Читать книгу Die Mode Mafia - Karl-Wilhelm Vordemfelde - Страница 9
ОглавлениеAugust Vordemfelde
Wilhelm Vordemfelde hatte sieben Geschwister, drei Schwestern und vier Brüder. Sein Bruder August kam in der Reihe nach ihm zur Welt. Geboren am 26.10.1880, war er zwei Jahre jünger als Wilhelm. Sie beide hatten wie alle Geschwister Vordemfelde ein gutes Verhältnis zueinander. Sie wuchsen aber fast wie Zwillinge auf und erlebten so ihre Jugend gemeinsam aus nächster Nähe. Dabei hatten sie auch viele gleiche Interessen. Sie liebten die Natur, spielten in Feld und Wald miteinander und gingen gemeinsam zur Schule. Beide waren aufgeweckt und gute Schüler und zeigten schon frühzeitig Fähigkeiten in künstlerischen Dingen. Sie konnten gut zeichnen, insbesondere auch Personen und Tiere, und so ergab sich, dass ihnen von einem Freund der Familie der gleiche Berufsweg empfohlen wurde. Sie machten beide nach der achtjährigen Schule eine kaufmännische Lehre und erlernten innerhalb von vier Jahren den Beruf des Textilkaufmannes, allerdings bei unterschiedlichen Lehrherren.
Nach der Ausbildung blieben sie noch einige Jahre als Verkäufer und Modeberater bei ihren Lehrherren. Danach machten sie sich aber beide selbstständig und wurden Handelsvertreter für verschiedene Firmen der neu entstehenden Modebranche. In dieser Zeit nach der Jahrhundertwende entwickelte sich aus der bisher verbreiteten Schneiderei eine industrielle Konfektion. Anzüge und Sakkos wurden nicht mehr nur vom Schneider einzeln gearbeitet, sondern in Fabriken industriemäßig hergestellt. Beide träumten von ihrem eigenen Betrieb. Und so sollte es dann auch kommen. August machte sich im Jahr 1912 in Aschaffenburg mit einem Konfektionsbetrieb selbstständig und Wilhelm vier Jahre später in Stettin.
August Vordemfelde, dessen Weg in diesem Kapitel beschrieben werden soll, war ein sehr aktiver, vorrausschauender Unternehmer. Er baute schon 1920 in Aschaffenburg seine eigene Fabrik zur Herstellung von Anzügen. Das bis dato geltende Prinzip, die Ware zur Produktion an Zwischenmeister zu vergeben, wollte er nicht fortsetzen, sondern die Produktion in seinen eigenen Räumlichkeiten durchführen und unter Kontrolle haben. Auf diese Weise wollte August Kosten sparen, aber auch die Qualität der Anzüge verbessern. Im neuen Gebäude an der Bodelschwingstraße in Aschaffenburg befand sich dann die gesamte Produktion, Zuschnitt, Näherei und Bügelei, das Lager und auch die Verwaltung. Die Firma entwickelte sich von da an sehr positiv. Qualität und ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis waren seine Maximen, an die er sich strikt hielt und sich bei seinen Kunden in ganz Deutschland einen guten Namen erwarb. Er hatte schon bald mehrere Hundert Beschäftigte in Aschaffenburg und war damit einer der größten Bekleidungsunternehmer der Region.
Aber August Vordemfelde war nicht nur aktiver Unternehmer, sondern er war und wurde auch Politiker. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und dem großen Leid, das überall in Deutschland entstanden war, entschied er sich, in der Politik mitzumischen. Er betrieb im Jahr 1919 intensiven Wahlkampf für die Wahl in den Stadtrat von Aschaffenburg. August war ein guter Redner und kannte die Probleme der Bevölkerung insbesondere der Arbeitnehmer, die ihm auch in seinem Betrieb anvertraut waren. Auf dem Lande in bäuerlicher Umgebung aufgewachsen, war er konservativ eingestellt und Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei. Parteifreund war der damalige Baurat von Aschaffenburg, Franz Bruch, mit dem er viele Wahlkampfveranstaltungen durchführte. Sie stritten sich mit den Sozialisten, den Kommunisten und den Kaiserlichen. Es war viel los auf den Wahlveranstaltungen, und manchmal ging es auch richtig mit Fäusten zur Sache. August aber hatte mit Ende dreißig und viel Lebenserfahrung Ausstrahlung und überzeugte mit seinen Reden die Zuhörer. Er wurde, wie auch sein Freund Bruch, mit hoher Stimmenzahl in den Stadtrat der Stadt Aschaffenburg gewählt und war fortan Abgeordneter.
