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Kapitel 4
Auf die Größe
kommt es an

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Als ich aufwuchs, war meine Familie ziemlich körperkontaktfreudig. Meine Mutter küsste alle auf die Wange, mein Vater hatte sich auf Bärenumarmungen spezialisiert. Er brummte und drückte so fest zu, dass die meisten Leute aufstöhnten. Wenn er mich, seinen jüngeren Sohn, auf dem Schoß hatte, war er jedoch zärtlich. Als das Nesthäkchen war sein Schoß immer für mich da. Er war ein fetter Mann mit einem großen Schoß. Insgeheim hatte ich mir geschworen, dass ich mich an dem Tag, an dem ich meine Arme vollständig um meinen Vater würde schlingen können, in ein Mädchen verwandeln würde. Ich versuchte es immer und immer wieder, aber Dad und ich waren zu pummlig, um meine magische Geschlechtsumwandlung herbeizuzaubern. Im Gegensatz dazu waren mein Bruder und meine ­Mutter schlank. Wir bezeichneten meinen Vater niemals als dick, obwohl er genau das war. Wir nannten ihn korpulent, stämmig oder gebaut wie ein Stier. Letzteres mochte er sehr.

In den 1970er-Jahren entdeckte mein Vater die Astrologie und ­damit den himmlischen Beweis, dass er ein Stier war. Mein Dad ­liebte es genauso sehr, ein Stier zu sein, wie er es liebte, ein Chauvinistenschwein zu sein. Er trug Rollkragenpullover mit großen, goldenen Stieranhängern an schweren Goldketten. Die Pullover waren immer zu eng. Fand er sich selbst gar nicht dick? Ich hatte niemals auch nur ansatzweise ein Fettröllchen über meinen Gürtel rutschen lassen. Schon als Kind versuchte ich, mich immer so zu kleiden, dass meine Fettpolster verborgen blieben.

L. Ronald Hubbard war dick, sogar noch dicker als mein Vater. Ich begegnete ihm 1972, als er gerade Rollkragenpullover für sich ­entdeckt hatte. Warum glauben dicke Männer, dass sie in enger Kleidung gut aussehen? Habe ich eine Phobie gegen Dicke? Wahrscheinlich schon, weil ich es einfach nicht ertragen kann, mich dick in einem Spiegel zu sehen – und eigentlich war das alles, was ich je im Spiegel sah: mich, zu dick. Dicksein war ein großes Thema in unserer Familie und geschlechterspezifisch zu betrachten. Meine Mutter erklärte es so:

»Mädchen können robust gebaut sein, aber es ist nicht besonders attraktiv und kann schnell in zu dick umschlagen. Bei Jungs ist das anders. Für Jungs ist ein bisschen Extrafleisch gesund.«

Mein Vater war ein gesunder Junge, ein Sportler. Es gab nicht besonders viele jüdische Athleten, aber mein Vater war einer von ihnen. Ich hasste Sportunterricht, in der Hinsicht kam ich nach meiner Mutter. Sie war in einem echten Schlamassel gewesen, als der Dekan des Pembroke College der Brown University sie damals zu sich zitierte und ihr mitteilte, dass sie nicht die erforderliche Anzahl an Sportkursen belegt hatte und keinen Abschluss erhalten würde, bis das nicht nachgeholt wurde. Ihr blieb ein Semester, um die ­verpassten Sportkurse aus fast vier Jahren nachzuholen. Meine Mutter entwarf einen cleveren Plan.

*

Auf der Tür stand: Phyllis Hadway, Head Coach.

Zaghaft klopfte meine Mutter an die Tür.

»Kommen Sie rein, ich bin nicht nackt.«

Coach Hadway war eine stabil gebaute Frau mit Kurzhaarschnitt und festem Schuhwerk. Meine Mutter betrat das Büro und brach ­augenblicklich in Tränen aus. Sie konnte jederzeit Tränen herbeizaubern. Jedes Mädchen müsse das können, hatte sie mir gesagt, als sie mich endlich als ihre Tochter akzeptiert hatte. Ihre Tränen rührten also Coach Hadway.

»Schätzchen, was ist los?«

Meine Mutter erklärte, dass sie sich, um ihren Abschluss zu erhalten, im physischen Sinne zu bilden habe. Coach Hadway nickte ernst.

