Читать книгу Niewetow - Karsten Stegemann - Страница 7
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ОглавлениеNiewetow war in jenen Jahren der ideale Ort für Leute, die gern traurig sind. Beinahe jeden Abend hing Nebel über der Stadt auf der Insel, vor deren Küste die Reste der Kriegsmarine einer untergegangenen Armee vor sich hinrosteten, das trübe Brackwasser des Stromes schwappte gegen die Hafenmauern, und Sandkörner prasselten an die Fensterscheiben, wenn der Wind über verlassene Plätze und durch leere Straßen pfiff.
In jenen Tagen starb der Pier von Niewetow, verendete im Meer. Die stählernen Knochen einer riesigen Werkhalle auf dem Gelände der ehemaligen Werft senkten sich seitwärts in die See. Am Ende eines verkrauteten Kanals lagen alte Bauwagen im Wasser; sie waren dort hineingerollt, versunken, und hinter den Scheiben konnte man es wimmeln sehen: Fische und Krebse, die der Strom hierhertrug, bildeten in ihren selbstgewählten Aquarien neue Gemeinschaften; über ihnen das Tuckern der alten Fähre, die stündlich über den Strom aufs Festland setzte, und der Abgasgestank aus den alten Dieselmotoren konnte Übelkeit hervorrufen, so als wollte der einsam am Steuer stehende Fährmann den letzten Passagieren den Abschied von dem klapprigen Kahn erleichtern.
In einem jener seltsamen Jahre also, da der Nebel sich auch tagsüber niemals aufzulösen schien und das Klagelied des Windes nie verstummte, begegnete ich auf einer nächtlichen Fahrt mit der Fähre dem Tod und erkannte ihn nicht.
Es war eine regnerische Nacht, und ich saß über ein Buch gebeugt auf einem der überdachten Plätze an Deck auf der Fahrt vom Festland zurück auf die Insel. Ich wähnte mich allein mit dem Tuckern der Motoren und dem Fährmann, der hinten im Ruderhaus, eine Zigarette im Mundwinkel, die Fähre in der dunklen Fahrtrinne auf Kurs hielt.
Dass ein weiterer Gast mit mir zugestiegen war, bemerkte ich erst, als er schon eine Weile hinter mir hin- und hergeschwankt haben musste, unentschlossen, für welchen der freien Sitzplätze er sich entscheiden sollte. Doch dann hörte ich endlich, wie er sich niederließ, ich wusste, dass er da war, weil seine Kleidung den Geruch von kaltem Schweiß verströmte.
Ich drehte mich nicht um. Ich schloss die Augen und hielt den Kopf starr geradeaus gerichtet.
»Ah«, stöhnte der Mann direkt hinter mir.
Ich spürte, wie es ihn auf seinem Platz nach vorn drückte, und hörte seinen Atem in meinem Nacken. Den Haltegriff des Vordersitzes umklammernd, sank ich in mich zusammen.
»Ah«, stöhnte er, lauter als vorher, wie unter heftigen Schmerzen.
Der Regen nahm zu, als das Boot jetzt den nächtlichen Strom entlangtuckerte, das Wasser klatschte gegen die Scheiben und schwemmte den Anblick der naheliegenden Küste fort. Wir durchquerten den alten U-Boot-Hafen, ohne dass eins der Boote zu erkennen war; der Kahn hob und senkte sich, die Planken quietschten unter uns, die leeren Sitze knarrten und die Signalpfeife schrillte.
Da traf mich von hinten erneut ein lauwarmer Hauch, als der Fremde in meinem Rücken ausrief: »Das Ende!«
Die Pfeife schnitt ihm das Wort ab, so dass er noch mal ansetzen musste.
»Das Ende«, stöhnte die Stimme hinter mir, »ist einsam!«
Es schien, als schluchzte er. Ich starrte geradeaus in den Regen, das Boot schwenkte Richtung Ufer. Der Mann erhob sich so ungestüm, als wollte er sich auf mich stürzen, wenn ich mich nicht endlich umdrehte. Mir war, als streckte er die Hand aus, um nach mir zu greifen, und ich umklammerte die Rückenlehne vor mir noch fester. Seine Stimme schien aus ihm hervorzubrechen.