Nach der erfolgreichen Wahl lud ihn Franz Bruch zu einem festlichen Abendessen nach Hause ein. August nahm die Einladung gern an. Als Junggeselle freute er sich nach den entbehrungsreichen Kriegsjahren auf ein gutes Essen mit den passenden Weinen dazu. Franz Bruch hatte den Krieg ganz gut überstanden und wohnte mit seiner Familie in einer schönen Gründerzeitvilla direkt am Main gelegen. Zu seiner Überraschung war an diesem Abend nicht nur die Frau von Franz Bruch anwesend. Das Ehepaar Bruch hatte auch drei hübsche Töchter, von denen die älteste, Hildegard, etwa Mitte zwanzig war. Sie war schlank, groß gewachsen und hatte blondes langes Haar, schöne blaue Augen und einen süßen roten Mund. August verliebte sich sofort von ganzem Herzen in diese schöne Frau.
Das Abendessen war köstlich. Frau Bruch hatte mit ihrer Köchin ein schönes Menü serviert. Als Vorspeise gab es eine Hühnerbouillon mit Einlage, dazu wurden Käsestangen gereicht. Der Hauptgang war ein fränkischer Sauerbraten mit dunkler brauner Soße und festen Kartoffelknödeln. Dieses Essen war für August immer etwas ganz Besonderes gewesen, da seine Mutter auch immer wieder einen guten Braten serviert hatte, wenn Familienfeiern stattfanden. Gerade die säuerliche Soße mundete ihm sehr gut. Dazu passte auch der frische Silvaner aus dem Ort Iphofen, den Franz Bruch aus dem Keller geholt hatte, ganz hervorragend. Als Nachtisch wurde Rote Grütze mit Vanillesauce serviert. August war von diesem guten Abendessen sehr beeindruckt. Ganz besonders gefiel ihm aber das Gespräch mit Hildegard, die ihm gegenübersaß.
Wieder zu Hause musste August immer wieder an diese schöne Begegnung mit Hildegard denken. Es war Liebe auf den ersten Blick. Dieses bildhübsche Weib durfte er nicht laufen lassen, und er überlegte sich, wie er mit ihr anbändeln konnte. Er fasste sich ein Herz und lud sie einige Tage später zu einem Besuch im angesagtesten Café von Aschaffenburg ein. Für das Treffen hatte er seinen besten Anzug aus dem Schrank geholt und sich besonders fein gemacht. Aber auch Hildegard hatte sich fein gemacht und ihr schönstes Sommerkleid mit bunten Blumen und feinen Rüschen angezogen. Außerdem trug sie ein kleines dekoratives Hütchen, farblich passend abgestimmt. Auch sie hatte gemerkt, dass August etwas Besonderes war. Er war ein gut aussehender Mann mit schwarzem Haar und hatte bereits graue Schläfen, die ihn besonders attraktiv machten. Außerdem war er sehr eloquent und hatte immer ein witziges Wort für viele Dinge des Lebens. Sie schätzte das Gespräch mit ihm.
