Читать книгу Die Mode Mafia - Karl-Wilhelm Vordemfelde - Страница 6
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„Ich danke dem Herrgott, wenn wir dieses Darlehen bekommen. Damit können wir wieder anfangen, und es geht wieder bergauf.“
Wilhelm Vordemfelde fuhr mit seinem Neffen Friedrich-Wilhelm Vordemfelde mit dem Horch, den er schon in Stettin hatte, auf der Bundesstraße drei, die Autobahn nach Hannover gab es noch nicht, um sich dort bei der Norddeutschen Landesbank um ein Darlehen für den Neubau seines Betriebes in Northeim zu bewerben. Es sollte neu gebaut werden, und dafür brauchte er ein Darlehen in Höhe von 250.000,– DM. Die Währungsreform war im Juni 1948 gerade durchgeführt worden, und das Geld war wieder werthaltig. Mit diesem Geld konnte er ein modernes Firmengebäude bauen, zwar nicht so groß wie in Stettin, aber ausreichend für immerhin dreihundert bis fünfhundert Mitarbeiter, die er in den nächsten Monaten und Jahren einstellen wollte.
Wilhelm war mittlerweile siebzig Jahre alt und lebte auch in Northeim mit seiner Schwester Karoline, die fünf Jahre jünger war als er, zusammen. Er war asketisch und agil und hatte Mut und Kraft, um trotz seines fortgeschrittenen Alters wieder durchzustarten. An seiner Seite stand jetzt sein fünfundzwanzig Jahre alter Neffe Friedrich-Wilhelm Vordemfelde, der als Soldat vier Jahre im Krieg an allen Fronten gekämpft hatte und nach dem Ausscheiden aus der Wehrmacht glücklicherweise keine Gefangenschaft erleben musste. In den Jahren 1945–48 hatte Friedrich-Wilhelm eine Ausbildung zum Bekleidungstechniker in Mönchengladbach gemacht und im Einzelhandel verkaufen gelernt.
Beide fuhren mit großer Sorge nach Hannover, denn die Vergabe des Darlehens war in keinem Falle sicher. Wilhelm hatte zwar einen guten Namen und auch gute Beziehungen, aber sein Vermögen hatte er in Stettin gelassen, und davon war durch die Flucht nichts übrig geblieben. Im Gegenteil, einen Lastenausgleich hatte es noch nicht gegeben, und für das Verlorene gab der Staat ihm kein Geld. In Hannover wurden sie dann vorstellig bei der Norddeutschen Landesbank, die sich drei Jahre nach dem Krieg bereits etabliert hatte. Die Banker, gekleidet in dunkelblaue, eleganteAnzüge, als hätte es den Krieg nie gegeben, empfingen sie mit großer Zurückhaltung und machten ihnen zunächst die Hölle heiß. „Herr Vordemfelde, haben Sie keine Sicherheiten? Auf Ihren guten Namen allein können wir Ihnen kein Geld geben.“ Aber Wilhelm argumentierte mit Engelszungen, verwies auf seine vielfältigen Kontakte zu den Kunden in ganz Deutschland und erwähnte insbesondere auch die Mitarbeiter in Northeim, die ihm anvertraut waren. Außerdem machte der Junior einen guten Eindruck als durch den Krieg erfahrener junger Mann mit viel Mut und Kraft für die Zukunft.
Das machte bei den honorigen Bankern einen überzeugenden Eindruck, und am Ende des langen Gespräches erhielt Wilhelm sein Darlehen Höhe von 250.000,– DM. Damit konnte er in Northeim das Betriebsgebäude von Wilvorst neu errichten. Er fing schon in der nächsten Woche mit den Architekten an zu planen, und das Firmengebäude mit Verwaltung und großer Produktionshalle für Zuschnitt, Näherei und Bügelei sollte nach kurzer Bauzeit innerhalb von neun Monaten bereits fertig sein. Im Juni 1949 feierten sie mit großer Freude das Richtfest. Wilhelm war mit einem Kran auf das Dach gehoben worden und sprach von dort aus eine denkwürdige Ansprache zu diesem besonderen Anlass.