»Das kriegen wir schon hin, Mildred. Wir können dich ja wohl kaum ohne Abschluss gehen lassen, oder?«

Natürlich konnten sie das nicht: Coach Hadway setzte sich für Mildred ein und der Dekan willigte ein, dass sie ihren Abschluss ­bekommen sollte, wenn sie die Sportprüfungen am Ende des Jahres bestünde. Und so kam es, dass sich das Leben meiner Mutter im ­letzten Jahr am College darum drehte, sportliche Aktivitäten vorzutäuschen. Für den Anfang trug Coach Hadway ihr auf, dreimal ­wöchentlich zu bowlen. Genau unter ihrem Büro war eine Bowlingbahn und Coach Hadway überzeugte sich durch die unverwechselbaren Geräusche rollender Kugeln und fallender Pins davon, dass meine Mutter tatsächlich bowlte. Sie wusste allerdings nicht, dass meine Mutter es sich auf einem dick gepolsterten Sessel bequem ­gemacht hatte und mit dem Fuß die Kugeln auf die Bahn kickte, ­während eine Freundin am anderen Ende der Bahn die Pins umstieß. Dabei nippten beide an ihren Martinis.

Der nächste Punkt auf der Liste war Schwimmen. Meine Mutter konnte nicht schwimmen, aber sie bestand die Prüfung, indem sie sich an einer langen Stange festhielt, die am anderen Ende von Coach Hadway gehalten wurde. Meine Mutter strampelte und spritzte, während die Trainerin langsam von einem Ende des Schwimmbeckens zum ­anderen lief und meine Mutter über die Distanz zog, die sie für das Bestehen der Prüfung benötigte. Das ist die wahre ­Geschichte über den College-Abschluss meiner Mutter. Von meiner Mutter habe ich ­gelernt, dass Lesben gutherzig sind, was ich in den meisten Fällen ­bestätigen kann.

*

Meine Mutter unterstützte schon früh die Bürgerrechtsbewegung, was für unsere Familie zur Folge hatte, dass wir so viel wie möglich von Farbigen kauften, die erst dreißig Jahre später Afroamerikaner genannt werden sollten. Ihre Läden lagen westlich der Eisenbahnschienen an der Springwood Avenue. Mr. Knuckles, unser Elektriker, Ray von der Wäscherei, Mr. Gray, der Schneider, und Ray, der Klempner, alle hatten sie ihre Läden in der Springwood Avenue. Dort befand sich auch der Fisch’s Department Store, in dem meine Mutter immer Klamotten für mich kaufte.

Weil der Laden vor allem das Schwarzenviertel versorgte, gab es im Fisch’s Department Store andere Kleidung als im weißen Teil der Stadt. Bei Fisch’s war die Mode für Männer bunter und hipper. Mit zwölf Jahren besaß ich einen Nadelstreifenanzug und einen Pullover mit V-Ausschnitt aus Angorawolle in Weißgrau und Moosgrün. Ich hatte einige erwachsene Männer gesehen, die in diesem Pullover männlich aussahen, ich selbst sah darin aus wie ein Mädchen. Ich war überglücklich, die Bürgerrechtsbewegung mit Einkäufen bei Fisch’s Department Store unterstützen zu können, weil es dort genau jene Latzhosen und Pullover gab, die Tommy Warner in der Schule trug.

Während meiner gesamten Schulzeit verfolgte Tommy Warner mich in meinen erotischen Träumen. Er war ein harter Bursche, für einen Jungen nicht sehr groß, und er lebte, obwohl er weiß war, auf der falschen Seite der Bahnschienen. Niemand, den ich je persönlich kannte, sah James Dean ähnlicher als er. Er trug Pullover und Latz-Nietenhosen, die erst später Jeans heißen sollten.