August war natürlich pünktlich und wartete auf Hildegard, die wenige Minuten nach ihm eintraf. Beide waren zunächst etwas zurückhaltend, fanden aber schnell den Gesprächsfaden wieder, den sie am Abend mit ihren Eltern gefunden hatten. Sie tauschten in schneller Folge ihre Ideen und Ansichten aus und merkten bald, dass sie eine sehr ähnliche Weltanschauung hatten. Nicht nur das Aussehen des Gegenübers beeindruckte sie, auch ihre gleiche Art zu denken hatte sofort etwas sehr Verbindendes. August war von dieser schönen Frau so beeindruckt, dass er noch im Café ihre Hand nahm, vor ihr niederkniete und ihr einen Heiratsantrag machte: „Hildegard, willst du meine Frau werden?“
Sie war perplex und hatte mit diesem schnellen Antrag nicht gerechnet. Ihre Gedanken schwirrten in ihrem Kopf, und sie wog die Möglichkeiten in rasender Schnelle ab. Ja, er war attraktiv und intelligent und hatte auch eine tolle Firma. Sie suchte sicher einen Mann. Aber durfte sie so schnell zusagen? Dann war sie aber ganz Frau, schob die aufkommenden Bedenken zur Seite und verließ sich auf ihr Gefühl und ihre Liebe. Sie hauchte ihm mit leiser Stimme zu: „Ja, ich will dich heiraten, August.“ Auch die Eltern Bruch waren perplex, aber Franz Bruch hatte August bei den vielen Wahlkampfveranstaltungen schon als klar denkenden Menschen kennengelernt und war von ihm als Schwiegersohn sofort überzeugt. Als August Vordemfelde ihn noch offiziell um die Hand seiner Tochter bat, gab er ihm gern seine Zusage.
Die Hochzeit fand noch im selben Jahr statt. Es war ein großes Fest, zu dem die Honoratioren der Stadt Aschaffenburg gern erschienen und bei dem großartige Reden gehalten wurden. Man wünschte dem jungen Paar Gottes Segen, eine reiche Kinderschar und war froh, endlich den Krieg vergessen zu können. Der gute Frankenwein floss in Strömen, das Festmahl war köstlich und reichlich, und es wurde bis in die Nacht hinein getanzt und gefeiert. Und wie gewünscht gebar Hildegard schon im nächsten Jahr 1920 ihren ersten gesunden Sohn. Sie nannten ihn Friedrich nach dem Onkel Friedrich, der als Jagdflieger 1916 über Frankreich abgeschossen und von der ganzen Familie sehr verehrt wurde. Insgesamt wurden es vier Kinder, die Hildegard ihrem August schenkte. Annemarie wurde 1922 geboren, August junior 1924, und der jüngste Sohn Hermann kam 1926 zur Welt. Vier gesunde Kinder, die ihren Eltern viel Freude machten.
Sie lebten ein glückliches Leben in den 20er-Jahren des 19. Jahrhunderts. Nach der großen Inflation 1923 florierte die Wirtschaft in Deutschland wieder, und auch das Unternehmen August Vordemfelde Aschaffenburg wuchs immer weiter. 1928 beschäftigte August Vordemfelde fast tausend Mitarbeiter. August war dabei immer in Konkurrenz mit seinem Bruder Wilhelm, der in Stettin seine Firma Wilvorst ähnlich konsequent aufbaute und ebenfalls über tausend Mitarbeiter hatte. Die Strategie „gute Qualität zu einem vernünftigen Preis“ hatte sich bewährt. Insgesamt herrschte in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre ein solides Konsumklima, und die Menschen kleideten sich gut und geschmackvoll. Anzugmode war für die Herren voll im Trend. Man war froh, nicht mehr zum Schneider gehen zu müssen, und kaufte gern von der Stange, auch mal einen Anzug mehr als notwendig. Wilhelm und August hatten mit ihren Unternehmen den richtigen Riecher gehabt und machten gute Geschäfte.
August hatte in den 20er-Jahren aber auch seine politische Laufbahn fortgesetzt. Nach der erfolgreichen Tätigkeit im Rat der Stadt Aschaffenburg wurde er gebeten, sich als Kandidat für die Reichstagswahl im Dezember 1924 aufstellen zu lassen. Da das Unternehmen gut florierte, ließ er sich überreden und wurde im Wahlkreis sechsundzwanzig für die Deutschnationale Partei in den Reichstag nach Berlin gewählt. Dort war er vier Jahre Reichstagsabgeordneter bis 1928 und erlebte die Wirren der Politik in der Weimarer Republik wie auch den Aufstieg von Adolf Hitler mit seiner NSDAP hautnah in Berlin mit. Er setzte sich insbesondere für die Förderung der Wirtschaft ein und erreichte mit seiner guten, konsequenten Arbeit eine Vielzahl von kleinen Erfolgen zur Förderung der mittelständischen Unternehmen im Deutschen Reich. Ein anderer Schwerpunkt seiner Arbeit war die Förderung der christlich-sozialen Bewegung, der er schon seit Jugendjahren verbunden war. Zum Ende seiner Tätigkeit als Reichstagsabgeordneter wurde er am 20.12.1928 vom Staatsminister des Äußeren, Dr. Held, zum Kommerzienrat ernannt, ein besonderer Titel, der seine Verdienste für die deutsche Wirtschaft und das Vaterland hervorhob und ehrte.
