Читать книгу Flucht aus der Würfelwelt - Karl Olsberg - Страница 8

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6.

Die Edgar-Johannsen-Privatklinik für Neuropsychiatrie liegt in einem vornehmen Villenviertel am Stadtrand. Amelie hat eine ganze Weile gebraucht, um mit dem Bus hierher zu kommen. Die Klinik ist in einem großen, alten Haus untergebracht, das um einen modernen Seitenflügel erweitert wurde. Früher muss hier einmal ein sehr reicher Mann gelebt haben. Amelie gelangt durch ein großes Tor über eine Einfahrt mit mehreren Parkplätzen in die Eingangshalle. Eine junge Frau sitzt hinter einem Tresen und blickt sie missmutig an.

„Was willst du?“, fragt sie.

„Mein Name ist Amelie Schiller. Ich möchte gern Dr. Johannsen sprechen.“

„Der Doktor hat momentan keine Zeit.“

„Bitte, es ist sehr wichtig!“

„Der Doktor ist ein vielbeschäftigter Mann. Wenn jeder, der hier einfach so vorbeikommt, sofort einen Termin bekäme, dann könnte er sich nicht mehr um seine Patienten kümmern. Das verstehst du doch, oder?“ Sie spricht wie mit einem Kleinkind.

Amelie improvisiert. „Aber es geht ja um einen Ihrer Patienten, Marko Leyenbrink. Ich habe Informationen, die für seine Behandlung sehr wichtig sein könnten.“

Die Empfangsdame verengt misstrauisch die Augen. „Was denn für Informationen?“

„Das kann ich nur Dr. Johannsen persönlich mitteilen.“

„Der Doktor hat momentan keine Zeit.“

Amelie versucht, ihren Ärger zu unterdrücken. „Dann warte ich eben hier, bis er Zeit hat!“

„Das kann aber ziemlich lange dauern. Der Doktor hat viel zu tun.“

„Das ist mir egal. Notfalls warte ich den ganzen Tag. Es ist wirklich wichtig!“

Die junge Frau blickt an die Decke, als flehe sie um himmlischen Beistand. „Du bist aber wirklich hartnäckig! Also schön, ich frage kurz nach, wann er einen Termin frei hat.“

Sie wählt eine Nummer auf ihrer Telefonanlage. „Dr. Johannsen? Hier ist ein Mädchen, das Sie sprechen möchte, eine Amelie Schiller …“

Der Gesichtsausdruck der Empfangsdame verändert sich, während sie die Antwort des Arztes hört. Ihre missmutige Miene wird durch Überraschung ersetzt.

„Ja, selbstverständlich, Herr Doktor. Ich sage es ihr.“

Nachdem sie aufgelegt hat, ist sie plötzlich viel freundlicher. „Du hast Glück, der Doktor hat gleich Zeit für Dich. Nimm doch bitte noch einen Moment dort drüben auf den Stühlen Platz.“

Amelie muss nicht lange warten. Ein muskulöser Mann mit Glatze, der weiße Arztkleidung trägt, kommt aus einer Seitentür auf sie zu.

„Amelie Schiller?“

Sie erhebt sich. „Dr. Johannsen?“

„Nein, ich bin Pfleger Bertram. Ich bringe dich zum Doktor.“

Der Mann ignoriert ihre ausgestreckte Hand und führt Amelie durch eine Tür mit dem Schild Zutritt nur für Klinikpersonal in einen neonbeleuchteten Gang. Am Ende befindet sich eine Metalltür, an der ein Warnschild angebracht ist:

Geschlossene Station – Sicherheitshinweise beachten!

1 Betreten nur in Begleitung eines Mitglieds des Pflegepersonals gestattet

2 Beruhigungsinjektion griffbereit halten

3 Patienten nicht reizen, nicht widersprechen

4 Renitente Patienten ruhigstellen und ins Beruhigungszimmer überführen

5 Gewalt nur im Notfall anwenden!

Bertram öffnet eine Tür mit der Aufschrift Klinikleitung auf der linken Gangseite. Dahinter liegt ein kleines Vorzimmer. Eine ältere Dame mit dunkler Brille blickt von ihrem Computer auf.

„Das ist Amelie Schiller“, erklärt er. „Ich soll sie sofort zu Dr. Johannsen bringen.“

Die Frau nickt Amelie zu. Sie deutet auf eine Tür neben ihrem Schreibtisch. „Geh bitte gleich durch. Der Doktor erwartet dich.“

Das Büro nebenan ist großzügig und modern eingerichtet. Bodentiefe Fenster geben den Blick auf einen kleinen Park mit alten Bäumen frei. An den Wänden befinden sich Regale mit Fachbüchern. Dr. Johannsen erhebt sich von seinem Schreibtisch. Er ist schmächtig, doch seine Augen mustern Amelie mit der Intensität eines Raubvogels. Seine Hakennase verstärkt diesen Eindruck noch.

