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Am großen Fluss

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Nach ihrer Ankunft ruhten sie sich erst einmal zwei Tage aus und genossen die ihnen entgegengebrachte Gastfreundschaft dieser Menschen.

Ihre Ankunft hatte natürlich bei den Leuten am Fluss große Überraschung, aber auch Freude über den Besuch ausgelöst. Zwar gab es immer wieder wanderlustige Menschen, die sich auf weite Reisen begaben, aber sehr oft kamen Besucher nicht zu ihnen. Als sie erfuhren, wo die Gruppe der jungen Wanderer herkam, musste diese erzählen, wie es bei ihnen aussah, wie man dort lebt, welches Wild man in ihrer Heimat jagen konnte und welche essbaren Pflanzen, Früchte und Wurzeln vorkamen.

Als Kaar von ihrem Vorhaben berichtete, bis an die große Eismauer wandern zu wollen, schüttelten die Männer der Sippe den Kopf.

„Ich rate euch davon ab, in diesem Sommer noch von hier aus direkt nach Norden zu gehen“, riet ihnen ein alter Mann. „Es ist von hier aus noch ein sehr weiter Weg bis zur großen Eismauer und ihr werdet auf gar keinen Fall vor dem Beginn des Winters ankommen. Um bis zur großen Eismauer zu gelangen, müsst ihr noch etwas mehr als fünf Mondzyklen noch Norden gehen. Außerdem müsst ihr einige große Gebirge überqueren. Ihr würdet mitten im Winter ankommen, wenn dort kein Mensch überleben kann.“

Kaar und seine Freunde machten enttäuschte Gesichter.

„Wenn ihr Mammute jagen wollt“, fuhr der alte Mann fort, „dann braucht ihr nicht bis zur großen Eismauer zu wandern. Die gibt es auch hier. Gar nicht so weit entfernt. Sie kommen im Winter immer in die Täler des Gebirges nordwestlich von hier.“

„Hast du denn die Mammute schon einmal gejagt?“

Statt einer Antwort stand der Mann auf, ging zu seinem Schlafplatz und kam mit einem großen Stück Elfenbein wieder.

„Das ist ein Stück aus einem ihrer Stoßzähne. Nein, gejagt habe ich noch kein Mammut. Ich war in jungen Jahren mit einem Freund unterwegs und wir waren zu wenige, um ein so großes Tier zu erlegen. In dem Gebiet leben aber einige der alten Menschen und die jagen manchmal das Mammut. Ihr seid sieben Jäger, ihr könntet es schaffen, eines zu erlegen. “

Kaar beriet sich mit seinen Freunden. Dass sie den Weg zur großen Eismauer vielleicht in diesem Sommer nicht mehr schaffen würden, das war ihnen schon aufgegangen, als ihnen klar geworden war, wie lange sie für ihren Weg bis zu der Sippe am großen Strom gebraucht hatten. Sie hatten die Entfernung unterschätzt.

Deshalb rechneten sie inzwischen schon damit, dass sie sich irgendwo eine Höhle zum Überwintern würden suchen müssen, um im nächsten Frühjahr zur großen Eismauer aufzubrechen. Wenn sie dann den Rand des Eises erreichten, würden sie wieder nach Süden zurückzukehren. Dass es aber noch so weit war, das hatten sie eigentlich nicht erwartet.

En stellte seinen Freunden die entscheidende Frage: „Was wollten wir in erster Linie bei unserem Aufbruch? Die Eismauer erreichen oder Mammute jagen?“

Einstimmig kam die Antwort von seinen Freunden: „Mammute jagen.“

„Dann sollten wir dem Rat des alten Mannes folgen und nach Nordwesten gehen, wo die Mammute auch sein sollen.“

Nachdem alle zustimmend genickt hatten, nahm Kaar den alten Mann noch einmal beiseite und ließ sich den Weg genau erklären.

„Wir setzen euch hier mit unseren Booten über den großen Fluss. Dann müsst ihr dem Strom aufwärts nach Nordwesten folgen. Ihr kommt danach zu einem ersten Fluss, der aus Norden kommend in den großen Strom mündet und danach zu einem Zweiten. Diesem zweiten Fluss müsst ihr wieder aufwärts folgen. Dann kommt ihr zu einer Höhle, in der eine große Gruppe der Unsrigen lebt. Die kennen sich in der Gegend dort gut aus und werden euch sagen können, wo ihr euch am besten niederlassen könnt.“

Kaar staunte nicht schlecht. „Es leben noch mehr Menschen unserer Art hier in der Gegend?“

„Ja, wie schon gesagt, in einer Höhle an dem zweiten Fluss.“

Kaar wollte sich schon bedanken, aber der Alte fuhr fort: „Ihr befindet euch dort an der Südflanke eines großen Gebirges, das von Südwesten nach Nordosten verläuft und das die eisigen Winde aus dem Norden abhält. Die Bewohner der Gegend dort werden euch sagen können, wo ihr gute Jagdgründe und eine geeignete Höhle finden könnt. Sucht euch in den Bergen dort ein Tal, das vor den Nordwinden geschützt ist und wenn ihr euch irgendwo niedergelassen habt, braucht ihr nur noch auf die Ankunft der Mammute zu warten. Auf meiner Wanderung habe ich sehr viele geeignete Höhlen in den Tälern dieses Gebirges gesehen.“

Kaar bedankte sich und wollte seine Freunde gleich zum Aufbruch überreden.