Einen deutlichen Dämpfer bekam die deutsche Wirtschaft und mit ihr die Bekleidungsindustrie dann aber durch die große Weltwirtschaftskrise, beginnend im Oktober 1929. Die Börsen kollabierten ausgehend von New York in wenigen Tagen rund um die Welt, und viele Investoren verloren ihr ganzes Vermögen. Plötzlich war die Nachfrage weg, und Anzüge und andere Wirtschaftsgüter wurden nicht mehr gekauft. Die Wirtschaft ging in den Rückwärtsgang, und innerhalb von wenigen Monaten erhöhte sich die Arbeitslosigkeit in Deutschland auf fast sechs Millionen Menschen. Ganze Branchen gingen zugrunde. August hatte aber mit seinem gut aufgestellten Unternehmen in den wenigen Boomjahren zuvor vortrefflich verdient und überstand wie auch sein Bruder Wilhelm in Stettin die Krise glimpflich durch Sparsamkeit und eisernen Willen. Aber auch das gute Verhältnis zu den Mitarbeitern war entscheidend für den Erhalt des Unternehmens. Trotzdem mussten auch bei August Vordemfelde in Aschaffenburg viele Mitarbeiter entlassen werden. Die Not war überall sehr groß. Die Jahre nach 1929 waren schwierig.
Nach der Machtergreifung durch Adolf Hitler 1933 erholten sich die deutsche Wirtschaft und auch die Bekleidungsindustrie wieder. Das machte August Vordemfelde zu einem Anhänger des NS-Systems, und er profitierte von der wirtschaftlichen Erholung ebenso wie später während des Zweiten Weltkrieges von den Aufträgen der Wehrmacht zur Herstellung von Uniformen. Sein Bruder Wilhelm war in dieser Hinsicht ganz anderer Meinung und lehnte das NS-Regime konsequent ab. Er erhielt dann aber auch nicht die Förderung des NS-Staates für sein Unternehmen in Stettin. Der Krieg machte aber allen Aufschwung wieder zunichte und führte zu einem Erstarren der wirtschaftlichen Entwicklung. Alles wurde umgestellt auf Kriegswirtschaft. Statt Anzügen wurden im Werk Aschaffenburg und auch in Stettin immer mehr Uniformen und Wintermäntel produziert. Die deutschen Soldaten sollten im kalten Russland ja nicht frieren.
Direkt betroffen vom Krieg wurde die Familie Vordemfelde Aschaffenburg am Ende des Krieges. Nachdem die Söhne Friedrich und August schon zu Anfang des Krieges eingezogen wurden und an vielen Fronten tapfer kämpften, wurde der jüngste Sohn Hermann noch Ende 1944 als 18-Jähriger zur Wehrmacht eingezogen. In den Wirren der letzten Kriegsmonate kam er bei einem Einsatz des Volkssturms ganz in der Nähe von Aschaffenburg ums Leben. August und Hildegard erhielten erst Monate nach Kriegsende Nachricht, was mit ihrem Sohn passiert war, und waren erschüttert. Hildegard hat den Tod ihres jüngsten Sohnes nie verwinden können. Er war ihr Liebling. Die älteren Brüder Friedrich und August wie auch die Schwester Annemarie hatten den Krieg im Wesentlichen unverletzt überstanden.