Wenn man den Tommy Warner von damals mit einer ­Zeitmaschine beispielsweise nach San Francisco in das Schwulenviertel The Castro schicken würde, sähe er wie jede junge Butch-Lesbe aus, in die ich mich jemals verknallt habe. Natürlich wollte ich ihn vögeln. Weil das nun aber absolut unmöglich war, wollte ich er sein. Allerdings war ich ein pummliger, kleiner, jüdischer Junge, der auf der richtigen ­Seite der Schienen wohnte. Schlank war ich bis zu dem Zeitpunkt gewesen, als mir klar wurde, dass ich eigentlich kein Junge war. Da­raufhin hatte ich begonnen, viel zu essen, und wurde ein dickes Kind, das seine ersten Dehnungsstreifen mit zwölf bekam. Es dauerte ­einige Monate, bis ich meine Eltern davon überzeugt hatte, dass alle Kids Latzhosen und Pullover in der Schule trugen, warum sollte ich es dann nicht auch? Endlich, im Spätherbst 1962, stand ich vor dem Spiegel und gab meinen besten Tommy Warner, natürlich nicht ohne die Extraportion Haarwasser für den besonders glatten Look. Ich sah aus wie ein Alien, als ich mich als Achtklässler mit meiner ­brandneuen, dunklen, noch nie gewaschenen Latzhose aus Jeansstoff und dem extragroßen, taubengrauen Pullover auf den Weg in die Schule machte. Es war aufregend. Ich fühlte mich wie ein harter Kerl, dem niemand irgendetwas anhaben konnte. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich sexy, was genau die ersten zehn Minuten der ersten Unterrichtsstunde andauerte.

Der Englischlehrer schickte mich in das Büro des Direktors, um dort meinen Modegeschmack zu erklären. Ich sei ein braver Junge, informierte mich der Direktor, und brave Jungen trügen solche Kleidung nicht in der Schule.

»Aber Tommy Warner …«, platzte es aus mir heraus.

»Tom Warner ist kein braver Junge«, erwiderte der Direktor, »und jetzt ab nach Hause und zieh dir was anderes an.«

Latzhose und Pullover wurden konfisziert und gespendet, vermutlich an jemanden, der auf der falschen Seite der Schienen wohnte. Im Jahr darauf wurde ich auf ein Jungeninternat geschickt, wo wir alle fünftaschige, dunkelgraue Wollhosen trugen und schwarze Jacketts mit dem roten Schulwappen, auf dem George Washington den Fluss Delaware überquert, was er in der Nähe der Schule wohl getan hatte. Dazu trug jeder ein weißes Hemd und einen schwarzen Schlips.

*

An meiner neuen Schule musste man in jedem Halbjahr an einem Mannschaftssport teilnehmen. Im letzten Jahr versuchte ich es mit dem Ringerteam. Mit neunzig Kilogramm war ich schwerer als je zuvor und mit 1,80 Meter auch noch ziemlich groß. Wer sollte mich schon schlagen können? Jeder, wie sich herausstellte. Bei meinem ersten Kampf in der Klasse ohne Gewichtsbeschränkung lag ich nach weniger als dreißig Sekunden auf der Matte. Mein Trainer nahm kein Blatt vor den Mund:

»Du bist einfach zu fett, Al. Nimm ein bisschen ab und dann ­schauen wir mal, was du in einer anderen Gewichtsklasse drauf hast.« Die nächste Gewichtsklasse begann bei 81 Kilogramm, also hörte ich auf zu essen. Drei Tage lang trank ich nur Wasser, ab dem vierten Tag aß ich dreimal täglich ein hartgekochtes Ei. Damit ich keinen Hunger bekam, trank ich zu jeder Mahlzeit fast zwei Liter Wasser und dazu schluckte ich fünfmal täglich heiße Gelatine, weil ich glaubte, dass es mich abhärten, kräftigen und sättigen würde. Es funktionierte und Tag für Tag war weniger von mir auf der Waage zu sehen. Ich meldete meinem Dad den Gewichtsverlust bei meinem wöchentlichen Heimat­anruf. Er war begeistert. Als Ringer im College hatte auch er seine Tricks gehabt.

Nach einem Leben als dickes Kind purzelten endlich die Kilos. Meine Kleidungsstücke waren zu groß, aber sie waren die einzigen, die ich hatte. Ich rasierte mir das Gesicht seidenglatt. Im Spiegel sah ich mit den zu großen Jacketts, Hemden und Hosen jetzt aus wie ein Obdachloser oder wie ein Mädchen in den Klamotten ihres Freundes. Ich war überglücklich, aß nur noch ein Ei pro Tag und trank weiterhin Massen heißer, flüssiger Himbeergelatine. Winzige grelle Sterne und Blitze farbigen Lichts tauchten in meinem Blickfeld auf und verschwanden wieder, genau wie bei einer glücklichen Prinzessin in ­einem Disney-Film. Dann fiel ich mehrmals täglich in Ohnmacht und wurde in die Krankenabteilung geschickt.

