Читать книгу Die Mode Mafia - Karl-Wilhelm Vordemfelde - Страница 5
ОглавлениеExodus
„Nein, Lina, den Alten Fritz können wir nicht mitnehmen. Er stand zwar zwanzig Jahre auf meinem Schreibtisch, aber wir haben keinen Platz in unserem Auto für diese große Porzellanfigur. Ich bin jetzt schon traurig, wenn der Alte Fritz nicht mehr bei uns ist. Er war immer ein großes Vorbild für mich, ein echter Herr und vorausschauender Herrscher. Beeile dich bitte jetzt. Der Kanonendonner auf der anderen Seite der Oder wird immer stärker. Wenn wir nicht schnell packen und losfahren, dann überrollt uns der Russe noch. Ob wir das dann überleben, das weiß nur der Herrgott.“
Wilhelm Vordemfelde befand sich mit seiner sechs Jahre jüngeren Schwester Karoline, genannt Lina, in der Dürerstraße in Stettin in seinem schönen Wohnhaus. Er wohnte seit 1916 mit seiner Schwester zusammen in Stettin, die ihm seitdem den Haushalt führte. Beide verband schon seit ihrer Jugend eine innige Geschwisterliebe. Sie waren aufgewachsen mit sechs weiteren Geschwistern, zwei Schwestern und vier Brüdern, in Westerhausen in der Nähe von Osnabrück und hatten ihre Eltern leider früh verloren. Deshalb mussten die Geschwister eng zusammenhalten und sich gegenseitig helfen und erziehen. Für Lina war es selbstverständlich, ihrem Bruder Wilhelm nach Stettin zu folgen und ihm dort den Haushalt zu führen. Beide blieben ihr Leben lang unverheiratet und waren inniglich miteinander verbunden.
Wilhelm hatte das Geschäft mit Textilien bei einem Textileinzelhändler in Düren in Westfalen gelernt. Die Ausbildung dauerte vier Jahre und war eine harte Zeit für ihn. Er wohnte im Haushalt des Unternehmers oben in einer kleinen Stube unter dem Dach, die nicht geheizt war, und aß am Esstisch der Familie mit. Dafür erhielt er andererseits keine Ausbildungsvergütung und musste mit dem wenigen, was er von zu Hause bekam, durchkommen. Aber Wilhelm war intelligent und zäh. Auch verstand er die kaufmännischen Belange dieses Berufes sehr gut, sodass er für seinen Lehrherrn bald ein unverzichtbarer guter Verkäufer war. Bekleidung war sein Leben, und er pflegte auch einen sehr ordentlichen Bekleidungsstil. Seine Anzüge und Hosen waren immer picobello gereinigt und gebügelt. Da er vom Wuchs recht klein war, hängte er sich manchmal wie zu einem Klimmzug an den Schrank, um durch das Hängen etwas an Größe zu gewinnen. Das klappte leider nicht, er blieb klein, wurde aber später ein großer Unternehmer.
Nach seiner Ausbildung im Einzelhandel war er viele Jahre als selbstständiger Handelsvertreter auf Reise gewesen und hatte an jeden, der sie haben wollte, Anzüge verkauft. Die industrielle Herstellung von Anzügen war Anfang des Jahrhunderts erfunden worden. Vorher ging man zum Schneider und ließ sich dort einen Anzug anmessen und schneidern. Wilhelm Vordemfelde verkaufte diese neue Konfektion an den Einzelhandel mit viel Erfolg. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 war er Reisender für eine Firma aus Stettin. Zu seinem zunächst Unglück, dann aber Glück starb sein Chef zwei Jahre später im Jahr 1916 an einem Schlaganfall. Um nicht arbeitslos zu werden, kaufte Wilhelm der Witwe die Firma ab und hatte damit sein eigenes Geschäft. Er nannte die Firma Wilvorst als Abkürzung seines Namens und der Stadt, in der er wohnte, Wilhelm Vordemfelde, Stettin.
Da sein Bruder August Vordemfelde bereits vier Jahre vorher eine Firma in Aschaffenburg eröffnet hatte, telegrafierte er seinem Bruder nach dem Kauf der Firma: „Hallo August, jetzt habe ich auch eine Firma für die Herstellung von Anzügen. Ich mache Dir jetzt Konkurrenz. Meine Anzüge werden besser sein als Deine, darauf kannst du wetten.“ In den kommenden neunundzwanzig Jahren baute Wilhelm dann aus kleinen Anfängen einen großen Betrieb in Stettin auf mit mehr als 1250 Beschäftigten und wurde einer der größten Konfektionäre für Anzüge in ganz Deutschland.
