiten brennt Licht. Vorsichtig späht sie hinein. Ein junger Mann in weißer Pflegerkleidung sitzt an einem Computer. Zum Glück ist er so in das Kartenspiel auf seinem Bildschirm vertieft, dass er Amelie nicht bemerkt.
Die nächsten drei Fenster gehören zu einem großen Gemeinschaftsraum, in dem mehrere Tische stehen. In einer Sitzgruppe vor dem Fernseher sitzen einige Patienten und schauen sich einen alten Zeichentrickfilm an. Der verrückte Schriftsteller ist nicht dabei.
Amelie schleicht weiter und erreicht die Hausecke. Die Fenster auf der anderen Seite sind fast alle dunkel. Nur aus einem Fenster ganz am Ende der Wand brennt Licht. Als Amelie hineinspäht, entpuppt es sich als Krankenzimmer mit drei Betten. In einem von ihnen liegt Marko!
Schläuche ragen ihm aus Mund und Nase. Drähte führen zu einem fahrbaren Tisch voller elektronischer Instrumente. Auf einem davon zuckt regelmäßig eine Herzschlagkurve. Offenbar liegt er wieder im Koma. Der Grund, weshalb ihn niemand besuchen soll, ist offenbar nicht, dass er Ruhe und Einsamkeit braucht, sondern dass niemand erfahren soll, dass es ihm nicht gut geht. Etwas muss hier in der Klinik schief gegangen sein. Oder …
„Spezialagentin Amelie?“
Sie bekommt fast einen Herzschlag, als sie die geflüsterte Stimme hinter sich hört. Sie fährt erschrocken herum. Ein dicker Mann mit wirren Haaren und Hornbrille hockt hinter ihr. Er trägt den gleichen Patientenbademantel wie der Schriftsteller.
„Sir William, im Geheimauftrag Ihrer Majestät, zu deinen Diensten“, stellt er sich vor. „Bitte folge mir!“
Amelie betrachtet den Verrückten misstrauisch. Wie hat er es geschafft, sich unbemerkt anzuschleichen?
Sir William scheint ihre Zurückhaltung zu spüren. „Ich weiß, wir Geheimdienstleute wirken manchmal etwas einschüchternd auf Zivilisten. Aber du kannst mir vertrauen. Ich bin auf deiner Seite.“ Er deutet mit dem Kopf auf das erleuchtete Fenster. „Der Feind hält unseren besten Agenten gefangen und verhört ihn mit brutalen Methoden. Wir müssen ihn befreien! Deshalb habe ich im Hauptquartier Verstärkung angefordert. Gut, dass du endlich da bist! Jetzt komm, sonst erwischen sie uns noch!“
Amelie folgt dem Dicken zu einer angelehnten Seitentür. Der Gang dahinter ist dunkel.
„Pssst!“, macht Sir William überflüssigerweise. Er schleicht um eine Ecke und verschwindet in einem Zimmer auf der anderen Gangseite, in dem Licht brennt.
Als Amelie den Raum betritt, blicken ihr drei neugierige Gesichter entgegen. Eines gehört einer älteren Frau mit langen weißen Haaren. Sie sitzt im Schneidersitz auf einem Bett und lächelt.
„Das ist Ismalda, die Prophetin“, stellt Sir William die Frau vor. „Sie hat dein Kommen bereits angekündigt. Dort auf dem Stuhl sitzt Elfie. Du kannst sie wahrscheinlich nicht sehen, denn sie ist ein Gespenst und zeigt sich nur ihren Freunden.“
„Keine Sorge, ich habe mich ihr offenbart“, sagt das angebliche Gespenst. Die junge Frau hat hellblonde, kurze Haare und blaue Augen.
„Und das hier ist Karl, du hast ihn ja schon gesehen. Er behauptet, er sei Gott, aber ansonsten ist er ganz okay.“ Sir William zwinkert Amelie zu.
Karl erhebt sich von seinem Stuhl und reicht Amelie förmlich die Hand. „Schön, dass du gekommen bist. Du spielst nämlich eine wichtige Rolle in meiner Geschichte.“
„Was ist mit Marko?“, fragt Amelie. „Was haben sie mit ihm gemacht?“
„Er wurde vom Feind überwältigt und in eine Verhörzelle gebracht, wo sie ihn auf grausamste Weise foltern“, erklärt Sir William. „Bis jetzt ist er standhaft geblieben und hat ihnen den Aufenthaltsort Ihrer Majestät nicht verraten! Aber ich fürchte, auf Dauer wird er dem Druck nicht standhalten können. Schwester Christa kennt alle Tricks, wie man jemanden zum Reden bringt.“ Er schlägt mit der Faust auf den Tisch. „Ich sage, wir starten eine Befreiungsaktion! Jetzt gleich!“
„Beruhige dich, Sir William!“, ermahnt ihn Elfie. „Du wirst uns noch die Pfleger auf den Hals hetzen!“
„Sie haben ihn in ein künstliches Koma versetzt“, erklärt Karl.
