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Ich hatte das Flickzeug in der Jackentasche, als ich den Raum betrat, von dem ich wusste, dass ich dort dem Toten zum letzten Mal begegnet war. Es war der Ort, in dem die einheimischen Alten sich trafen, ein kleiner verräucherter Laden direkt neben dem Wendepunkt des Gleises, wo Süßigkeiten, Zigaretten und Zeitschriften verkauft wurden und die Fahrscheine für den grünen Triebwagen, der die Enden der Insel miteinander verband.

Der Flachbau, in dem dieser Treff sich befand, war eigentlich ein Fahrradverleih, der von zwei Kette rauchenden, hageren Brüdern betrieben wurde, die am Tag wohl kaum mehr als ein Dutzend Worte wechselten. An der Wand saßen auf einer Bank, wie Zuschauer einer Theateraufführung, rund um die Uhr eine Handvoll Männer, die damit beschäftigt waren, über die neuen Verhältnisse zu wettern und im Bier die Erinnerung daran zu ertränken, wie freudig sie sie einst begrüßt hatten. Dabei erschienen die Jahre der Zwänge und Gängeleien durch die Organe und Behörden der Einheitspartei zunehmend in ein milderes Licht getaucht unterm undurchdringlichen Qualm der Zigaretten und dem Knurren eines Bruders hinter dem Ausschank, das zuweilen in ein Bellen überging, um auf Reviergrenzen hinzuweisen zwischen Spekulation und Wissen in den Äußerungen eines Gastes, und das Erheben seiner Stimme schon im Keim ersticken konnte. Immer folgte auf das Gebell ein etwas längeres Schweigen, und wenn man genau hinhörte, konnte man in diesen bedrückenden Pausen das Rasseln des Schleims in ihren Bronchien hören wie das Knarren verhärteter Organe in der Brust, und dieselbe Härte meinte man wenig später hervorstechen zu sehen aus ihrem trüben Blick, wenn sie zwischen zwei Sätzen minutenlang verstummten und vergeblich versuchten, sich anderem zuzuwenden.

Ich trat ins Halbdunkel des Raums und starrte auf die Wand, an der die Männer schon seit Stunden saßen. Auf dem Platz, wo ich den Toten zuletzt gesehen hatte, saß heute jemand anderes, und ich konnte an ihren abweisenden Reaktionen erkennen, dass irgendetwas nicht stimmte. Auf meine Frage nach dem Verbleib des Abwesenden blickten sie mich an, als hätte ich mich in unerhörter Weise an ihrer Gemeinschaft vergangen.

Einer, es schien der Älteste zu sein, zündete sich eine Zigarre an und brummte schließlich, während er sie anrauchte: »De kümmt schun nuch.«

Die anderen starrten düster vor sich hin.

»Wo wohnt er?«, fragte ich forsch.

Der Alte hörte auf, an seiner Zigarre zu saugen.

»We wöll dat wäten?«

»Sie kennen mich doch«, erwiderte ich. »Gerade vor zwei Tagen haben Sie mir erklärt, wie ich zum ehemaligen Schießplatz gelange.«

Die Alten blickten einander nervös an.

»Es ist wichtig«, beharrte ich.

»Bi de Fru met de Vügels«, murmelte der Alte. Die Zigarre war ihm ausgegangen. Er zündete sie mit vorwurfsvollem Blick wieder an.

»Wie ist sein Name?«, setzte ich erneut an.

In diesem Moment drängte mich der Wirt mit dem Tablett beiseite, um den Männern an der Wand die Getränke zu reichen. Über die Schaumkronen auf ihren Biergläsern hinweg funkelten sie mich böse an. Da wusste ich, dass es Zeit für den Rückzug war.

»Die Frau mit den Vögeln also«, sagte ich und wandte mich so hastig zur Tür, dass ich direkt in einen rotgesichtigen Riesen hineinlief. Hinter mir hörte ich ein meckerndes Lachen. Ich ahnte, welche Frau der Alte meinte. Ich erinnerte mich an das orange Schild im Fenster einer Zoohandlung: ALLES MUSS RAUS.