August Vordemfelde wurde nach dem Krieg wegen seiner NS-Parteizugehörigkeit entnazifiziert und durfte einige Zeit sein Unternehmen nicht betreten. Das Unternehmen wurde aber im Einvernehmen mit ihm von seinem Prokuristen Buddeberg und seinen beiden Söhnen nach ihrer Rückkehr aus der Gefangenschaft weitergeführt. Das Unternehmen selbst war nur zum Teil intakt geblieben. Im Gegensatz zu vielen Städten im übrigen Deutschland wurde Aschaffenburg zwar nicht stark bombardiert, aber dennoch erhielt das Produktionsgebäude in der Bodelschwingstraße bei einem Angriff amerikanischer Bomber einen Volltreffer, und Dachstuhl und Obergeschoss brannten aus. Aber schon am 14. August 1945 wurde nach Bauantrag mit der Wiederherstellung des Dachstuhles begonnen, sodass August Vordemfelde noch im selben Jahr an alter Stelle wieder mit der Produktion von Herrenbekleidung beginnen konnte. Viele treue Mitarbeiter kamen nach und nach wieder ins Unternehmen zurück und halfen beim Wiederaufbau. August war mittlerweile fünfundsechzig Jahre alt und feierte am 26. Oktober 1945 diesen besonderen Geburtstag. Er war gesund und startete durch, weil er auch gar nichts anderes gewöhnt war. Seine Mitarbeiter brauchten ihren guten Chef. Unterstützt wurde August Vordemfelde senior dabei von seinen beiden mittlerweile erwachsenen Söhnen Friedrich und August. August junior war sein Nachfolger im Produktionsunternehmen in Aschaffenburg, und Friedrich war später zuständig für den in der Zwischenzeit erworbenen Einzelhandel an Standorten in Nürnberg, Gießen und Kassel.
Das Unternehmen August Vordemfelde Aschaffenburg machte in den 50er- und Anfang der 60er-Jahre das Wirtschaftswunder in Deutschland erfolgreich mit. Das Unternehmen florierte bei weiter steigenden Stückzahlen und guten Gewinnen. Es ging auch in Aschaffenburg eigentlich nur aufwärts. Nach dem Krieg war der Bedarf an guter Herrenbekleidung außergewöhnlich groß, und bald wurden die Räumlichkeiten in Aschaffenburg für die Produktion zu klein. Um den auch steigenden Löhnen ein Ventil zu geben, eröffnete man ein Zweigwerk in Esselbach im Landkreis Marktheidenfeld im Odenwald, in dem man viele Jahre mit circa 100 Miterbeitern erfolgreich Mäntel produzierte und gleichzeitig die niedrigeren Löhne auf dem Lande zur Kostenreduzierung nutzte.
August junior arbeitete in dieser Zeit mit seinem Vater erfolgreich zusammen, hatte aber wie jeder Junior viele Ideen, die er im Alter von Mitte dreißig auch umsetzen wollte. Deshalb stritt er sich mit seinem Vater heftig über den weiteren Fortgang am Standort Aschaffenburg: „Vater, lass uns endlich ein neues Werk bauen, in dem wir unsere Bekleidung nach modernen technischen Bedingungen produzieren können. Die alten Räumlichkeiten hier in Aschaffenburg und auf dem Lande sind einfach Vergangenheit. Wir brauchen einen modernen, neuen Zuschnitt und auch für die Produktion endlich moderne Automaten, die uns die Arbeit erleichtern und preiswerter machen. Rationalisierung ist das Thema der Gegenwart.“ August senior sträubte sich aber gegen diese neumodischen Tendenzen: „Bisher sind wir mit unseren Gebäuden in Aschaffenburg und Esselbach und der darin vorhandenen Technik gut gefahren. Ich war es, der die moderne Anzugfertigung am Band schon vor dreißig Jahren erfunden hat. Ich scheue das Risiko einer großen Investition. Ich erinnere mich noch gut an die Weltwirtschaftskrise 1929, als Wilhelm in Stettin gebaut hatte und das Geld knapp wurde.“
August junior ließ sich aber nicht einschüchtern und beharrte auf seinem Wunsch, ein neues modernes Bekleidungswerk in Aschaffenburg zu bauen, das dem modernen Stand der Technik Mitte der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts entsprechen würde. Er strotzte vor Selbstbewusstsein und war im Alter von vierzig Jahren auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Er hatte eine reizende bildhübsche Frau und drei Kinder, zwei Töchter und einen Sohn. August sah zudem blendend aus, schlank und groß gewachsen mit stahlblauen Augen und bereits leicht grau meliertem Haar. Er hatte auch in der Verbandspolitik viel erreicht und war schon stellvertretender Vorsitzender des Bekleidungsverbandes Aschaffenburg. Es musste also etwas geschehen, mit dem er sich ein Denkmal setzen konnte. Er schob die Bedenken seines Vaters beiseite und plante an einem neuen Standort in der Auhofstraße in Aschaffenburg ein neues, großes Bekleidungswerk, das modernsten Gesichtspunkten entsprechen sollte.
