Читать книгу Flucht aus der Würfelwelt - Karl Olsberg - Страница 6

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4.

Amelie schreckt aus dem Schlaf. War da eine Stimme?

„Marko?“, fragt sie in die Dunkelheit.

„Hmmwas?“

„Entschuldige, Mama. Ich habe schlecht geträumt.“

Während sie noch versucht, sich an den Traum zu erinnern, lösen sich die Erinnerungen daran auf wie Nebel im Sonnenlicht. Sie versucht, wieder einzuschlafen, doch es will ihr nicht gelingen. Das Gefühl, dass Marko in Gefahr ist und ihre Hilfe braucht, lässt ihr Herz heftig schlagen. Sich nur zu verstecken hält sie nicht länger aus. Sie muss zu ihm! Aber ihre Mutter wird das niemals erlauben.

Nach einer oder zwei ruhelosen Stunden fasst sie einen Plan. Lautlos klettert sie aus dem Bett und zieht sich an. Sie fühlt sich schlecht, als sie hundert Euro aus der Handtasche ihrer Mutter nimmt, aber ohne Geld kann sie nicht fortgehen. Im Badezimmer schreibt sie einen Zettel: Bin bei Marko. Er braucht mich. Mach dir keine Sorgen, ich passe auf mich auf. Das Geld zahle ich von meinem Taschengeld zurück. Verzeih mir! Amelie.

Es gelingt ihr, die Tür der Ferienwohnung lautlos zu öffnen und hinter sich zu schließen. Draußen ist es noch dunkel. An einer Bushaltestelle setzt sich auf die Bank. Der nächste Bus in Richtung Bahnhof fährt erst in einer halben Stunde. Jede Minute rechnet sie damit, ihre Mutter und Großeltern mit vor Wut geröteten Gesichtern heraneilen zu sehen. Doch nichts dergleichen geschieht.

Als sich die Bustür hinter ihr schließt, atmet Amelie erleichtert auf. Im selben Moment überkommen sie starke Zweifel. Ist es wirklich klug, sich Marko zu nähern? Ist es nicht genau das, worauf ihr mörderischer Stiefvater wartet? Was, wenn sie in eine Falle tappt? Doch für solche Überlegungen ist es nun zu spät. Es gibt kein Zurück mehr.

Der kleine Bahnhof des Ferienorts hat keinen Fahrkartenschalter. Sie kauft am Automaten eine Fahrkarte bis zum Umsteigebahnhof. Dort löst sie im Servicecenter ein Zugticket nach Hause. Niemand stellt ihr Fragen. Eine Viertelstunde später sitzt sie in einem Großraumwagen, der größtenteils von einer lärmenden Schulklasse belegt ist. Hier fällt sie nicht weiter auf. Während der Fahrt starrt sie aus dem Fenster und versucht, sich einen Plan zurechtzulegen. Aber viel fällt ihr nicht ein, außer dass sie so schnell wie möglich mit Marko sprechen will. Wenn sie doch bloß ihr Handy hätte, um ihm mitzuteilen, dass sie kommt! In der Handtasche ihrer Mutter war es nicht, und in der Eile heute Morgen hatte sie keine Zeit, danach zu suchen.

Endlich erreicht der Zug sein Ziel. Amelie nimmt sich ein Taxi und nennt dem Fahrer Markos Adresse. Ihr Herz pocht heftig, als sie schließlich vor seiner Haustür steht. Ihre Mutter hatte gesagt, dass die Polizei jemanden zu Markos Schutz abgestellt hat, doch sie kann keine Beamten entdecken. Vielleicht parken sie irgendwo unauffällig in der Nähe.

Sie fasst sich ein Herz und drückt auf das Klingelschild mit dem Namen Leyenbrink.

„Ja bitte?“ Es ist die Stimme von Markos Mutter.

„Hallo Frau Leyenbrink, hier ist Amelie. Ich möchte zu Marko.“

„Amelie! Es tut mir leid, aber Marko … ist nicht da.“

„Darf ich trotzdem reinkommen?“

„Ja, natürlich.“

Der Türsummer erklingt. Amelie hastet die Treppe hinauf. Frau Leyenbrink steht an der geöffneten Wohnungstür. Sie lächelt und umarmt Amelie.