Lina war immer an seiner Seite und unterstützte ihn nicht nur im Haushalt, sondern auch bei allen wichtigen Entscheidungen, die während ihrer Zeit in Stettin getroffen werden mussten. Ein Meilenstein der Jahre in Stettin war für Wilhelm der Bau seiner eigenen Fabrik im Jahre 1930. Der Betrieb war nach damaliger Vorstellung der modernste Fertigungsbetrieb für Herrenbekleidung in Deutschland, und von dort aus wurden Anzüge nach ganz Deutschland und in alle Welt verkauft.
Bis dahin hatte man einen sogenannten Verlegerbetrieb. Man entwarf zwar die Kollektionen und verkaufte Anzüge und Sakkos an seine Kunden. Nach dem Zuschnitt wurde die Rohware mit den notwendigen Zutaten aber an Zwischenmeister weitergereicht, die die eigentliche Produktion vornahmen. Wenn die Ware fertig war, kam sie zurück, wurde kontrolliert und an die Kunden versandt. Jetzt hatte Wilhelm jedoch seinen eigenen Betrieb und die Produktion damit unter eigener Kontrolle. Es wurde zugeschnitten, genäht und gebügelt in den eigenen Räumlichkeiten. Dadurch wurde die Qualität wesentlich besser, denn sie wurde von erfahrenen Meistern kontrolliert, die ihrerseits dem Chef berichteten. Man konnte auch schneller auf kurzfristige Marktentwicklungen reagieren und rasch neue modische Trends aufgreifen.
Lina riet Wilhelm auch, das schöne Wohnhaus in der Dürerstraße zu bauen, in dem sie und Wilhelm viele Jahre sehr glücklich waren. Sie waren Geschwister, aber sie lebten zusammen wie Eheleute und liebten sich sehr. Sie pflegten auch einen gediegenen Haushalt und hatten viele Gäste aus der Kaufmannschaft und auch der Politik. Wilhelm war aber ein sehr gläubiger Mensch und pflegte gerade zu den Kirchen von Stettin einen überaus intensiven Kontakt. Jeden Sonntag gingen Lina und Wilhelm in den Gottesdienst, und Wilhelm stiftete auch ein großes, buntes Fenster für die Stadtkirche in Stettin.
Jetzt Ende Februar 1945 war aber alles anders. Adolf Hitler hatte 1939 Deutschland und die Deutschen in einen großen vaterländischen Krieg geführt. Nach anfänglichen Erfolgen in Polen und Frankreich wurde der Krieg immer mehr zu einer Materialschlacht und einem mörderischen Unterfangen. Viele redliche Menschen, die zu Anfang des Krieges noch zu Adolf Hitler hielten, verloren in den Kriegsgeschehen ihr Hab und Gut und viele Soldaten und Zivilisten auch ihr Leben. Das Kriegsglück wendete sich zuungunsten Deutschlands, und im Frühjahr 1945 war der Krieg nahezu verloren. Die Russen standen mit ihrer Artillerie und Panzern vor Stettin auf der anderen Seite der Oder und wollten demnächst übersetzen, um Stettin und später Berlin einzunehmen.
Wilhelm und Lina standen in ihrem Wohnzimmer im Haus in der Dürerstraße und hatten entschieden, dass sie Stettin so schnell wie möglich verlassen wollten. Alles, was sie in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten aufgebaut hatten, würde verloren sein. Der schöne Betrieb würde zerstört werden oder an andere Eigentümer übergehen, und sie beide, wie auch die vielen Mitarbeiter von Wilvorst, hatten keine Zukunftsperspektive.
Glücklicherweise hatte Wilhelm trotz der Kriegsjahre sich als Unternehmer seinen Dienstwagen erhalten können. Der Horch stand vor der Tür und sollte vom getreuen Fahrer Tiefenbach gefahren werden und sie beide, Wilhelm und Lina, in den Westen bringen. Mit ihnen wollten viele Mitarbeiter des Unternehmens ebenfalls in den Westen flüchten. Alle hatten Angst vor den Russen, die schon bei ihrem Einmarsch in Ostpreußen und später in Ostpommern viele schreckliche Dinge begangen hatten. Keine Frau fühlte sich mehr sicher, und schaurige Geschichten wurden von Mund zu Mund weitergetragen.