»Ah, das Ende!«
Die Fähre legte an.
»Ist einsam!«, flüsterte er heiser und stand auf.
Ich hörte, wie hinter mir die Planken knarrten. Jetzt endlich drehte ich mich um: Das Deck war leer, nur das Schlagen der Gangway war zu vernehmen.
Als ich den Ausgang erreichte, meinte ich zu sehen, wie ein Schatten an Land sich in der Dunkelheit auflöste, aber als ich unter dem müden Blick des paffenden Fährmanns von Bord sprang, war da nichts als das Prasseln des Regens auf dem Asphalt und der Lichtschein aus dem Bistro gegenüber. Es war leer bis auf den Wirt, der sich von einem Spätfilm nicht losreißen konnte.
»Einen doppelten Wodka, bitte.« Ich erschrak vor meiner eigenen Stimme.
Ich brauchte dringend etwas zu trinken; irgendwie fehlte mir der Mut, um meine Freundin Kat, zehn Flugstunden entfernt in Kanada, anzurufen und ihr zu sagen, wie es mir ging. Sie wohnte seit zwei Monaten in Toronto, um ihr Studium der amerikanischen Literatur zu beenden; einmal pro Woche rief sie mich an, und wir lauschten fünf kurze Minuten lang jeder dem Herzschlag des andern und sagten einander wieder und wieder dieselben Zärtlichkeiten, Worte, an denen man sich nie satthört, denen man stundenlang lauschen könnte. Wie sehr hätte ich jetzt ihren Zuspruch gebrauchen können.
Aber letztlich war mir ja nichts passiert außer einer nächtlichen Bootsfahrt im Regen und einer heiseren Stimme hinter mir, deren stinkender Atem mir unvermittelt in die Glieder gefahren war und mich davor zurückschrecken ließ, ins Bett zu gehen, das kalt und leer war wie der Kühlschrank an der gegenüberliegenden Wand desselben Zimmers, das ich, angehender Reporter eines unbedeutenden Lokalblatts, in einer ehemaligen Kaserne gemietet hatte. In einem Flügel des weitläufigen Gebäudekomplexes betrieb ein altes Ehepaar eine kleine Pension, die aus einem Dutzend Zimmer und einer Pförtnerloge bestand. Die ersten Tage nach meiner Ankunft war der Glaskasten hinter der Kasernentür manchmal tagsüber noch besetzt gewesen, inzwischen aber, da ich der einzige Pensionsgast war, klebte nur noch ein Zettel mit der Nummer des Portiers am Schiebefenster der beleuchteten Kabine. Diese ehemalige Dienststelle übermüdeter Wachposten war gleichzeitig eine Art Telefonzelle für mich und wurde zum Hotspot des Liebesgeflüsters, wenn ich einen Anruf aus Toronto empfing.
Ich trank meinen Wodka und verzog angewidert das Gesicht.
»Wohl bekomm’s«, sagte der Wirt. »Sie sehen aus, als wär das der erste Harte in Ihrem Leben.«
»Kennen Sie das Gefühl, wenn Sie etwas Schreckliches vorausahnen, ohne genau zu wissen, was?«
»Sie meinen, wenn man sich gruselt?«
Ich trank einen weiteren Schluck. »Nein, etwas wirklich Furchtbares, was einem dermaßen in die Glieder fährt, dass man meint, danach nicht mehr derselbe zu sein.«
Der Wirt blickte über mich hinweg, als suchte er nach etwas über oder hinter mir an der Wand. »Haben Sie es mit hereingebracht?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Dann wird es auch nicht hier sein.«
»Es war ein Zombie.«
»Ein was?«
»Ich glaub, mir wird schlecht. Gute Nacht.«
Im Hinausgehen warf ich ein paar Münzen auf den Tresen.