„Amelie! Wie schön, dich kennenzulernen!“ Seine Hand fühlt sich schlaff an.

„Danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen, Dr. Johannsen. Ich bin wegen Marko Leyenbrink gekommen.“

„Aha, ach so. Ja, natürlich. Marko hat oft von dir gesprochen. Aber setz dich doch bitte.“

Amelies Herz pocht heftig. Er hat oft von mir gesprochen! Sie ignoriert die Aufforderung.

„Wie geht es ihm? Kann ich zu ihm?“

Dr. Johannsen runzelt die Stirn, als müsse er über die Frage nachdenken. Dann schüttelt er den Kopf. „Er darf momentan keinen Besuch empfangen. Leider.“

„Ich weiß, seine Mutter hat mir erzählt, dass er erst wieder zu sich selbst finden muss oder so. Aber ich bin sicher, dass ich ihm dabei helfen kann!“

Der Arzt blickt sie scharf an. „Du hast mit Markos Mutter gesprochen?“

„Ja. Sie hat mir gesagt, dass er in einer reizarmen Umgebung sein muss. Aber ich verstehe das nicht. Wenn er wieder zu sich selbst finden soll, dann ist es doch sicher am besten, wenn er in seiner vertrauten Umgebung ist, oder nicht?“

Dr. Johannsens Blick scheint sie abzutasten wie ein Radargerät. „Aha. Du bist also der Ansicht, dass du besser als ich weißt, wie Marko zu therapieren ist?“

„Nein … das hab ich natürlich nicht gemeint. Ich verstehe bloß nicht, wieso …“

„Setz dich bitte!“

Amelie folgt der Aufforderung.

„Also, dann werde ich dir jetzt erklären, was mit deinem Freund passiert ist. Unser Gehirn ist im Grunde nichts anderes als ein sehr leistungsfähiger biologischer Computer. Und wie jeder Computer kann auch das Gehirn Softwarefehler haben. Das nennt man dann eine Geisteskrankheit. Manchmal stürzt das Programm in unserem Kopf ab, und der Mensch fällt in ein Koma. Das kann zum Beispiel durch einen Schock ausgelöst werden, oder durch eine organische Erkrankung.“

„Marko ist ins Koma gefallen, weil mein Stiefvater ihm eine Überdosis irgendeines Mittels gespritzt hat!“

„Ach so. Das hat er gesagt. Aber man hat in seinem Körper keine Spuren eines solchen Mittels gefunden.“

Amelie kann kaum glauben, was sie da hört. „Heißt das etwa, sie zweifeln an Markos Aussage?“

Der Arzt beugt sich vor. „Wenn ich eines in vielen Jahren als Psychiater gelernt habe, liebe Amelie, dann dieses: Eine absolute Wahrheit gibt es nicht. Das, was wir als unsere Welt wahrnehmen, ist nicht die Realität. Es ist nur ein Bild, das sich unser Gehirn konstruiert. Dieses Bild kann die Wirklichkeit niemals exakt wiedergeben. Die Frage ist nur, wie groß die Abweichungen sind. Es gab mal einen griechischen Philosophen namens Platon, der hat in seinem berühmten Höhlengleichnis …“

Amelie muss sich selbst daran hindern, vom Stuhl aufzuspringen. „Entschuldigung, aber was hat griechische Philosophie mit Markos Zustand zu tun?“

„Was ich damit sagen will“, fährt Dr. Johannsen ungerührt fort, „ist, dass Marko vielleicht selbst nicht genau weiß, was mit ihm geschehen ist. Sein Gehirn wurde bei dem Koma offenbar geschädigt. Seit er aufgewacht ist, leidet er unter starken Wahrnehmungsverzerrungen. Du kannst es Halluzinationen oder Wahnvorstellungen nennen, wenn du willst. Auch seine Erinnerungen sind möglicherweise in Mitleidenschaft gezogen worden. Leider gibt es keine Möglichkeit, das genau festzustellen. Wir wissen lediglich, dass Marko glaubt, von deinem Stiefvater eine Spritze erhalten zu haben. Und wir wissen, dass er in seiner Praxis war, dort zusammengebrochen ist und Dr. Schiller sofort einen Krankenwagen gerufen hat. Alles andere ist für mich als objektiver Arzt zunächst mal eine Hypothese.“

Amelies ganzer Körper bebt vor Wut. „Sie … Sie haben ja keine Ahnung, was mein Stiefvater für ein Mistkerl ist!“, stößt sie hervor. „Er hat meine Mutter und mich jahrelang unter Drogen gesetzt. Er hat …“

Sie stockt. Dr. Johannsen mustert sie, wie ein Schmetterlingssammler einen seltenen Falter betrachten würde.