„Schön, dass du kommst! Wo bist du gewesen? Marko hat sich Sorgen um dich gemacht.“

Er hat sich Sorgen gemacht! Ein warmes Gefühl erfüllt sie.

„Die Polizei hat gesagt, es ist besser, wenn wir uns eine Weile versteckt halten und niemandem sagen, wo wir sind.“

Markos Mutter macht ein überraschtes Gesicht. „Die Polizei? Warum denn das?“

„Mein Stiefvater hat geschworen, sich an meiner Mutter und mir zu rächen.“

„Das kann ich mir denken. Aber er sitzt ja zum Glück im Gefängnis.“

„Aber … er ist doch ausgebrochen!“

„Ausgebrochen? Wie kommst du denn darauf?“

„Die Polizei hat meine Mutter angerufen. Ein Hauptkommissar Keller, glaub ich. Er hat gesagt, dass mein Stiefvater aus der Untersuchungshaft geflohen ist. Er meinte, sie stellen jemanden zum Schutz von Marko ab, haben aber nicht genug Leute, um auch uns zu beschützen. Deshalb haben wir uns versteckt.“

Markos Mutter runzelt die Stirn.

„Seltsam. Davon weiß ich gar nichts. Am besten, wir rufen mal bei der Polizei an.“

Es stellt sich schnell heraus, dass Amelies Stiefvater immer noch in Untersuchungshaft sitzt. Kein Ausbruch. Keine Gefahr. Kein Grund, sich zu verstecken. Aber warum hat ihre Mutter sie angelogen?

Vielleicht wollte sie einfach nicht wieder in ihre Wohnung zurück. Die Jahre mit ihrem zweiten Mann waren für sie beide die Hölle. Möglicherweise hat sie es nicht über sich gebracht, in dieses Leben zurückzukehren, selbst wenn er nicht mehr da ist. Zu viel hätte sie an ihn erinnert. Sie hat sich nicht getraut, die Wahrheit zuzugeben, also hat sie den Ausbruch erfunden. Amelie sollte jetzt wütend auf ihre Mutter sein, doch sie empfindet nur Mitleid.

„Sollen wir deine Mutter anrufen?“, fragt Frau Leyenbrink.

Amelie schüttelt den Kopf, halb aus Trotz, halb, um ihrer Mutter die Peinlichkeit zu ersparen. „Nein, das ist nicht nötig. Das ist sicher nur ein Missverständnis. Ich spreche später mit ihr. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gern hier warten, bis Marko aus der Schule kommt.“

Die Stirn seiner Mutter legt sich in Sorgenfalten. „Marko ist nicht in der Schule.“

Amelie bekommt den nächsten Schreck. „Was? Wo ist er dann?“

„In einer Spezialklinik. Er … sein Gehirn wurde bei dem Koma möglicherweise … beschädigt. Sein Arzt Dr. Johannsen sagt, es gibt eine gute Chance, dass er wieder völlig gesund wird, aber er muss noch eine Zeitlang dort bleiben.“

„Kann ich ihn sehen?“

„Dr. Johannsen hält es für besser, wenn er ein paar Tage allein ist. Er hat es mir so erklärt, dass Markos Gehirn erst wieder lernen muss, sich in seinem Körper zurechtzufinden. Dazu braucht es eine möglichst reizarme Umgebung, wie er es genannt hat. Keine Störungen, keine Aufregung, kein Besuch. Er hat versprochen, mir mitzuteilen, sobald ich Marko besuchen kann.“

Die Enttäuschung fühlt sich an wie ein Schlag in die Magengrube.

„Aber ich muss ihn sehen!“, sagt Amelie, obwohl sie weiß, dass es lächerlich klingt.