Was konnten Wilhelm und Lina von ihrem Hausstand in der Dürerstraße in dem kleinen Auto mitnehmen? Der Alte Fritz war es jedenfalls nicht. Die Porzellanfigur war fast einen Dreiviertelmeter groß und würde die gefahrvolle, lange Reise in den Westen sicher nicht heil überstehen. Man nahm das Nötigste mit, insbesondere warme Winterbekleidung, Mäntel, Pullover und gestrickte Socken. Alles, was warm hielt, wurde mitgenommen, denn der Winter 1945 war kalt und abweisend. Es gab viel Schnee, und die Straßen waren vereist. Wilhelm nahm aber auch die wichtigsten Unterlagen aus der Firma mit, wie den Handelsregister-Auszug und die Jahresabschlüsse der vergangenen Jahre und alle wichtigen Verträge, die man eventuell auch später wieder gebrauchen könnte. Korrekt wie er war, hatte er auch alle Türen der Firma sorgfältig verschlossen. Das Schlüsselbund nahm er mit als Andenken an seine Firma. Dass die Russen dann jede Tür aufbrechen würden, war ihm offensichtlich egal.
Und dann war es so weit. Tiefenbach ließ den Motor des guten Horch an. Wilhelm und Lina nahmen auf der Rücksitzbank Platz, guckten ein letztes Mal zu ihrem schönen Haus in der Dürerstraße und fuhren los. Es ging zunächst zur Firma in die Turnerstraße. Dort warteten fast fünfzig Mitarbeiter teilweise mit Autos und Motorrädern, aber zum großen Teil mit Pferdefuhrwerken auf ihren Chef, und nachdem man sich über die Route geeinigt hatte, fuhr der große Treck der Wilvorster aus der Stadt hinaus gen Westen. Ein Wiedersehen in Stettin sollte es für alle nicht mehr geben.
Die Fahrt war gefahrvoll. Der Winter 1945 war hart, kalt und unerbittlich. Die Straßen waren verschneit und schlecht zu befahren. Außerdem waren nicht nur die Wilvorster unterwegs, sondern Hunderttausende versuchten mit Hab und Gut aus dem Osten Deutschlands in den Westen zu gelangen. Viele waren schon aus dem fernen Ostpreußen wochenlang unterwegs und hatten teilweise schlimme Erfahrungen machen müssen. Viele Menschen und gerade Kinder litten sehr unter der Kälte, hatten wenig zu essen, und überall an den Wegen lagen verhungerte Leichen – niemand kümmerte sich darum, sie wegzubringen und zu begraben. Der Feind hatte außerdem die absolute Lufthoheit. Immer wieder flogen Jagdflugzeuge der Russen und später auch der Amerikaner über sie hinweg und beschossen mit ihren Bordkanonen die armen Menschen, die über die kalten Straßen in den Westen flüchteten.
Wilhelm und Lina kamen aber dennoch ganz gut voran und waren nach drei Tagen in Malchow in Mecklenburg angekommen. Dort wurde Zwischenstation gemacht und der Treck neu geordnet. Sehr intensiv kümmerten sich die Prokuristen Wels und Hecker um die armen Mitarbeiter, die teilweise zu Fuß den beschwerlichen Weg machen mussten. Glücklicherweise hatten sie kaum Verluste in diesen Tagen gehabt, und auch die Versorgungssituation mit Lebensmitteln war dank guter Planung in Ordnung. Keiner musste hungern, und warme Kleidung war in ausreichender Menge vorhanden.
Nach einigen Tagen brach man dann wieder auf und versuchte, in einer weiteren Etappe die Elbe zu erreichen. Man erreichte diesen großen deutschen Fluss nach fünf Tagen und setzte über die noch vorhandene Brücke auf die Westseite der Elbe über. Dort fühlte man sich vor den Russen sicher. Man hatte gehört, dass der Westen von den Amerikanern gehalten werden sollte und die Russen nur bis zur Elbe vorrücken sollten. Man baute sich in einem verlassenen Bauernhof ein eigenes Wilvorster Camp auf und schickte den Prokuristen Hecker mit dem Fahrrad auf Erkundungssuche.
Wilhelm hatte in Northeim in Südniedersachsen einen langjährigen Freund. Dem hatte er in den letzten Kriegsmonaten Rohware und Maschinen zugeschickt. Hecker hatte den Auftrag, diese Ware und die Maschinen aufzuspüren. Nach mehreren Tagen auf dem Fahrrad erreichte Hecker Northeim und fand tatsächlich die Rohware und die Maschinen in einem guten Zustand bei der Firma Streichert wieder. Die deutsche Reichsbahn hatte Anfang 1945 noch erstaunlich gut funktioniert, und die Waggons waren unbeschadet angekommen.