„Aha. Was genau hat er dir angetan, Amelie?“

Ihr wird plötzlich übel. „Ich … ich muss jetzt gehen“, sagt sie und steht auf.

Der Arzt erhebt sich ebenfalls. „Ach so. Aber du kannst jederzeit wiederkommen. Ich kann dir helfen, deine schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten. Ich kann dich von der Last befreien, die du mit dir herumträgst, und dir ein unbeschwertes Leben ermöglichen.“

Amelie blinzelt ihre Tränen beiseite. Sie hat plötzlich Angst vor diesem Psychiater. Ohne ein Wort verlässt sie den Raum, durchquert das Vorzimmer und tritt auf den Flur. Sie wendet sich nach rechts in Richtung des Empfangs, als plötzlich hinter ihr laute Stimmen zu hören sind.

„Achtung! Die Tür!“

„Sedieren! Sofort sedieren!“

„Ich versuch’s ja, aber ich kann ihn nicht …“

Amelie fährt herum. Die Metalltür mit dem Warnschild fliegt auf. Ein älterer Mann in einem Bademantel stürmt in den Flur, dicht gefolgt von Pfleger Bertram und einer älteren Frau in der weißen Kleidung einer Pflegerin.

„Sie haben ihn unter Drogen gesetzt!“, ruft der Mann. „Sie halten ihn gegen seinen Willen hier gefangen! Du musst ihn hier rausholen, Amelie!“

„Jetzt reicht es aber, Karl!“, brüllt Bertram. „Diesmal wird das ernste Konsequenzen haben, das schwöre ich dir!“ Er packt den Mann im Bademantel von hinten und umklammert seine Brust, während die Frau eine Spritze in den Oberschenkel des Patienten rammt.

Karl scheint das alles eher amüsant als bedrohlich zu finden. Er zwinkert Amelie zu. „Wir sehen uns!“

Seine Augen rollen nach oben und er sackt in sich zusammen. Mit vereinten Kräften zerren die Pfleger ihn zurück in den Patiententrakt.

„Bitte entschuldige!“, sagt Dr. Johannsen, der ebenfalls auf den Flur getreten ist. „Das hätte nicht passieren dürfen. Unsere Sicherheitsmaßnahmen sind eigentlich sehr gut. Aber manchmal schaffen es die Patienten doch, uns auszutricksen.“

„Wer … wer war das?“, fragt Amelie.

„Karl? Der ist schon lange mein Patient. Er leidet unter paranoider Schizophrenie. Er hält sich für Gott.“

„Für Gott?“

„Nun ja, nicht ganz, jedenfalls nicht im religiösen Sinn. Er ist Schriftsteller. Er glaubt, dass er sich all das hier nur ausgedacht hat – die Klinik, dich, mich. Wie ich schon sagte, unser Gehirn konstruiert sich manchmal seltsame Bilder der Wirklichkeit.“

Amelie nickt verwirrt. Sie lässt sich von Dr. Johannsen bis zum Ausgang begleiten. Gedankenverloren geht sie zur Bushaltestelle. Im Büro des Arztes war sie noch fest davon überzeugt, dass er sie anlügt. Doch auf einmal ist sie sich nicht mehr so sicher. Ein Schriftsteller, der glaubt, er habe sich die Welt ausgedacht, das ist wirklich verrückt. Aber für diesen Karl ist es wahrscheinlich eine ganz plausible Sichtweise.

Was, wenn auch sie sich irrt? Was, wenn das, was sie für die Wirklichkeit hält, gar nicht die Realität ist – jedenfalls nicht in jeder Hinsicht? Auch ihre Mutter lebt offensichtlich in ihrer eigenen Welt, in der ihre Angst die Wahrnehmung verzerrt. Wie sonst wäre es zu erklären, dass sie Amelie belogen hat?

Enttäuschung macht sich in ihr breit, als ihr klar wird, dass sie nichts tun kann, um Marko zu helfen. Sie kann nur hoffen, dass Dr. Johannsen trotz seiner merkwürdigen Art ein guter Arzt ist. Den ganzen Weg hierher hätte sie sich sparen können. Immerhin weiß sie jetzt, dass ihr Stiefvater immer noch hinter Schloss und Riegel sitzt. Am besten, sie fährt nach Hause ruft ihre Mutter an.

Als sie schon im Bus sitzt, läuft noch einmal die Szene in der Klinik vor ihrem geistigen Auge ab. Sie erinnert sich an die Worte des Mannes im Bademantel: Sie haben ihn unter Drogen gesetzt! Sie halten ihn gegen seinen Willen hier gefangen! Du musst ihn hier rausholen, Amelie!

Amelie erstarrt. Dieser Karl mag ja verrückt sein, aber woher kannte er ihren Namen?

Flucht aus der Würfelwelt

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