„Ich verstehe dich ja. Er war auch sehr enttäuscht, dass du nicht in der Schule warst. Aber glaub mir, es ist besser, wenn er noch eine Weile die Chance hat, zu sich selbst zu finden.“

„Was meinen Sie damit? Was ist denn nur mit ihm los? Als wir miteinander chatteten, hatte ich das Gefühl, es geht ihm gut.“

Frau Leyenbrink zögert einen Moment, bevor sie antwortet.

„Ich weiß, dass er dir vertraut, Amelie. Deshalb vertraue ich dir auch und sage dir etwas, das niemand sonst wissen darf: Marko leidet unter Halluzinationen. Er … er sieht Dinge, die nicht da sind. Figuren aus seinem Lieblingscomputerspiel.“

Amelie hat schon von dem Spiel gehört. Fast alle an ihrer Schule spielen es. Sie selbst hat sich allerdings nie viel aus Computerspielen gemacht.

„Er sieht Wesen aus einem Spiel?“

„Ja, so hat er es mir erklärt. Komm mit, ich zeig dir etwas.“

Sie führt Amelie in Markos Zimmer. Auf einem Schreibtisch steht ein Laptop, daneben türmen sich DVDs und Spieleverpackungen. Frau Leyenbrink deutet auf ein Poster an der Wand mit einem merkwürdigen grünen Kastenwesen darauf.

„Vor ein paar Tagen kam er ganz aufgeregt zu mir und hat mir gesagt, dass das Wesen dort plötzlich verschwunden war“, erklärt Markos Mutter.

„Verschwunden?“

„Für ihn sah es so aus, als sei das Plakat leer, bis auf den grünen Hintergrund, das Logo des Spiels und diesen Spruch. Er hat mich gebeten, mitzukommen und es mir anzusehen. Als wir dann hier in seinem Zimmer standen, war alles wieder normal.“

„Kann er sich nicht einfach getäuscht haben? Vielleicht hatte er einen Alptraum oder so.“

„Ja, das hab ich auch gedacht. Aber dann hat er mir von weiteren Halluzinationen erzählt. Es gab Vorfälle in der Schule. Er hat zwei Jungs verprügelt, weil er dachte, sie seien Monster. Da wusste ich, dass es stimmt.“

„Das was stimmt?“

„Was Dr. Johannsen mir gesagt hat. Er ist Psychiater. Er hat Marko im Krankenhaus besucht, und dann war er hier und hat mit ihm gesprochen. Anschließend hat er mir mitgeteilt, dass Marko höchstwahrscheinlich unter Halluzinationen leidet. Ich wollte es erst nicht glauben, aber schließlich musste ich einsehen, dass er recht hat.“

Amelie hat ein merkwürdiges Gefühl im Bauch. Irgendetwas stimmt hier nicht. Sie starrt auf das Poster, als könne der Kriecher ihr verraten, was los ist. Dann fasst sie einen Entschluss.

„In welcher Klinik ist Marko?“

„In der Edgar-Johannsen-Privatklinik für Neuropsychiatrie. Warum möchtest du das wissen?“

„Ich möchte gern mit diesem Dr. Johannsen sprechen.“

„Das verstehe ich, aber ich fürchte, es wird nichts nützen. Glaub mir, es fällt auch mir nicht leicht, einfach nur hier zu sitzen und zu warten, bis es ihm besser geht. In den ersten Tagen hab ich es nicht ausgehalten und bin zu meiner Schwester gefahren. Ich telefoniere jeden Tag mit Dr. Johannsen. Er ist ein guter Arzt, da bin ich sicher, auch wenn er einen etwas merkwürdigen Eindruck macht. Er sagt, dass es Marko jeden Tag ein bisschen geht. Bald werden wir ihn besuchen können.“

Auch Ärzte können lügen, denkt Amelie, doch sie spricht es nicht aus. Stattdessen sagt sie: „Ich gehe dann jetzt nach Hause und telefoniere mit meiner Mutter. Vielen Dank, Frau Leyenbrink.“

„Gern geschehen. Grüß bitte deine Mutter von mir.“

„Das mache ich.“

Flucht aus der Würfelwelt

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