Читать книгу Niewetow - Karsten Stegemann - Страница 9
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ОглавлениеIch zitterte so heftig, dass ich den Schlüssel kaum ins Schloss bekam.
Die Nässe folgte mir in mein winziges Zimmer mit einer durchgelegenen Liege, einem Hängeregal voller Bücher, einem Polsterstuhl und einem winzigen Esstisch, dessen Platte gerade groß genug war für die elektrische Schreibmaschine, darin eingespannt ein leeres Blatt; in einem Pappkarton daneben ein Stapel weißes Papier, auf der anderen Seite ein weiterer Karton, der mit beschriebenen Blättern gefüllt werden sollte, mit einer Reportage über eines der größten Waffengeschäfte der jüngeren Geschichte. Das Material, das ich die letzten Wochen zusammengetragen hatte, würde unter der Feder eines erfahrenen Reporters mühelos für einige hundert Seiten reichen. Ich quälte mich bereits seit einer Woche mit dem vorerst letzten Teil der auf drei Fortsetzungen angelegten Serie »Die verkaufte Armee« für eine Sonderausgabe.
Meine Lethargie hatte viel damit zu tun, dass Kat so weit weg war, und damit, dass seit drei Wochen in Niewetow die Sonne nicht mehr geschienen hatte, nur verhangener Himmel und Nebel und Regen. Mein Kopfkissen war morgens oft feucht, doch nie konnte ich mich daran erinnern, was für Träume daran schuld waren.
Ich starrte auf das weiße Blatt in der Maschine. Es erinnerte mich an die Hand des Toten, die wie abgetrennt hinter der Scheibe geschwebt hatte, und an den Mann hinter mir auf der Fähre letzte Nacht. Beide winkten mir zu.
Langsam, sehr langsam setzte ich mich. In meiner Brust hämmerte es, als drängte etwas von innen aus seiner feuchten Behausung. Jemand blies mir seinen Atem in den Nacken. Ich musste dafür sorgen, dass sie beide Ruhe gaben, damit ich endlich einschlafen konnte.
In der Nacht verdichtete sich der Nebel, und draußen auf dem Strom, wie versunken und verloren, tutete immer wieder ein Nebelhorn. Es erinnerte an ein riesiges Meerestier, das längst gestorben war und auf dem Weg hinab in sein Grab einen Klagelaut nach dem anderen ausstieß, dumpfe herzzerreißende Laute, die niemanden kümmerten und denen keiner nachging.
Als ich gegen Mittag erwachte, schien es bereits wieder dunkel zu werden. Niesend erreichte ich das Fenster, riss es auf und spürte die feuchte Luft, die mir so frisch entgegenschlug, dass ich mich plötzlich unverwundbar fühlte und mich gleichzeitig dermaßen schämte bei diesem Gedanken, dass ich am liebsten mit einem Schlag das Tageslicht gelöscht hätte.
Die Sachen, die ich letzte Nacht getragen hatte, waren immer noch feucht. Ich kehrte die Taschen meiner Hose nach außen, mit dem Flickzeug darin, das vor wenigen Stunden aus der Jacke des Toten gefallen war. Ich wusste inzwischen, woher es stammte. Ich musste raus aus diesem überheizten Zimmer, weg von diesen letzten ungetippten Seiten.
Ich rannte einfach blind den Uferweg entlang, vorüber am Äsen dreier mechanischer Riesenvögel; sie waren, wie mir Einheimische berichtet hatten, letztes Frühjahr gelandet, um ihre Nester hier zu bauen. Aus ihrer Ruhe nur kurz aufgeschreckt, sahen die Inselbewohner seitdem das atemlose Pumpen, das Auf und Ab federloser Bälger von Geschöpfen, die, verwachsen mit der Erde, die gewaltigen Schlünde unentwegt hoben und senkten und ein quietschendes Knarren ihrer Knochen von sich gaben und manchmal den Mundgeruch von fauligem Gehölz.
Ich rannte an leeren Kasernen vorüber, die lange vor den Pumpanlagen errichtet worden waren, und entlang an Kanälen, ausgehoben und gefüllt, um einst den strahlenden östlichen Himmel einer neuen Zeit widerzuspiegeln, die bewachte Periode der verschiedenen Kollektive, die sich nach ihrer Auflösung waffenlos zerstreuten. Einige ihrer Mitglieder waren hocken geblieben in den grauen Wohnblocks neben den Kasernen oder in einem der Siedlungshäuser im Inselinneren. Manchmal sah man einen in schlecht sitzenden Hosen und ausgebeulter Windjacke auf den frisch ausgetretenen Pfaden zwischen Quartieren und Supermarkt, wo er auf einer Parkbank auf Gleichgesinnte traf, die einen ähnlichen Alkoholpegel wie er anstrebten. Oder man begegnete einheimischen Paaren, die nach dem Einparken ihres neuen Kleinwagens andere Käufer mit verstohlenem Blick auf eine Geste des Wiedererkennens prüften, wie Menschen, die ihre Kindheit miteinander verbracht hatten und sich nach langem Aufenthalt im Ausland zum ersten Mal wieder begegnen.