Die Krankenschwester rief meinen Vater an, wie immer, wenn ich in die Krankenabteilung eingeliefert wurde. Mein Vater, der Meister-ringer, musste doch Bescheid wissen, oder etwa nicht? Er musste doch darüber informiert werden, dass ich nichts aß, richtig? Und als Arzt würde ihm klar sein, was das für meinen Körper bedeutete, oder? Nichts dergleichen – per Telefondiagnose stellte er Blutarmut fest und verschrieb mir Eisentabletten.

Die 81 Kilogramm hatte ich pünktlich zum Ende der Winterpause erreicht. Ich betrat die Matte – rank und schlank, kraftlos, unkonzentriert und mein Gegner drückte mich wieder in weniger als einer ­Minute nieder. Nichts hätte mir egaler sein können. Ich wusste jetzt, wie ich richtig dünn werden konnte, und dünn sein bedeutete ein hübsches Mädchen sein. Das Dünnsein nahm ich mit aufs College.

*

Die eigentliche Bildung an der Brown University war für mich weniger wichtig als die Tatsache, dass es ein Ort war, wo niemand mir sagte, was ich zu tun, zu lassen oder anzuziehen hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich mir die Altersgenossen aussuchen, mit denen ich Zeit verbrachte, und mit ihnen eine Art Großfamilie gründen. Meinen College-Abschluss erhielt ich 1969 und ich habe heute noch Kontakt zu den Freunden von damals.

An der Brown University lernte ich, wie Sex geht, und schon am Ende meines ersten Jahres war ich ganz gut darin. Der Schlüssel zu gutem Sex war Liebe. Egal, ob sanft und süß oder härter und ­leidenschaftlich, Liebe gehörte immer dazu. Ich verliebte mich in jede Frau, mit der ich Sex hatte. Es heißt ja schließlich nicht umsonst »Liebe machen«. Dabei schlief ich nur mit Frauen, die ich selbst gern gewesen wäre. Ich wollte wissen, wie ich sie sexuell befriedigen konnte. Wenn ich den Körper einer Frau berührte, mich mit ihr bewegte, stellte ich mir vor, sie zu sein, versuchte zu fühlen, was sie fühlte. Mein eigener Orgasmus interessierte mich nicht – wenn ich einen wollte, masturbierte ich – und deshalb dauerte Sex mit mir sehr lange. Den Mädchen gefiel das ausgesprochen gut, es sprach sich herum und schon bald schlief ich mit Freundinnen von Freundinnen. Es ­waren die Sechzigerjahre und wir alle waren sehr glücklich damit.

Es gab eine bestimmte Art von Sex, bei der ich mich mehr als Mädchen fühlte als sonst: Wenn ich Schwänze lutschte. Spät abends schlenderte ich auf den Straßen von Providence, Rhode Island herum und hielt meinen ausgestreckten Daumen in die Luft. Ich war jung, süß und schlank und wurde immer mitgenommen, meistens von Professoren, die älter waren als ich.

Sie fuhren mich zu sich nach Hause. Die meisten waren verheiratet und baten mich, leise zu sein, damit ihre Frauen nicht aufwachten. Sie gossen mir einen Drink ein, legten eine Decke auf den Wohnzimmerboden und ich blies ihnen einen, ganz leise. In meinem Kopf war ich Holly Golightly oder Ginny Moorhead. Ich fragte nie nach Geld, bekam aber trotzdem fast immer zwanzig Dollar, manchmal auch fünfundzwanzig, wenn sie sich in mich verliebten. Nur wenige von ihnen waren Arschlöcher, in der Regel waren es traurige, heimlich schwule Männer. Die Schwulenbewegung hatte noch nicht begonnen, es gab also niemanden, der sie ermutigte oder ihnen sagte, dass sie keine Freaks waren. Jeder einzelne meiner Abendprofessoren war ein Gentleman und bestand darauf, mich kurz vor der Morgendämmerung nach Hause zu fahren. Ich wollte nicht, dass sie den Namen meines Wohnheims kannten und gab ihnen immer die falsche ­Adresse. Es gab keine Gute-Nacht-Küsse. Es gab gar keine Küsse. Küsse hätten bedeutet, dass ich mich in sie verliebte, und mir ging es dabei nicht um Liebe – mir ging es um Schwänze und das Gefühl, ein Mädchen zu sein, während ich sie lutschte.