„Wer?“, fragt Amelie. „Und warum?“
„Dr. Johannsen. Damit er nicht redet.“
„Unsinn!“, mischt sich Sir William ein. „Sie wollen ihn doch zum Reden bringen!“
Amelie blickt verwirrt zwischen den beiden hin und her. Ihr wird klar, dass sie hier nichts Sinnvolles erfahren wird. Sie muss so schnell wie möglich verschwinden und Markos Mutter darüber informieren, dass Dr. Johannsen lügt.
„Hab keine Angst“, meldet sich die Prophetin Ismalda zu Wort. Sie lächelt immer noch sanft. „Alles wird gut!“
Karl wirft ihr einen bösen Blick zu. „Musst du immer alles vorhersagen? Du vermasselst die ganze Spannung!“
„Danke für eure Hilfe“, sagt Amelie. „Aber ich muss jetzt gehen.“
Karl schüttelt den Kopf. „Ich fürchte, das wird nicht möglich sein.“
„Was meinst du damit?“, fragt Elfie.
„In meinem Buch steht leider etwas anderes.“
Amelie hat genug gehört. Sie wendet sich zur Tür, die genau in diesem Moment auffliegt. Die ältere Frau, die heute Nachmittag hinter Karl her war, betritt in Begleitung des Pflegers Bertram das Zimmer.
„Hab ich’s mir doch gedacht!“, sagt sie.
„Verrat!“, ruft Sir William. „Die Sicherheit wurde kompromittiert! Für die Königin!“
Er stürzt sich auf Bertram und versucht, ihn mit einem Karateschlag gegen den Hals niederzustrecken. Doch der stämmige Pfleger wehrt den Angriff mühelos ab und ringt den Dicken zu Boden, wo er ihn mit einem Knie im Rücken festhält. Die anderen Patienten sitzen wie gelähmt da. Nur Ismalda lächelt immer noch.
„Wer bist du, und was willst du hier?“, fragt die Pflegerin.
„Mein Name ist Amelie Schiller. Ich … ich wollte einen Patienten besuchen. Marko Leyenbrink.“
„Mitten in der Nacht? Wie bist du überhaupt hier reingekommen?“
„Ich … äh … ich war heute schon einmal hier. Ich habe mit Dr. Johannsen gesprochen.“
„Er hat dich in die Klinik eingewiesen? Wieso weiß ich davon nichts?“
„Nein, nein. Ich bin bloß eine Freundin von Marko Leyenbrink.“
„Das stimmt“, bestätigt Pfleger Bertram.
„Du bist wegen Marko hier? Warum sagst du das nicht gleich?“ Die Stimme der Pflegerin wird freundlich. „Ich bin Schwester Christa. Komm, ich bringe dich zu ihm. Lass dich von den Verrückten hier nicht irre machen. Die stellen dauernd irgendwelchen Unsinn an.“
„Glaub ihr nicht!“, ruft Elfie. „Sie ist die Schlimmste von allen!“
„Wir sprechen uns noch“, sagt Schwester Christa. Sie fasst Amelie am Arm und führt sie hinaus auf den Flur.
„Was ist mit Marko passiert?“, fragt Amelie. Sie traut der Pflegerin nicht, doch es erscheint ihr am klügsten, sich kooperativ zu verhalten.
„Er hat einen Rückfall erlitten. Heute Nachmittag. Es ging ihm gut und wir dachten, er sei auf dem Weg der Besserung, doch dann ist er plötzlich zusammengebrochen. Wir versuchen alles, um ihn wieder zurückzuholen.“
„Warum wurde er nicht ins Krankenhaus gebracht?“
„Keine Sorge, wir sind hier auf alle Eventualitäten vorbereitet. Marko hat Glück, dass er in den Händen eines der besten Psychiater ist. Wenn jemand ihm helfen kann, dann Dr. Johannsen.“
Amelie folgt ihr in das Krankenzimmer. Markos Augen sind geschlossen. Wenn die Schläuche und das gleichmäßige Piepen der Apparate nicht wären, könnte man meinen, er schliefe friedlich.
Sie beugt sich über ihn. „Marko!“, flüstert sie. „Marko, kannst du mich hören?“
Eine Träne tropft auf seine Wange. Er zuckt leicht. Nur ein Reflex?
„Keine Sorge“, sagt Schwester Christa sanft. „Du bist gleich bei ihm!“
Noch bevor Amelie den Sinn dieses seltsamen Satzes begreift, spürt sie einen schmerzhaften Stich im Hals. Sie versucht, danach zu greifen, doch Schwester Christa hält ihren Arm fest.
Marko!, will sie rufen, doch aus ihrem Mund kommt nur ein Stöhnen, bevor sie in Dunkelheit versinkt.