„Wir haben das Dritte Reich überstanden, und wir haben auch den Krieg hinter uns gelassen. Leider ist Stettin verloren, doch wir sind hier in Northeim in Südniedersachsen von der Bevölkerung und den Honoratioren der Stadt herzlich aufgenommen worden. Die Mitarbeiter von Wilvorst, meine Schwester Karoline und ich danken allen, die uns bei dem Neubeginn geholfen haben. Wie ich es auf der Fahrt nach Hannover zur Norddeutschen Landesbank gelobt habe, danke ich dem Herrgott ganz herzlich für seine Hilfe bei der Flucht und für das Darlehen, das uns ermöglicht, den Betrieb hier in Northeim wiederaufzubauen. Nach der schweren Zeit wünsche ich uns allen einen langen Frieden und viel Erfolg in den neuen Räumlichkeiten von Wilvorst.“ Und dann schmetterte er sein Schnapsglas, das mit dem guten Korn vom benachbarten Hardenberg gefühlt war, nach einem kräftigen Zug in die Baustelle, und alle Anwesenden brachen in Jubel aus. Es war ein ausgelassener, fröhlicher Tag nach all den Schwierigkeiten der vergangenen Jahre.
Wilvorst entwickelte sich am Standort Northeim gut, und schon nach wenigen Jahren war der Name Wilvorst wieder in ganz Deutschland mit hochwertigen Produkten, Anzügen, Sakkos und Mänteln, bekannt und begehrt. Viele namhafte Einzelhandelsgeschäfte führten das Produkt, und es ging aufwärts. Bereits 1955 hatte Wilvorst wieder fünfhundert Mitarbeiter, die fleißig Anzüge, Sakkos und Mäntel produzierten. Maßgeblich für den Erfolg war die Ruhe und Gelassenheit des Seniors Wilhelm Vordemfelde, der bereits über vierzig Jahre Erfahrung als Unternehmer verfügte und alle notwendigen Entscheidungen sicher traf. Wichtig war auch seine Bekanntheit im Kollegenkreis und bei den vielen Einzelhändlern. Der gute Name und die gute Qualität brachten immer wieder gute Verkäufe und neue Aufträge.
Ganz wichtig für den Erfolg in dieser Nachkriegszeit war aber auch das Engagement des Juniors Friedrich-Wilhelm Vordemfelde. Als Soldat zuletzt im Rang eines Leutnants, hatte er schon an allen Fronten seinen Mann gestanden und krempelte jetzt als Jungunternehmer die Ärmel hoch; er trieb alles aktiv voran mit vielen neuen Ideen und mit außergewöhnlich hohem Engagement. Sie waren ein gutes Team, Wilhelm als Senior und erfahrener Unternehmer und Friedrich-Wilhelm als aktiver frischer Junior mit Saft und Kraft, obwohl Friedrich-Wilhelm im letzten Kriegsjahr schwer verwundet wurde und durch eine Handgranate seinen rechten Lungenflügel verloren hatte.
Wichtig überdies war aber, dass die Produktion in Deutschland durch niedrige Lohnkosten nach dem verlorenen Weltkrieg auch preislich sehr konkurrenzfähig war. Die Arbeiter in den Fabriken hatten den Krieg erlebt und häufig viele schreckliche Erlebnisse gehabt. Sie waren froh, Arbeit zu haben von einem Unternehmer, der wusste, was er tat, und sie waren fleißig, arbeitsam und wollten die Vergangenheit vergessen. Ein ausgelernter Bügler bekam 1950 ein Stundenlohn von 1,30 DM und musste fünfundvierzig Stunden in der Woche arbeiten. Einen Betriebsrat gab es nicht, und das Wirtschaftswunder war noch weit entfernt.
Und dann kam ich ins Spiel, der erste und einzige Sohn von Friedrich-Wilhelm und seiner Frau Elisabeth, Karl-Wilhelm Vordemfelde. Sie hatten schon 1948 geheiratet, aber Kinder wollten partout nicht kommen. Erst 1952, am 29. Februar, dem Schalttag, wurde die Tochter Karin geboren, und dann genau ein Jahr später, am 28. Februar 1953, ich, Karl-Wilhelm, als der ersehnte Stammhalter. Damit erblickte die nächste Generation der Vordemfeldes das Licht der Welt, und die Reihe der Konfektionäre aus dieser Familie sollte damit fortgesetzt werden. Das dauerte aber dann noch viele Jahre, bis es so weit war.