Irgendwann wurde es mir zu deprimierend – Sex nur des Sexes wegen. Ich wollte Romantik und diese Hinterzimmergeschichten waren alles andere als romantisch. Von Zeit zu Zeit hörte ich also mit dem Trampen auf, verliebte mich in ein wunderbares Mädchen und gab alles, um ein echter Kerl zu sein, manchmal über Monate hinweg oder sogar ein ganzes Jahr lang. Mit der Zeit kam aber zwangsläufig der Punkt, an dem ich es nicht länger aushielt, ein Mann zu sein. ­Warum das so war, konnte ich meinen Freundinnen auf gar keinen Fall erzählen, also stürzte ich mich in Unmengen an Alkohol und Gras. Daraus wurde dann der Trennungsgrund und ich trieb mich wieder auf den Straßen rum, auf der Suche nach Mitfahrgelegenheiten und Blow Jobs. Eine denkwürdige Fahrt gab es. Und einen Kuss …

Er war Ende zwanzig, seinen Namen erfuhr ich nie. Ich war 19 und bekifft. Er fuhr einen leuchtend gelbgrünen MG Cabrio mit weichen, hellbraunen Ledersitzen und hielt genau neben mir an. Er hatte etwas Jungenhaftes, wie der frühe Robert Redford. Das Dach war zurückgeklappt, so konnte ich ihn mir ganz genau ansehen. Wir schauten uns lange in die Augen, wie zwei Scientologen. Ich lächelte und nickte. Er lachte laut auf, sprang aus dem Wagen und kam auf die andere Seite, um mir die Tür zu öffnen – der erste Mann, der das jemals für mich getan hatte. Ich fragte mich, wie sich wohl sein Schnurrbart an meinen Lippen anfühlen würde.

Ich glitt in den weit zurückgelehnten Sitz und konnte meine langen Beine ganz ausstrecken, die Fußsohlen an der Metallplatte, hinter der sich der Motor befand. Mit einer geschmeidigen Bewegung schlüpfte er hinters Steuer, legte den Gang ein und schon fuhren wir. Ich schniefte und atmete tief den Geruch von Leder, Motorenöl und englischem Leather Cologne After Shave. Ich quietschte vor Glück, er schmunzelte.

»Nimm einen Schluck.«

Ohne seine Augen von der Straße zu nehmen, griff er in das Handschuhfach und zog eine Flasche Crème de Menthe heraus. Ich nippte vorsichtig. Die klebrig grüne Süße schmerzte an den Zähnen, aber ich genoss dieses Gefühl. Wir reichten uns abwechselnd die Flasche. Jedes Mal, wenn ich sie nahm, streichelte er mir die Hand, so als wäre sie mein Schwanz. Schnell ließen wir die Stadt hinter uns und er fuhr auf einen dunklen Waldweg, wo bereits einige Autos am Rand standen. Wahrscheinlich war es ein Treffpunkt für Pärchen, den ich noch nicht kannte. Wir parkten. Der Motor lief noch und mein lederner Sportsitz vibrierte, während ich schnell noch einen Schluck aus der ­Flasche nahm. Er lehnte sich zu mir hinüber und küsste mich auf den Mund. Er schmeckte wie ein Mann und ich fragte mich, ob ich für Mädchen genauso schmeckte.

»Dein Schnurrbart kitzelt.«

Seine Augen funkelten im Mondlicht. Ich nippte immer mal wieder an dem grünen, zähflüssigen Pfefferminzlikör. Als er den Wagen ­wieder auf die Straße lenkte, überkam mich ein warmer, gemütlicher Likörnebel und ich hatte das Kribbeln seines Schnurrbartes immer noch auf meinen Lippen. Ich fragte mich, welches Fach er wohl unterrichtete. Kunst, Bildhauerei vielleicht? Er hatte schön geformte Hände. Ich vermutete, dass er an der Rhode Island School of Design lehrte. Als der Wagen wieder hielt, öffnete ich die Augen. Ich trank damals oft, bis ich einen Filmriss hatte. Wir standen inmitten eines Kornfelds. Vollmond. Ich hatte Angst und verbarg es hinter Großspurigkeit.