Niewetow war voll von solchen Schildern in den Schaufenstern der kleinen Läden. Die Auslagen wechselten beinahe wöchentlich, wo gestern noch ein Lebensmittelgeschäft war, versuchte sich heute jemand mit Kurzwaren oder einem Copyshop. Kaum einer der Läden aus der Zeit der Planwirtschaft hatte hier dem Siegeszug der Supermärkte und Resterampen lange standgehalten. Im Vorübergehen ertappte ich mich öfter angesichts von Neueröffnungen dabei, Prognosen anzustellen über die Lebensdauer des neuen Geschäfts; beinahe immer siegte die Marktlogik in Gestalt des niedriger angesetzten Zeitraums.

Am Ende der Hauptstraße fand ich zwischen den neuen Büros eines Versandhauses und einer Versicherungsgesellschaft unter dem Ladenschild mit der Aufschrift »Zoobedarf« auch das orange Blatt mit den schwarzen Lettern. Es hing in einem vom Straßenschmutz beinahe blinden Schaufenster, die Buchstaben des mittleren der drei Worte waren zum überwiegenden Teil vom Hintergrund abgelöst, wie kurz vor dem Fall nach vorn gebeugt; das große R war schon abgestürzt. Irgendwer musste vor einer Ewigkeit diese dreizehn schwarzen Lettern sorgsam mit Leim auf ein damals noch rotes Blatt geklebt und das Schild dann mit Klebestreifen von innen an der Scheibe befestigt haben, um sich danach nicht weiter darum zu kümmern. Daneben standen ein leeres Vogelbauer und ein zur Hälfte mit Sand gefülltes Terrarium.

Ich griff nach der Klinke. Die Tür glitt auf. Der Laden war wie das gesamte Erdgeschoss leergeräumt. Tote Fliegen lagen auf dem Fensterbrett, in einem Winkel an der Decke darüber wehte ein altes Spinnennetz. Von irgendwo weit oben fiel eine einzelne Feder herab, berührte sanft die Luft.

»Niemand zu Hause?«, rief ich laut durch den Spalt der Korridortür ins Treppenhaus dahinter.

Aus weiter Ferne meinte ich ein Wispern zu hören.

Ich stieß die Tür weiter auf. Sie gab mit einem lauten Quietschen nach, und mir schien, dass sie deswegen nicht geschmiert worden war, damit die rostigen Angeln den unangemeldeten Besucher verrieten.

Ich stieg die Treppe hinauf, vorüber an gerahmten Hundefotos. Einige der Tiere waren neben Pokalen abgelichtet, andere mit Medaillen behängt.

Ganz deutlich vernahm ich jetzt von oben Stimmen. Ich zögerte vor der Tür am Ende der Treppe, die Stimmen dahinter schienen nicht von Menschen zu kommen. Mit angehaltenem Atem trat ich ein.

Mitten in dem Zimmer stand im Licht des flimmernden Fernsehbildschirms ein hoher Lehnsessel, in dem, die Augen geschlossen, den Mund weit offen, eine alte Frau saß, so winzig klein und hager und verloren wie eine dort abgelegte Gliederpuppe.

Ritter Kalbutz, dachte ich unwillkürlich.

Ich hatte die mumifizierte Leiche des Ritters vor Jahren in einer brandenburgischen Dorfkirche besichtigt, in seinem Sarg dem Staunen der erschauernden Besucher präsentiert. Dieser abgewetzte Fernsehsessel und sein Inhalt erschienen mir wie Reste einer untergegangenen Zivilisation, aufgetaucht vor meinen Augen nach Äonen aus den Tiefen des Meeres oder unter der Asche eines ruhenden Vulkans. Sie lag so hager und zart hingegossen da, dass ich nicht glauben konnte, ein lebendes Wesen vor mir zu haben, sondern ein Fossil, unberührt vom Vergehen der Zeit.

»Ja?«

Der winzige vergilbte Kopf, der kaum unter der Perücke auszumachen war, öffnete die Augen. Das flimmernde Licht des Fernsehapparats funkelte aus winzigen Scherben.