Plötzlich blieb ich stehen. Ich wollte umkehren und anhand des Flickzeugs etwas über seinen toten Besitzer herausfinden. Doch jetzt stand ich vor einem zweigeschossigen roten Bungalow, den ein schmaler Kiefernstreifen vor den Blicken vom Strand nicht verbergen konnte.
»Heide Waldschmidt«, flüsterte ich ehrfurchtsvoll.
Was da geschützt vor den Fluten direkt am Meer vor mir lag, war eine erprobte Bastion vor den Stürmen der Zeit, die sich auf den Ausläufern des Dünensandes leicht zu neigen begonnen hatte, hier, keine dreihundert Meter von den gierigen Wellen entfernt, wo die Möwen herabsegelten, um einen flüchtigen Blick dorthin zu werfen, wo ich stand und Wurzeln schlug.
Heide Waldschmidt war nirgends zu erblicken. Allein und fremdartig in diesem von Sauriern bewohnten Landstrich schützte diese Festung dort eine außergewöhnliche Künstlerin.
Ein Fenster im Obergeschoss war Tag und Nacht erleuchtet. Wann immer ich hier vorüberkam, brannte dahinter Licht. Ob sie jetzt da war? Ja. Denn ein weißes Leuchten war hinter einem der Fenster vorbeigehuscht, so als hätte jemand einen kurzen Blick auf mich werfen wollen, um dann sofort wieder in den Tiefen des Hauses unterzutauchen.
Heide Waldschmidt hatte Anfang der achtziger Jahre in einigen DEFA-Produktionen mitgespielt, war dann aber durch einige kritische Anmerkungen zur Kulturpolitik bei den staatlichen Behörden in Ungnade gefallen. Der Kulturminister hatte ihr übermitteln lassen, er werde persönlich dafür sorgen, dass sie während seiner Amtszeit in seinem Herrschaftsbereich keine Rollen mehr bekäme. Seine Amtszeit endete noch schneller, als sein Herrschaftsbereich zu existieren aufhörte. Heide Waldschmidt aber hatte es anstatt gen Westen hierher an diesen abgelegenen Ort an der Küste verschlagen. Einen Film hatte sie seit dem Bannfluch des Ministers bis heute tatsächlich nicht mehr gedreht; ob sie es vorhatte, wusste niemand, nicht mal Fanny, mein gewichtiger Anker in Sundhafen, Besitzer der umfangreichsten Jazzplattensammlung zwischen Fichtelberg und Kap Arkona. Fanny mit dem Gemüt eines Blauwals und dem Gedächtnis eines Indischen Elefanten hatte Heide Waldschmidt schon gekannt, bevor sie beschlossen hatte, sich in einen Bungalow am Strand von Niewetow zurückzuziehen.
Ich war ihr verfallen, seit ich sie das erste Mal auf der Leinwand gesehen hatte. Das Geheimnisvolle, das sie inzwischen umgab, tat ein Übriges. Ich stellte mir vor, wie sie sich spätabends hinauswagte und dieselben Wege wie ich ging, dieselben Leute traf, die auch ich getroffen hatte; manchmal meinte ich sogar, ihren Atem spüren zu können.
Geh schon, dachte ich, lass den Messingklopfer an ihre Haustür pochen.
Nein, entgegnete ich mir mit einem Kopfschütteln, als fürchtete ich, eine schlechte Videokopie meines Originals könnte die Tür öffnen. Du willst deine große Liebe gar nicht treffen, du willst nur davon träumen, dass sie eines Nachts heraustritt und von hier weggeht, um später von der Leinwand oben endlich wieder auf dich hinabzusehen, der sie aus der Ferne anbetet.
Heide, liebe Heide, dachte ich, komm heraus! Spring in den rostroten Volvo, der heute nicht vor deinem Haus parkt, lass den Motor an, winke und bring mich weg nach Süden, an die sonnigen Küsten von Cannes oder Venedig.
Doch kein Motor sprang an, niemand winkte, niemand brachte mich nach Süden zur Sonne, weg von dem Nebelhorn, das draußen auf See sein Grab suchte. Ich trat zurück, stellte überrascht fest, dass ich mit meinen Sportschuhen knöcheltief im Wasser stand, wandte mich um und ging dahin zurück, wo schwarze Fluten in versunkenen Bauwagen auf mich warteten.