Wieder einmal aber ging das nicht so einfach. Die Leute vom großen Fluss waren dabei, ihnen zu Ehren ein großes Fest zu organisiert. Bevor dieses Fest endete, konnten sie natürlich nicht fortgehen. Außerdem beobachtete Kaar mit Erstaunen, dass nun auch Raf und Sig seit einiger Zeit ständig von zwei Mädchen begleitet wurden. Auf dem Fest wurde es dann offenkundig:

Raf und Sig hatten, wie En, eine Gefährtin gefunden.

Auf diesem Fest bemerkte Kaar, dass auch ihn ein hübsches Mädchen aus der Sippe am großen Fluss ständig verstohlen musterte. Auch er blickte, immer wenn sie es nicht bemerkte, zu ihr hinüber. Wenn sich aber ihre Augen zufällig trafen, wurde er verlegen und rot und wandte seinen Blick ab. Er verfluchte sich zwar innerlich für seine Schüchternheit, konnte aber nichts dagegen tun.

Zwei Tage nach dem Fest konnten sie endlich aufbrechen. Ihre Gruppe hatte sich um Eta, Rafs neue Gefährtin und Lia, Sigs Gefährtin, vergrößert. Die beiden waren, genau so wie vor einigen Monden Mona, wild entschlossen, mit ihnen zu gehen. So waren sie zu zwölft, als sie aufbrachen.

Ihre Gastgeber brachten sie mit ihren Booten über den Fluss, und Kaar sah sich dabei diese Boote interessiert an. Das Prinzip der Konstruktion ähnelte dem, das auch sie für den Bau ihres Bootes verwendete hatten. Über einem stabilen korbähnlichen Geflecht war eine Haut aus Leder gezogen und mit Birkenpech bestrichen worden. Nur war das Besondere an dieser Konstruktion, dass lange schmale Leisten als Stützen für dieses Korbgeflecht eingearbeitet worden waren und die Boote nicht rund, sondern lang und schmal waren. Mehrere Männer saßen darin und bestimmten die Richtung der Fahrt durch kräftige Paddelschläge.

Sie verabschiedeten sich dankbar von ihren Gastgebern und wanderten, dem Rat des alten Mannes folgend, am anderen Ufer des Flusses in Richtung Nordwesten.

Seit sie die Leute vom großen Fluss verlassen hatten, ärgerte Kaar sich still über sich selbst. Bis auf Bor, den jüngsten in ihrer Gruppe, hatten jetzt alle eine Gefährtin gefunden, nur er noch nicht. Warum nur hatte er auf die freundliche Annäherung des Mädchens bei den Leuten am großen Fluss so schroff reagiert? Er war doch auch an ihr interessiert gewesen. Warum nur hatte er sich so abweisend verhalten? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er mit Männern, egal ob alten oder jungen, gut auskam und fast immer, wie bei seinen Freunden, das Sagen hatte. Er fand bei Männern immer den richtigen Ton und die richtigen Worte, um mit ihnen gut auszukommen oder sie von seiner Meinung zu überzeugen. Auch bei älteren Frauen hatte er keine Probleme.

Sobald aber ein Mädchen oder eine junge Frau in seine Nähe kam, vor allem wenn sie hübsch war und er sich von ihr angezogen fühlte, wurde er schüchtern und verlegen und konnte sich nicht vernünftig ausdrücken. Zu allem Überfluss wurde er meistens auch noch rot und ärgerte sich darüber. Um seine Schüchternheit und Verlegenheit zu überspielen, reagierte er schroff und abweisend, was die Mädchen dann dazu veranlasste, ihn einfach nicht mehr weiter zu beachten.

Bei diesem Mädchen auf dem Fest war es wie immer gewesen. Er fand sie sehr hübsch und hatte sie immer wieder heimlich angesehen. Irgendwann hatten sich ihre Blicke gekreuzt und sie hatte ihn angelächelt. Anstatt aber zurück zulächeln, hatte er seinen Blick abgewandt. Als sie dann zu ihm herüber gekommen war und sich mit ihm unterhalten wollte, war er rot geworden und hatte sie mit einer schroffen Bemerkung brüskiert. Er sah noch ihren erstaunten Blick und wie sie danach mit den Schultern gezuckt und sich von ihm abgewendet hatte.

Er nahm sich fest vor, bei dem nächsten Mädchen, das ihm gefiel, zu lächeln, egal wie rot er werden würde. Und wenn ihm wieder nichts Vernünftiges einfallen würde, was er ihr sagen könnte, einfach den Mund zu halten.

Sie marschierten am Ufer des großen Flusses entlang immer weiter nach Nordwesten. Der Weg war genau so, wie ihn der alte Mann beschrieben hatte. Sie überquerten ohne große Mühe den Ersten aus dem Norden kommenden kleinen Nebenfluss und wanderten weiter zum Zweiten, dessen Verlauf sie dann in die Berge hinein folgten.

Das Gelände war wieder sehr mühsam und sie kamen nur langsam voran. Das waren sie aber von ihrer bisherigen Wanderung schon gewohnt. Wie es ihnen der Alte beschrieben hatte, folgten sie dem Lauf des Flüsschens und bogen dann in das Tal eines aus Westen kommenden kleinen Nebenflusses ab.

Es war ein kühler, aber klarer Herbsttag, als sie hinter einer Biegung des Flüsschens unerwartet am Fuße eines steil aus dem Tal aufragenden Felsens auf eine Gruppe Frauen stießen. Die saßen auf einer Wiese vor dem Eingang einer Höhle und waren damit beschäftigt, Häute erlegter Tiere zu schaben.

Fünfunddreißigtausend Jahre vor unserer Zeit

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