»Aquarienfische?«, hörte ich mich fragen. »Das Schild in Ihrem Fenster. Haben Sie noch welche?«

»Ah«, seufzte die Frau, »das meinen Sie.«

Sie schien sich dunkel zu erinnern. Vielleicht war sie ewig nicht mehr unten gewesen. Oder ich war der Erste, der seit langem hier heraufkam.

»Oh«, flüsterte sie, »das ist lange her. Ich hatte ein paar schöne Kanarienvögel. 1971? 72? 73? Und wie sie gesungen haben, die süßen Kleinen. Manch einer kam in den Laden nur, um zuzuhörn.«

Ich schaute mich um. Ganz hinten in der Ecke stand ein Vogelbauer und noch zwei weitere oben auf dem Kleiderschrank.

»Entschuldigen Sie, ich muss vergessen haben, das Schild aus dem Fenster zu nehmen.«

Ich ging hinüber zu dem Käfig. Den Boden bedeckte eine Ausgabe des Neuen Deutschland von 1973: »X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Berlin feierlich eröffnet.«

Ich schloss die Augen und wandte mich von diesem längst vergangenen Jahr ab. Ich sah auf den Fernsehsessel und sie, die verschrumpelt, vom Leben beiseitegeschoben, darin saß. Dann fragte ich: »Haben Sie manchmal am Sonntagmorgen im Berliner Rundfunk die Sendung ›Im Tierpark belauscht‹ gehört?«

»Mit Professor Doktor Dathe und Annemarie Rohn? Sieben bis Zehn in Spree-Athen!«, rief die alte Frau aus, von einer Freude erfüllt, die sie um Jahre jünger wirken ließ.

»Einmal haben sie Kanarienvögeln Musik vorgespielt und aufgezeichnet, wie sie dazu sangen«, erinnerte ich mich.

»Oh ja, sie waren phantastisch.«

»Ich war mir damals sicher, man hätte Notenblätter im Käfig verteilt.«

»Sie müssen ein sehr phantasievolles Kind gewesen sein.«

Der Kopf sank ihr erschöpft auf die Brust, und sie schloss die Augen.

»Aber«, flüsterte sie nach einer kurzen Pause, »Sie sind eigentlich wegen etwas anderem gekommen.«

»Ja«, gestand ich. »Wegen dem alten Mann, der bei Ihnen im Haus wohnt.«

»Ist er tot?«

Ehe ich ihr antworten konnte, fuhr sie fort.

»Seit gestern früh war nichts mehr zu hören vom ihm unten in der Küche. Als Sie dann eben die Haustür geöffnet haben, wusste ich, irgendwas stimmt nicht.«

»Das tut mir leid.«

»Schon gut. Ich hab ihn schon seit letzter Weihnacht nicht mehr gesehen. Die Frau vom Pflegedienst kümmert sich um mich, die, die mir auch mein Essen bringt. Dann stimmt es also, dass er tot ist? Haben Sie ihn näher gekannt? Falls Sie zur Beerdigung gehen, dort auf der Kommode liegen fünf Mark. Kaufen Sie ihm ein Gebinde von mir.«

Es lag kein Geld auf der Kommode, aber ich tat, als wäre es so, und steckte die fünf Mark, die es nicht gab, ein.

»Kommen Sie doch in ein paar Wochen wieder, wenn’s mir besser geht und ich mich wieder um den Laden kümmern kann … Sie schauen die ganze Zeit zur Tür. Müssen Sie los?«

»Ja«, sagte ich. »Ihre Haustür war übrigens offen.«

»Meinen Sie, jemand wird eine alte Frau wie mich ausrauben?«

Sie hob ein letztes Mal den Kopf. Ihre Augen funkelten, und irgendetwas tief drinnen ließ sie vor Schmerz das Gesicht verziehen. »Diese Treppe herauf wird niemand kommen, um mich zu erlösen.« Ihre Stimme schwand wie der langsam gedrosselte Ton eines Radiogerätes, und als sich die Augenlider senkten, verstummte sie völlig.

Mein Gott, dachte ich, sie will, dass jemand kommt und ihr einen schrecklichen Gefallen tut. »Aber nicht ich«, entfuhr es mir unwillkürlich.

