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Ich stand vor der Haustür und horchte. Eine Stimme hallte durch den Hausflur. Sie hob an mit einer Art Röcheln, fiel als Jaulen herab bis ins Erdgeschoss und strömte heulend durch den Flur heraus: die unerhörte Klage einer ausweglos abgeschiedenen Seele, so fernab all dessen, was allgemein unter Gesang verstanden wurde, dass es kaum noch als menschliche Lautäußerung gelten konnte.

Als ich zum ersten Stock hinaufstieg, erkannte ich ein paar Zeilen aus »Sittin’ On The Top Of The World«. Als ich oben vor Fannys Wohnungstür stehen blieb, bestieg ein schwarzer Junge gerade den Mississippidampfer Richtung Norden und warf einen verächtlichen Blick zurück auf die erbärmliche Hütte seiner Familie. Es war die Stimme eines afrikanischen Baumwollpflückers, der nach der Plackerei unter sengender Südstaatensonne dem Himmel zur Nacht seine unerwiderte Liebe klagt. Was mich durch das alte Treppenhaus hinaufzog, war diese Stimme, ein Versprechen der Unzerstörbarkeit, die sich dort oben jemand ersehnte.

Ich wusste, der Gesang würde mit meinem Läuten abbrechen.

»Fanny«, sagte ich, »als ich die Treppe hochkam, hab ich hier oben jemanden singen gehört.«

»Wirklich?«

»Klang beinahe wie Howlin’ Wolf.«

»Seltsam. Wer das wohl gewesen sein mag?«

Wir spielten dieses Spiel seit Jahren, sprachen über Musik, diskutierten über Blues, Bebop, Modern Jazz, hörten die alten Platten wieder und wieder, aber nie, nicht ein einziges Mal in der ganzen Zeit, hatte Fanny gesungen, wenn ich im Zimmer war.

Auch heute war es nicht anders; als er mir öffnete, setzten die Instrumente ein. Fanny hatte die Nadel auf die Platte gelegt, war zur Wohnungstür gerollt und hatte mit der Klinke in der Hand gewartet. Als der Meister mit den Lippen das Blech berührte, riss er die Tür auf. Miles’ Trompete rief nach mir, zog mich unwiderstehlich hinein. Fanny half nur etwas nach.

Es war die A-Seite von »Bitches Brew«. Fanny dirigierte mich in einen wackligen Sessel, ergriff meinen Arm und drückte mir ein Whiskyglas in die leere Hand.

»Um die Zeit bitte keinen Whisky, Fanny.«

»Blödsinn. Schau dich mal im Spiegel an! Zum Wohl!«

Er stürzte sein halbvolles Glas in einem Zug hinunter und stieß befriedigt die Luft aus seinem Innern.

Ich trank den guten Tropfen in winzigen Schlucken. Es war ein sechzehn Jahre alter Single Malt, mitgebracht von einem von Fannys Liebhabern oder Musikerfreunden, die den Weg in die Provinz nicht scheuten, um sich angenehm zu unterhalten, in den Tiefen von Fannys Archiven zu versinken oder in seinen allumfassenden Umarmungen. Sie brachten außer ihren Lüsten stets auch einen guten Tropfen mit, und wenn sie wieder gingen, lag stets ein Leuchten auf ihren Gesichtern. Die Mitte der Welt kann überall sein, zum Beispiel in einem heruntergekommenen Mietshaus in der nordostdeutschen Provinz. Das Foto eines jungen Mannes von etwa zwanzig Jahren hing neben dem Wohnzimmerfenster an einer Wand dieses Hauses. Der Junge wog höchstens siebzig Kilo, doch das war lange her.

»Was gibt es denn so Dringendes? Du siehst aus, als ob dich etwas bedrückt. Was ist es? Nur heraus mit der Sprache«, ermunterte mich der mächtige Kerl.

»Ich hab eine Leiche gefunden, Fanny. Er war einer von den Alten, die immer in der Fahrradwerkstatt sitzen, da unten, wo die Inselbahn hält. Letzte Nacht steckte er tot in einem Bauwagen.«

»In was für einem Wagen?«

»In einem der alten Bauwagen, die im Kanal versunken sind. Und ich bin mir sicher, jemand hat ihn umgebracht, aber die Polizei will mir nicht zuhören.«

Fanny rollte zum Plattenspieler, drehte die abgelaufene Scheibe um und legte die Nadel sanft auf die polierte schwarze Oberfläche. Als die Musik einsetzte, rollte er, in majestätische Blässe und besorgtes Schweigen gehüllt, an seinen Platz zurück.