Alles sollte modern sein. Die Hallen sollten groß und weiträumig sein ohne unnötige Stützen. Dafür wurde eine besondere Dachkonstruktion entwickelt, die es ermöglichte, die Hallen freitragend zu machen. Diese sollten außerdem klimatisiert sein, kein Mitarbeiter sollte frieren oder schwitzen, und sie brauchten auch keine Außenfenster, da man mit künstlichem Licht wesentlich besser arbeiten konnte. Außerdem sollten die alten Maschinen entsorgt und Zuschnitt und Näherei mit modernsten Automaten ausgestattet werden. Die Bügelei sollte ebenfalls komplett modernisiert werden und neuartige Bügelkarusselle erhalten. Das würde alles nicht billig werden, aber man hatte ja in den vergangenen Jahren gut verdient und hoffte auf weitere gute Jahre.
Nach intensiver Planung wurde 1970 mit dem Neubau begonnen. August senior hatte zwischenzeitlich seinen Widerstand aufgegeben und wollte ohne Streit in diesem Jahr seinen neunzigsten Geburtstag feiern. Außerdem wollte er seinem Sohn die Chance für einen Neuanfang ermöglichen. Der Bau schritt planmäßig voran, und die Eröffnung des modernsten Bekleidungswerkes Deutschlands fand am 13. September 1971 statt. Eingeladen waren zu der Eröffnungsfeier die gesamte Branche und Politprominenz der Region. Auch der Ministerpräsident des Landes Bayern war bei der Veranstaltung zugegen und ehrte mit warmherzigen Worten insbesondere den Senior, aber auch die Familie Vordemfelde mit seinen Söhnen August und Friedrich. August junior selbst hielt als Chef die Festansprache: „Wir eröffnen heute nach 14-monatiger Bauzeit unser hochmodernes neues Bekleidungswerk. Wir sind stolz auf dieses Bauwerk, das ein Meilenstein in unserer fast 60-jährigen Firmengeschichte ist. Ich danke allen Mitarbeitern und Lieferanten für die gute Zusammenarbeit und danke insbesondere meinem Vater, August senior, für seinen immerwährenden guten Rat.“ Damit war der neue Betriebsbau freigegeben, und es wurde an diesem Tage fröhlich gefeiert in der Hoffnung auf eine gute Zukunft.
Das neue Werk mit sechshundertfünfzig Mitarbeitern lief auch gut an, und es wurde nunmehr unter optimalen Bedingungen produziert. Da die Stückzahlen auf hohem Niveau waren, schien die Rechnung aufzugehen. Über die Jahre hatte die Firma Vordemfelde Aschaffenburg neben vielen Fachhändlern in den kleinen und mittleren Städten Deutschlands und des benachbarten Auslandes auch die großen Händler des Landes als Kunden gewinnen können. Gemäß dem Wahlspruch von August senior wurde Qualität zu einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis angeboten, und die Anzüge von August Vordemfelde Aschaffenburg waren überall auch in den Läden der großen Händler zu finden. Größter Kunde war die in Deutschland sehr bekannte Firma A und P. Diese Firma hatte Standorte in sämtlichen wichtigen Städten in Deutschland und verkaufte Bekleidung in großen Mengen. August Vordemfelde Aschaffenburg war Hauptlieferant für Anzüge im gehobenen Genre, und die Stückzahlen, die in jeder Saison auf die Auftragsblöcke geschrieben wurden, waren außergewöhnlich groß. Es waren Tausende von Anzügen und Sakkos, die an A und P geliefert wurden. Beide Firmen waren in langjähriger Partnerschaft miteinander verbunden. Warum sollte das in Zukunft nicht so weitergehen?