»Na, öfter hier?«

Er lachte und zog mich in seine Arme. Wir machten lange rum und lutschten einander die Schwänze. Als er jedoch meinen Schwanz lutschte, bat ich ihn, mich nach Hause zu fahren. Er war ein ­Gentleman und fragte nicht weiter. Er legte den Gang ein und wir holperten aus dem Kornfeld auf den Highway. Ich schlief oder hatte einen Filmriss, bis er mich vor dem Studentenwohnheim absetzte, das ich ihm zuvor genannt hatte. Nachdem sein Wagen um die Ecke gefahren war, lief ich die vier Blocks bis zum Wohnheim, in dem ich wirklich wohnte. Ich roch nach English Leather, Motorenöl und nach Mann. Ich schmeckte nach Sperma. Ich duschte weder, noch putzte ich mir die Zähne. Stadttdessen ging ich sofort ins Bett und holte mir einen runter. Dabei stellte ich mir vor, seine Freundin zu sein. Als ich wieder aufwachte, holte ich mir gleich noch mal einen runter.

Zwei Wochen später erhielt ich ein kleines, in braunes Papier ­eingewickeltes Päckchen per Post. Toll! Mein letztes Päckchen war ein riesiger Klumpen Haschisch gewesen, den mir ein Freund aus Indien geschickt hatte. Auch dieses Paket hatte keinen Absender. In dem braunen Papier war eine Holzkiste, die als Verpackung für die Leather Cologne-Flacons diente. Ich öffnete den Deckel und erblickte eine kleine Flasche Crème de Menthe, eingebettet in rosafarbenes Geschenkpapier.

Mein erster Gedanke war: »Wie soll ich mit solch einer Leiche im Keller jemals Präsident der Vereinigten Staaten werden?« Ich riss den Zettel mit meinem Namen vom Packpapier und warf Kiste und Flasche in den Müll. Wenn es eine Nachricht gab, habe ich sie nie gelesen. Er versuchte nie wieder, mich zu kontaktieren, und ich fand nie heraus, woher er meine Adresse hatte. Vielleicht war er durch mein Portemonnaie gegangen, während ich ausgeknockt auf dem weichen Sportsitz gelegen hatte. Vielleicht hatte ich es ihm auch ­gesagt und erinnerte mich nur nicht.

*

Dass ich guten Sex hatte, lag vor allem daran, dass ich dünn war. Ich gefiel mir, wenn ich dünn war – und das macht viel aus, ob man mit seinem Aussehen zufrieden ist oder nicht. Ich verglich meinen Körper immer noch mit denen von Frauen in Zeitschriften, auch wenn ich Sears-Kataloge und National Geographic mittlerweile hinter mir gelassen hatte. Ich war Playboy-Fan und das bestimmt nicht wegen der Artikel. Ich durchkämmte diese Zeitschrift nach Frauen, die ich sein könnte. Aber es gab nicht nur Playboy, es gab auch ­Transenpornos.

Ich spreche von wirklich gut aussehenden Jungs, die sich in wirklich gut aussehende Mädchen verwandelten. Selbst wenn sie Latz­hosen und Sweatshirts trugen, waren diese Mädchen/Jungs so schön, dass es fast weh tat. Eigentlich waren es weder Mädchen noch Jungs, sie waren ein bisschen von beidem, mit märchenhaften Namen wie International Chrysis, Candy Darling, Holly Woodlawn. Es gab zwar noch kein Internet, aber ich fand ihre Bilder trotzdem. Sie waren genau das, was ich sein wollte. Gleichzeitig hatte ich aber auch panische Angst davor, so ein Freak zu werden.

Widerstehen konnte ich ihnen nicht, diesen wunderschönen Jungs/Mädchen. Sie posierten aufreizend in Zeitschriften wie ­Female Mimics, Chicks with Dicks und Real Transvestite Beauties. Transen­pornos gab es in verschiedenen Ausführungen. Neben den Zeitschriften waren selbst gemachte Heftchen mit Geschichten im Umlauf, in denen meistens aus Männern gewaltsam Frauen gemacht wurden. Sie hatten Titel wie My Brother No More, Teased, Tormented & Transformed oder Transvestite in Bondage. Kaufen konnte man das Zeug am Times Square, wo man auch Filme sehen konnte wie She-Males in Action, A Boy/Girl Night Out oder Olga’s White Slaves. Solange es mir gelang, dünn zu bleiben, konnte ich mir vorstellen, eines der Mädchen in diesen Transenpornos zu sein, bei ­denen ich sofort kommen wollte, wenn ich sie nur sah – und trotzdem jagte mir das alles eine höllische Angst ein.

Ein schädlicher Einfluss

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