Damit konnte man wieder anfangen. Hecker schickte Wilhelm eine Depesche an die Elbe mit der Bitte, baldmöglichst nach Northeim zu kommen. Wilhelm und Lina erhielten freudig diese Nachricht, und der gesamte Wilvorsttreck machte sich auf, so schnell wie möglich nach Northeim in das südliche Niedersachsen zu gelangen.
Der Treck erreichte Northeim erst nach einigen Wochen. Die Reise verzögerte sich, weil zwischenzeitlich die letzten Kriegshandlungen zwischen den verbliebenen deutschen Truppen und den Alliierten erbittert geführt wurden. Überall wurde geschossen und ausdauernd gekämpft. Gerade die letzten SS-Kampfverbände wollten nicht aufgeben und kämpften bis zur letzten Patrone, denn sie hatten in Gefangenschaft nichts Gutes zu erwarten. Viele von ihnen wurden nach Kriegsende von den Alliierten ohne Verfahren standrechtlich erschossen. Sie hatten alle ihre Blutgruppe als Tattoo in der Achselhöhle und waren deshalb sofort zu erkennen.
Dann war man aber in Northeim angekommen, und Wilhelm konnte in Verhandlungen mit der neuen Stadtverwaltung, die Nazis waren inzwischen verschwunden, erreichen, dass seine Wilvorst-Mannschaft bei dem Einzelhändler Denzler untergebracht wurde. Die Firma Denzler kannte Wilhelm Vordemfelde schon aus der Vorkriegszeit. Sie war über viele Jahre Kunde von Wilvorst gewesen. Denzler hatte sein Geschäft in der Breiten Straße im Zentrum von Northeim. Im hinteren Teil des Gebäudes befand sich ein Saal, in dem die Leute von Wilvorst die zwischenzeitlich angekommenen Maschinen aufbauen konnten. Weil man ja nichts anderes zu tun hatte, fing man wieder an zu nähen und zu bügeln. Das konnte man gut, und Arbeit brachte die Leute auf andere Gedanken.
Der Beginn in Northeim war schwierig. Vor der Währungsreform 1948 waren es Jahre des Mangels. Man hatte eigentlich von allem zu wenig. Es waren zu wenig Stoffe vorhanden, die Zutaten fehlten. Teilweise wurden für neue Anzüge und Mäntel Wehrmachtsstoffe verwendet, die man von irgendwoher aus dubiosen Quellen erstanden hatte. Manchmal wendete man auch einen alten Mantel und machte daraus ein neues Stück. Aber auch andere Dinge des täglichen Lebens machten die Arbeit in diesen Jahren schwer. Sowar es in der Produktionshalle von Denzler im Winter einfach zu kalt. Es wurde geheizt mit Kohlen, die man für teure Tauschware auf dem Schwarzmarkt erkungeln musste. Jedes Ei und jede Kartoffel musste irgendwie erkungelt werden, und Wilhelm brauchte viel Zeit, um für sich und seine Leute das Nötigste zu beschaffen.
Aber alle bissen die Zähne zusammen und waren froh, dem Russen entkommen zu sein. Stettin war verloren, doch hier war man wenigstens mit seinen Kollegen in Sicherheit angekommen. Wilhelm und Lina waren weit über sechzig Jahre alt, Wilhelm sogar schon siebenundsechzig, und hatten keine Altersversorgung. Sie hatten gar keine andere Möglichkeit, als weiterzumachen und sich um das Wohl ihrer treuen Mitarbeiter zu kümmern. Die dankten ihnen das aber auch von ganzem Herzen und lobten ihren guten Chef immer wieder.
Das Kapital von Wilhelm war sein Wissen und seine Beziehungen zu den Kunden in ganz Deutschland. Geld hingegen war Mangelware. Von Stettin aus hatte man vor dem Krieg Anzüge nach ganz Deutschland, insbesondere in das Rheinland und das Ruhrgebiet verkauft und hatte dort viele gute Kunden, die jetzt nach Ende des Krieges auch versuchten aus den Ruinen wiederaufzuerstehen. Auf diese Weise schlug sich Wilhelm mit seiner treuen Mannschaft durch und entwickelte neue Kollektionen und verkaufte sie dank seiner guten Beziehungen an die alten treuen Kunden. Der Bedarf an guter Bekleidung war groß. Im Krieg war doch vieles kaputtgegangen und musste ersetzt werden. Aber es herrschte überall ein großer Mangel, insbesondere jedoch war die alte Reichsmark nach dem verlorenen Krieg nichts mehr wert.