Unglücklicherweise schlitterte die Konjunktur in Deutschland im Jahr 1973 erneut in eine Rezession. Abgesehen von dem kleinen Einbruch 1967 hatte man bis dato nach dem Krieg immer nur Aufschwung erlebt. Das deutsche Wirtschaftswunder in der Nachkriegszeit war für viele Branchen beispiellos, auch für die Bekleidungswirtschaft. Wachstumsraten von 5 % und mehr jedes Jahr waren normal, und man hatte sich daran gewöhnt. Parallel dazu stiegen aber auch die Löhne. Aus dem Niedriglohnland Deutschland nach dem Krieg wurde ein Industrieland mit gehobener Lohnstruktur. Das musste irgendwann zu einer Krise führen. Und die Wirtschaftskrise kam mit der 1973 entstandenen Ölkrise. Die OPEC-Staaten hatten als Reaktion auf den Jom-Kippur-Krieg Israels die Ölförderung der angeschlossenen Staaten um 5 % gedrosselt. Das war als Signal an den Westen gedacht, Israel nicht zu sehr zu unterstützen. In der Folge stieg der Ölpreis weltweit rasant an auf ein Mehrfaches des Preises vor der Ölkrise.
Dieser Anstieg des Ölpreises führte zu einer veritablen Rezession. Die Wirtschaft ging auf Talfahrt. Der Konsum stockte, und alle Branchen, auch die Bekleidungsbranche, spürten die deutlich verschlechterte Wirtschaftslage sehr schnell. Alle Akteure fuhren ihre Aktivitäten zurück. Für die Bekleidungswirtschaft hieß das, dass Aufträge gekürzt und bereits gegebene Aufträge storniert wurden. Pessimismus breitete sich aus. Würde es je wieder so gut werden wie früher?
Zum wirtschaftlichen Abschwung kam ein weiteres Problem für die Hersteller formeller Herrenbekleidung. Das Bekleidungsverhalten hatte sich verändert. Die Studentenrevolte des Jahres 1968 hatte die Welt verändert. Auch die Modewelt war davon stark betroffen. Wurden vorher von den Männern von Welt gerne schöne Anzüge und Sakkos getragen, so liebten die Trendsetter jetzt mehr die zwanglose Bekleidung. Die Studenten und die Musikwelt in Woodstock hatten es vorgemacht. Flower-Power war angesagt, und die Jeans als Modebekenntnis von 1968 erlebte einen sensationellen Aufstieg. Anzüge hingegen wurden mehr und mehr nur im beruflichen Umfeld getragen. Die Nachfrage nach Anzügen stagnierte.
Für die Firma August Vordemfelde hatte das zur Folge, dass die schönen großen Aufträge von A und P und anderer wichtiger Kunden wegbrachen. Man hatte zum ersten Mal seit vielen Jahren nicht genügend Aufträge für die Produktion. Die Entscheidung von August Junior und seiner Mannschaft war, Aufträge ans Lager zu nehmen und weiter zu produzieren. Es würde schon irgendwann wieder im üblichen Rahmen gekauft werden. Alternativ hätte man die Produktion durch Entlassungen zurückfahren können. Dazu hatte man aber zu viel investiert und musste auf hohem Niveau weiterproduzieren, um die Fixkosten hereinzubekommen. Kurzarbeitergeld und sonstige staatliche Hilfen gab es noch nicht. Die Politik hatte die Parole ausgegeben, dass die Wirtschaft mit ihren Problemen selbst fertig werden muss.
Die Rezession war glücklicherweise nicht von langer Dauer. Mit dem ersten Konjunkturprogramm 1974 erholte sich die Wirtschaft bald und wuchs wieder. Dummerweise hatte die Firma August Vordemfelde jetzt aber ein übergroßes Fertigwarenlager und Lagerware kostet Geld. Da die großen Investitionen in die neuen Hallen zudem erst zwei Jahre zurücklagen und hohe Tilgungen der aufgenommenen Darlehen erfüllt werden mussten, war die Liquidität angeschlagen.