»Ist Kat immer noch in Kanada?«

»Zwei Monate ist sie jetzt weg, aber es kommt mir vor, als wären es zwei Jahre.«

»Du solltest sie unbedingt anrufen.«

»Ich weiß, aber danach geht es mir jedesmal noch dreckiger als vorher.«

»Die Liebe macht dich krank.«

»Der Tod macht mich krank. Dabei hab ich bis heute früh nicht mal den Namen des Mannes gekannt.«

Die zerhackten Akkorde und dissonanten Läufe beim Duell zwischen Keyboard und Trompete waren genau das, was ich jetzt brauchte in meiner Begierde nach Beruhigung und Vergessen. Leider hielt die Wirkung nicht lange genug an.

»Den hat einer umgebracht, Fanny. Irgendwer hat seine Leiche in diesen Wagen hineingestopft. Wie sollte er sonst da reingekommen sein?«

»Du hast eine blühende Phantasie, mein Bester.«

»Als ich zwölf war, wurde mein Onkel von einem Unbekannten überfahren, nachts auf der Straße vor seinem Haus, wahrscheinlich bei einem illegalen Autorennen. Er hatte keine Chance. Bei seiner Beerdigung haben mein Bruder und ich geschworen, dass wir den Täter finden und fertigmachen. Aber höchstwahrscheinlich lebt er immer noch unerkannt irgendwo auf der Welt. Und das war vor langer Zeit, in einer anderen Stadt. Diesmal ist es in Niewetow passiert. Der, der den alten Mann ertränkt hat, lebt dort völlig unbehelligt, Wand an Wand mit seinen ahnungslosen Nachbarn, und ist mir sicher schon irgendwo begegnet. Und wenn ich ihn erwische …«

»Übergibst du ihn der Polizei.«

Fanny beugte sich mit einer wuchtigen Bewegung nach vorn.

»Es wird dir besser gehen, wenn du mal richtig ausschläfst.«

Dann las er in meinem Gesicht.

»Nein«, kommentierte er meine erstarrte Maske, »das wird nichts nützen. Also tu, was du nicht lassen kannst, du rasender Reporter. Ich werd auch diesmal am Fenster sitzen und zusehn, wie die Männer in den Kampf ziehn, um sich gegenseitig zu massakriern.«

Er legte eine neue Platte auf, ließ die Nadel sanft in die Rille sinken.

»Ich mag Niewetow nicht. Zu wenig Zivilisten. Und dann diese verfluchten Kriegsschiffe, die im alten Hafen auf neue Besitzer warten.«

»Niewetow kriegt mich nicht, Fanny. Und auch dieses grässliche Wesen, das sich dort herumtreibt, wird mich nicht kriegen.«

Der Kerl, der vor fremden Wohnungstüren lauert, dachte ich.

Fanny thronte vor mir wie ein gigantischer Gletscher. Er studierte mein Gesicht und sah dann zur Tür, als wäre draußen ein Schatten vorübergehuscht. Ganz kurz schien er in sich zusammenzusinken, und ein Anflug von Panik lag in seinem Blick.

»Tu, was du willst.«

Seine Stimme kam plötzlich von tief unten, tönte aus den bebenden fünfhundert Pfund Fleisch herauf.

»Aber bring es bitte nicht hierher.«

»Den Tod kann man nicht einfach irgendwohin mitbringen, Fanny.«

»Sicher kann man das. Streif dir den Schmutz von den Füßen, bevor du hier eintrittst. Hast du Geld für neue Garderobe? Notfalls geb ich dir welches. Bring deine Schuhe auf Hochglanz! Putz dir regelmäßig die Zähne! Dreh dich nicht um, auch Blicke können töten. Wenn du jemanden anschaust, und der bemerkt, dass du auf deinen Mörder wartest, wird er dir folgen. Komm zu mir, Junge, aber sieh immer nur nach vorn!«

Als ich unten ankam, war es Nachmittag. Ich stand schwankend im Sonnenlicht auf dem nassen Pflaster vor dem Haus, spürte die Wirkung des Whiskys und schaute hinauf zum ersten Stock. Ich fühlte mich bereit für Niewetow bei jedem Wetter.