»Nein«, seufzte sie. »Sie sind es nicht. Aber warum wohl kommt er nie herein.«

Sie hielt inne, blieb stehen wie eine Uhr. Sie atmete noch, doch sie wartete, dass ich ging.

»Auf Wiedersehen«, rief ich ihr zu.

Schweigen.

Ich hätte noch bleiben, mit ihr Tee trinken sollen, aber ich war nicht ihretwegen hier.

In der Tür blieb ich nochmal stehen und lauschte. Stöhnte sie noch irgendetwas in ihrem alten Schlaf? Ich spürte, wie mich ihr Atem hinausschob.

Auch die Tür des alten Mannes war nicht abgeschlossen, schien darauf zu warten, dass der Wind oder der Regen oder irgendein bleicher Fremder eintrat. Stattdessen tat ich es, zögernd.

Das Zimmer sah aus wie eine Durchgangsstation. Man musste sich durch Stapel von eingedrückten und teilweise aufgerissenen Kartons zwängen, und selbst die Position der Möbel wirkte provisorisch. Auf dem Fernsehtisch stand zwischen Bergen von Briefen, Werbeprospekten und Zeitungen das Zahnputzzeug, die Wäsche war zum Trocknen auf Stuhllehnen verteilt. Wie ein Tiefseetaucher in einem alten Bootswrack bewegte ich mich durch die Hinterlassenschaften, haushaltend mit meinem Atem in dieser Atmosphäre der Versunkenheit. Plötzlich stockte ich und schnappte gierig nach Luft, denn dort an der Wand überm Bett stand ein Name. Jemand hatte ihn in den Putz gekratzt, immer wieder und wieder, als hätte er Angst, ihn zu vergessen, als schrecke ihn die Vorstellung, eines Morgens zu erwachen und keinen Namen mehr zu haben.

Wilhelm. Und Willi. Und dann ein paarmal nacheinander: Schmitt. Schmitt. Schmitt.

Und darunter dann Wilhelm Schmitt.

Und Schmitt, W.

Das Bett quietschte unter mir, als ich mein Gewicht darauffallen ließ. Ich strich mit den Fingerkuppen über den Putz. Da stand noch etwas anderes. Eine Botschaft, ein Hinweis, eine Spur?

Ich erinnerte mich an einen Trick aus alten Kriminalfilmen: Der Detektiv streicht mit einem weichen Bleistift über die unsichtbaren Eindrücke auf einem weißen Notizblock und macht den vorher auf dem fehlenden Blatt darüber verfassten Text wieder sichtbar.

Genau das tat ich jetzt. Ich strich mit einem Bleistift ganz sacht über die Wand. Kratzer zeichneten sich ab, Figuren, Formen, Fetzen aus den Wachträumen eines alten Mannes, und ganz unten, direkt neben dem Laken: Er steht wieder im Flur.

Mir knackten die Knie vor Schreck, als ich mich zusammenkauerte. Das war doch ich, dachte ich, vor zehn Minuten vor dem Zimmer der Alten oben. Und eben gerade noch vor diesem hier. Und letzte Nacht der Regen, die

Fähre. Und der Dieselgestank und das Stöhnen und das Knarren der Planken, weil hinter mir sich jemand hastig entfernt.

Er steht wieder im Flur.

Er saß hinten auf der Fähre.

Nein, das ging jetzt etwas zu weit. War es etwa ein Verbrechen, auf einer Fähre Fahrgäste zu erschrecken oder im Dunkeln in Hausfluren rumzustehen?

Ich starrte erneut auf die Zeichen an der Wand, so vage und undeutlich wie vorhin das Geflüster der Alten. Ich zog mich zurück von diesen schrecklichen Überbleibseln der Einsamkeit und der Verzweiflung.

Draußen im Hausflur suchte ich nach Spuren für den nächtlichen Aufenthalt eines Fremden, ohne zu wissen, was für welche. Natürlich fand ich gar nichts. Ich kam mir lächerlich vor.

»Man sollte einfach die Türen verriegeln!«, rief ich laut in den Flur hinauf. Doch schon mein Versuch, die Haustür zu schließen, scheiterte.

Niewetow

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