August junior musste also persönlich bei den großen Kunden vorsprechen und verkaufen, um die Auftragslage zu sichern. Nicht dass ihm das schwergefallen wäre. Er war ein glänzender Verkäufer, hatte ein außergewöhnliches Selbstbewusstsein und eine gute Ausstrahlung. In Begleitung seines Verkaufsleiters nahm er den Termin in der Zentrale von A und P persönlich wahr und traf dort auf den Chefeinkäufer Meierbohm, den er schon seit vielen Jahren kannte. Das Gespräch begann wie gewöhnlich informell: „Na, Herr Vordemfelde, wie geht es der Familie?“ August erwiderte die Anfrage freundlich, aber etwas betrübt: „Danke, leider nicht so gut, mein Vater ist im letzten Jahr verstorben. Er ist zwar einundneunzig Jahre alt geworden, doch es ist immer ein großer Verlust, seinen eigenen Vater zu verlieren. Und den Tod von meinem Sohn haben Sie vielleicht nicht mitbekommen. Er ist vor drei Jahren mit dem Fahrrad in einem Steinbruch ganz in der Nähe von zu Hause verunglückt und dort leider nicht entdeckt worden. Als man ihn nach vier Wochen fand, war er tot.“ Herr Meierbohm war sehr betroffen und drückte August Vordemfelde sein herzliches Beileid aus. August sprach dann weiter: „Sorgen bereitet uns auch die wirtschaftliche Lage. Die Ölkrise drückt schon auf die Stimmung und die Geschäfte. Ich würde mich freuen, wenn sie uns wieder Aufträge geben würden wie in der Vergangenheit. Wir waren doch immer ihr guter Partner und haben ihre Aufträge stets zuverlässig erfüllt.“
Einkäufer Meierbohm war zwar schockiert über die Nachrichten, die er soeben vernommen hatte, kam dann aber trotzdem ohne Umschweife gleich zur Sache und ging in den Angriffsmodus über: „Lieber Herr Vordemfelde, das würde ich ja gerne machen, aber ich muss leider sagen, dass ihre Anzüge nicht mehr so gut sind, wie sie mal gewesen waren. Die Qualität hat deutlich nachgelassen, offensichtlich mit dem Neubau ihres Betriebes. Die Anzüge sind nicht mehr so schön, wie sie früher waren. Außerdem sind ihre Preise jetzt zu hoch und nicht mehr akzeptabel. Wir haben mittlerweile Angebote von anderen Anbietern, die für uns günstiger sind und überlegen zu wechseln.“
August war wie vor den Kopf geschlagen. Das hatte er nicht erwartet. Er hatte allerdings schon gehört, dass A und P sich bei Lieferanten aus dem benachbarten Ausland eindecken wollte. Die Gespräche gingen deshalb in nicht mehr so guter Stimmung hin und her, und im Ergebnis musste er klein beigeben und bekam nur noch einen kleinen Auftrag. Das Schlimmste kam aber zum Schluss des Gespräches. Ein großer Teil der Ware aus dem Jahr 1973 sollte zurückgeschickt werden. A und P wollte die Ware nicht behalten. August hatte unvorsichtigerweise für den Auftrag eine Rücknahmegarantie gegeben. Damit hatte die Firma August Vordemfelde ein richtiges Problem. Der größte Kunde drohte wegzubrechen und lud auch noch seine eigenen Warenprobleme bei August Vordemfelde ab. Leider erlebte August Gespräche dieser Art bei anderen großen Kunden in ähnlicher Weise, und insgesamt ging im Krisenjahr 1973 das Vorordervolumen um fast 30 % zurück. Die alten schönen Zeiten waren vorbei. Es ging nicht weiter aufwärts, und die Produktion in Aschaffenburg in ihren schönen, neuen Gebäuden war zu groß geworden.
Und so ging es dann leider auch in den kommenden Jahren weiter. Die Aufträge waren nicht mehr so groß, wie man es gewohnt war, und die Kapazität konnte nicht komplett ausgefüllt werden. August Vordemfelde musste Mitarbeiter entlassen, und die Banken saßen ihm im Nacken. Auch die Lieferanten lieferten nicht mehr so pünktlich wie bisher. Sie wollten Sicherheiten haben für ihre Warenlieferungen. Die Liquidität war angeschlagen, und die große Investition in den Neubau drückte. Die Tilgungsraten mussten pünktlich bezahlt werden. Man suchte nach Auswegen, eventuell mit einem neuen Partner, aber die Verhandlungen führten nicht zu einem Erfolg, sodass August im Februar 1978 beim Amtsgericht in Aschaffenburg Konkurs beantragen musste. Es war ein schwerer Gang für ihn, den er sein ganzes Leben nicht mehr vergessen sollte.