Читать книгу Niewetow - Karsten Stegemann - Страница 11
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ОглавлениеAls ich bei der Polizeiwache ankam, trat gerade Hauptkommissar Krummnow auf die Straße. Er wischte sich mit der Hand übers Gesicht, zog sich nochmal kurz hinter die Drehtür zurück und trat dann so vorsichtig auf mich zu, als näherte er sich einem Sprengsatz.
»Ach Sie, wie geht es Ihnen? Haben Sie sich erholt?«
»Ich weiß jetzt, wie der Ermordete heißt.«
»Ermordet?«
Krummnow ging an mir vorüber auf seinen Wagen zu, der am Straßenrand parkte.
»Jedesmal, wenn auf dieser Insel einer mit einem Herzinfarkt zusammenbricht oder in ein Schlagloch stolpert oder besoffen ins Wasser fällt, taucht am nächsten Tag jemand auf mit Hinweisen auf den wahren Verursacher des Falls. Sie haben diesen Herzinfarkt-Schlagloch-Blick, und ich hab letzte Nacht schlecht geschlafen. Also stehlen Sie mir bitte nicht meine Zeit, Sie rasender Reporter, Sie.«
»Sie wissen also, für wen ich arbeite?«
»Wer wüsste das nicht in Niewetow? Sie gehen einer Menge Leute hier gehörig auf die Nerven. Zu viel heiße Luft, mein Bester!«
»Oh.« Ich stand Krummnow gegenüber, auf der anderen Seite seines Wagens, und schluckte herunter, was ich eigentlich hätte entgegnen sollen.
Krummnows Blick nahm plötzlich den Ausdruck väterlichen Schuldbewusstseins an.
»Ach Gottchen«, seufzte er.
»Was?«
»Wissen Sie, was mich stört an euch Amateurdetektiven?«
»Ich bin kein Amateurdetektiv, sondern Reporter von Beruf.«
»Ach so, ein Schnüffler mit Schreibmaschinenkurs. Wenn Sie schon so lange mit Mord und Totschlag beschäftigt wären wie ich, dann wüssten Sie auch, dass jeder Möchtegernzeuge, der zu uns hereinstolpert, so voller Beweise steckt, dass man über die Jahre Archive füllen könnte mit all den wilden Phantasien. Würden wir nämlich auf jeden Schwätzer etwas geben, der uns anruft, dann stünde bald die halbe Insel unter Mordverdacht. Warum also sollte ich auf einen Nachwuchsschreiberling hören, der es noch nicht mal zu einer festen Anstellung gebracht hat?«
Ich zuckte zusammen.
»Als Reporter kenne ich mich immerhin ein wenig aus mit den verborgenen Seiten des Geschehens, glauben Sie mir.«
»Dafür weiß ich mehr über Tatsachen. Oder fürchten Sie, Tatsachen könnten Sie verwirren? Sagen Sie, mussten Sie eigentlich irgendwann in Ihrem Leben jemals mit etwas wirklich Unangenehmem fertig werden?«
»Was meinen Sie?«
»Unheilbare Krankheiten, Vergewaltigung, Tod …«
»Der Tod meiner Eltern.«
»Natürlicher Tod?«
»Ja. Aber ein Onkel von mir kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben.«
»Waren Sie dabei?«
»Nein, aber …«
»Es zählt nur, wenn Sie’s mitangesehen haben. Ist Ihnen schon mal was Vergleichbares passiert, wie eine Leiche in einem versunkenen Bauwagen zu finden?«
»Nein«, antwortete ich nach kurzem Zögern.
»Na bitte. Sie stehen immer noch unter Schock. Beruhigen Sie sich, und gehen Sie wieder an Ihre Arbeit.«
Er schien zu bemerken, wie er immer lauter wurde. Er schüttelte den Kopf und brummte vor sich hin: »Oder vielleicht sollte ich mich beruhigen.«
Er öffnete die Wagentür, stieg ein, und ehe ich etwas Passendes erwidern konnte, brauste er davon.
Verärgert stürzte ich zur nächsten Telefonzelle, warf eine Münze in den Schlitz und wählte die Nummer eines Apparats jenseits des Stroms auf dem Festland. Als endlich jemand abhob, hörte ich aus einem Radio »Sunshine Reggae« dröhnen, eine Tür zuknallen, eine Toilettenspülung rauschen, und langsam begann sich meine Stimmung aufzuhellen.
Die Frau am anderen Ende hielt eine Weile den Hörer in der Hand, räusperte sich dann und fragte: »Was gibt’s?«
»Frau Kapell!«, rief ich, brach ab und begann noch einmal. »Frau Kapell, ich bin’s, Daniel.« – »Wer?« Sie überlegte eine Weile. »Sie wollen Fanny sprechen.«
»Sie brauchen ihm nur etwas auszurichten. Würden Sie das tun?«
»Kein Problem.«
»Sagen Sie ihm, ich muss ihn unbedingt sehn. Ich bin in zwei Stunden bei ihm. Danke.«
Ich legte auf.
Ich vergewisserte mich, dass ich noch genügend Münzen bei mir hatte, und rannte los, um die nächste Fähre zu erreichen. Vom Festlandhafen aus nahm ich den Bus. Eigentlich hieß Fanny Matthias Schmieder, aber nie rief ihn jemand bei seinem bürgerlichen Namen. Ich hatte ihn vor Jahren bei Recherchen zu einer Reportage über ostdeutsche Bluesbands kennengelernt, und der Kontakt zwischen uns war auch danach nicht abgerissen.
Fanny war sehr umfangreich und saß im Rollstuhl. Ich hatte ihn noch nie anders gesehen und war mir sicher, er schlief sogar auf Rädern. Er bewegte sich so wenig wie möglich, und wenn er durchs Zimmer rollte, dann nur unter schwerem Gekeuche. Er tat dies auch nur, um hinüber in die enge Küchenzeile oder ins Bad zu gelangen, wo er früher oder später nicht mehr herauszukommen, hoffnungslos in der Falle zu sitzen befürchtete. »Mein Gott«, stöhnte er oft, »stell dir vor, die Feuerwehr müsste mich eines Tages da herausschneiden.« Und dann rollte er zurück an seinen Stammplatz neben der Stereoanlage, nur eine Armlänge vom Kühlschrank entfernt, der bis obenhin voller Chipstüten und Bierpaletten war. Er aß und hörte ununterbrochen Musik. Neben dem Kühlschrank standen Regale, gefüllt mit Hunderten von Schallplatten und Tonbändern, frühe Aufnahmen sowohl von den Anfängen des Südstaatenblues als auch die neueste Free-Jazz-Einspielung, und ich stellte mir vor, wie Fanny, wenn gegen Morgen die letzten Takte verklungen waren und die letzte Platte knisternd aufhörte, sich zu drehen, in sich zusammensank wie ein vom Dunkel überwältigter Elefant. Die erschöpften Knochen begaben sich in ihren mächtigen Fleischbergen zur Ruhe, und sein rundes Gesicht war der Mond, der über das weite Gebiet seines geschundenen Körpers wachte.