»Edgar Krummnow, ich komme!«, sagte ich laut vor mich hin.

Doch dann trieb ich mich nur vor der Wache herum und kam mir vor wie ein feiges Großmaul. Mir war nicht klar, wie ich diesen Polizisten da drinnen einzuschätzen hatte, also kämpfte ich draußen auf dem Gehweg mit meiner Unentschlossenheit, bis ich jemanden, der wie Krummnow aussah, hinter den Gardinen im ersten Stock zu bemerken meinte.

Ich lief davon.

Mitten in der Nacht erwachte ich von einem Plätschern im Flur.

Ich sprang zur Tür und riss sie weit auf. Tatsächlich war am Boden eine riesige Pfütze, und Fußspuren von jemandem, der barfuß hierhergekommen war, sowie eine zweite Spur, die wieder hinausführte.

Ich stellte mir vor, wie jemand hier gestanden hatte, völlig durchnässt hatte er sich gefragt, ob ich wach war, wollte schon klopfen, ging dann aber wieder hinaus zum Kanal.

Ich folgte ihm. Ich rannte, als könnte ich den Durchnässten einholen, bis ich am Kanal stand.

Ich blickte hinab auf das ölige Wasser. Ich meinte zu erkennen, wo jemand herausgeklettert war, um durch mitternächtliche Straßen bis zu meinem Quartier zu laufen und dann mit größeren Schritten zurückzurennen und wieder hineinzuspringen. Aber wer wollte in so dreckigem Wasser schwimmen! Jemand, dem Krankheiten und Schmutz völlig gleichgültig waren. Oder jemand, der nächtliche Überfahrten im Dunkeln liebte, aus Langeweile oder aus Lust am Grauen.

Ich ging langsam am Ufer entlang, starrte angestrengt hinab, als ob gleich irgendetwas die schwarze Fläche durchbrechen würde.

Das Wasser brandete durch eine offene, verrostete Schleuse hindurch abwechselnd vor und zurück. Eine Herde Seehunde trieb vorüber, aber dann war es nur Tang, unterwegs ins Nirgendwo.

»Bist du noch da?«, flüsterte ich. »Warum bist du zu mir gekommen? Was willst du von mir?«

In einer Betonhöhlung unter der wackligen Brücke, drüben auf der anderen Seite, tauchte ein verschmiertes Haarbüschel auf und dann eine ölbedeckte Stirn; Augen starrten zu mir hinüber. Es konnte ein Otter sein oder ein Hund oder ein verirrter Tümmler, der in den Kanal geraten war; eine ganze Zeit lang ragte der Kopf zur Hälfte aus dem Wasser.

Ich erinnerte mich, was ich über Krokodile im Kongo gelesen hatte, die in Uferausbuchtungen unter der Wasseroberfläche auf ihre Beute lauern, auf irgendjemanden, der so leichtsinnig ist, dort vorüberzuschwimmen.

Ich sah hinüber auf den dunklen Kopf im Wasser. Er sah zu mir herauf, seine Augen funkelten.

Ich machte einen raschen Schritt in seine Richtung, so wie man auf etwas Ekelerregendes zuspringt, damit es verschwindet. Der dunkle Kopf ging unter, die Wasseroberfläche kräuselte sich. Er kam nicht mehr zum Vorschein.

Mich schauderte, als ich zurücklief, die Spur des dunklen Regens entlang bis zu meiner Tür, der er einen Besuch abgestattet hatte. Die Wasserlache war immer noch da, mitten in ihr lag ein Klumpen Seetang. Jetzt erst fiel mir auf, dass ich den ganzen Weg in Unterhosen zurückgelegt hatte. Ich schnappte nach Luft, blickte verlegen um mich. Dann sprang ich ins Zimmer und verriegelte die Tür.

Morgen, dachte ich, werde ich Edgar Krummnow meine Fäuste zeigen, in der rechten das Flickzeug, in der linken den Klumpen Seetang. Aber nicht auf dem Revier würde ich das tun, der Geruch von Amtsstuben ließ mir, ebenso wie der von Krankenhausfluren, jedes Mal die Knie weich werden. Krummnow musste schließlich irgendwo wohnen.

Niewetow

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