»Vielleicht hätten Sie vorher etwas essen sollen«, hörte ich ihn hinter mir rufen, aber ich war schon zur Tür hinaus, um mich in der Finsternis nach dem sichersten Heimweg umzusehen. Ich entschied mich für den Weg am Kanal entlang und eilte auf die versenkten Bauwagen zu.
Wie sie wohl dort hineingelangt waren, an den Rand dieser dunklen, mit einem Ölfilm bedeckten Wasserrinne? Von einem, wahrscheinlich ausgebrannten, war nur noch das Gestell geblieben, wie ein von Rost zerfressener Käfig dämmerte er unter der Oberfläche. Vor sehr langer Zeit, in den heiteren Siebzigern, dienten diese Wagen als Unterkünfte für Bauarbeiter auf Montage, als mobile Pausenräume oder Zweitwohnsitze für Werktagsnomaden mit Wochenendfamilie. Und irgendwann waren die Gefährte hier gelandet, in einer trüben Sackgasse.
Einige der Wagen standen aufrecht im Wasser des Kanals, andere waren flach auf die Seite gekippt und neben der Fahrrinne begraben. Ein paar besonders verwegene Jungs hatte ich schon auf diesen Inseln aus Stahl und Holz herumturnen sehen, und zuweilen tauchten sie im Sommer kurz hinab auf der Suche nach imaginären Schätzen im Innern.
Doch jetzt, kurz vor Mitternacht, die letzte Fähre war längst in Richtung Festland verschwunden, schwappten die dunklen Fluten des Stroms gegen das Ufer und saugten an den Gestellen wie Greisinnen an ihren zahnlosen Kiefern.
Ich rannte dahin, den Kopf gegen den Regen gesenkt, der plötzlich nachließ und dann ganz aufhörte. Der Mond brach durch eine Wolkenlücke hervor, er schien auf mich herabzusehen, und ich ging neben Spiegeln her, in denen ich den gleichen Mond und die gleichen Wolken noch einmal sah. Eine glänzende Welle rollte zwischen den Ufern des Kanals heran, irgendwo war vielleicht ein Hindernis hinweggeschwemmt worden und ließ das Wasser des Stroms herein.
Die Welle erreichte die Bauwagen in dem Moment, als ich auf ihrer Höhe stand, sie zischte um die alten Gestelle. Ich griff nach dem Geländer am Ufer, denn in einem der auf der Seite liegenden Wagen, direkt unter mir, erkannte ich ein schwaches Leuchten durch das Glas der unversehrten Scheibe. Eine Hand schien mir aus dem Innern zuzuwinken. Dann streckte sich träge ein Arm hinter dem Fenster.
Das Wasser fiel, stieg wieder an, und das Gespenst presste sein Gesicht gegen die Scheibe. Ich stand über das Geländer gebeugt und wollte nicht glauben, was ich sah, doch jetzt nahm die geisterhafte Erscheinung Gestalt an: nicht nur eine Hand, ein Arm, sondern ein ganzer Körper trieb mit schlenkernden Bewegungen hin und her, eine riesige Marionette in einer wässrigen Falle. Das bleiche Gesicht mit leeren Augen, denen der Mond etwas Licht gab, glich einer wächsernen Maske.
Dann zog die Flut sich plötzlich zurück. Der Körper verschwand und in meinem Kopf tuckerte plötzlich ein stinkender Dieselmotor, während irgendwo ein Mann, der nicht zu sehen war, im Takt der Kolben die Worte hervorstieß: »Das-En-de-ist-ein-sam.«
Wie das Anfluten einer unangenehmen Erinnerung kehrte die Welle zurück, und auch die Gestalt im Bauwagen kam wieder zum Vorschein: Es war ein Toter, der hinaus wollte.
Ein entsetzlicher Schrei ertönte. Als in den Fenstern der Häuser entlang des Kanals ein Dutzend Lichter angingen, wurde mir klar, dass ich ihn ausgestoßen hatte.